zum Hauptinhalt
Gentlemen bevorzugten es nobel. Das Bild von Charles C. Hunt, gemalt 1830, zeigt englische Reisende auf dem Weg zwischen Norwich und Cromer.

© picture alliance / Everett Collection

Reisen anno dazumal: Durch einen Schwarm Fliegen

Früher war die Fremde noch unbekannt und das Reisen ein hinreißendes Abenteuer. Touristen mussten verwegen sein. Ihre Storys versammelt heute die Website reiseliteratur-weltweit.de.

Mit der Tierwelt auf Java kann sich Johann Jakob Merklein 1647 nicht so richtig anfreunden: „Bey meiner Zeit eine grosse Schlange ins Castel Batavia gebracht worden, die eine ganze indianische Frau; eine andere, die 36. Schuh lang war, ein ziemlich grosses, wildes Schwein gantz eingeschluckt haben.“

Mehr als 200 Jahr später staunt Kollege James Theodore Bent in Oman über eine ganz andere Spezies: „In Hadramaut hatten wir uns gewundert, daß Kamele Fische fressen; hier in Dhofar wunderten wir uns, daß Kamele mit großem Vergnügen Knochen fraßen; wenn sie welche am Wegesrand sahen, konnte nichts und niemand sie davon abbringen, sich darüber herzumachen.“

Aber was war das schon gegen die Kreaturen, mit der Ernst-Hesse Wartegg sich 1879 in Dodge City herumschlagen muss: „Ein Schwarm von Fliegen, deren es überhaupt in den Prärien in unglaublichen Massen gibt, nahm uns in Empfang und bemächtigte sich sofort unserer Nasen und Hände, als wären sie mit Zucker bestreut gewesen. Das Souper war vollständig ungenießbar, und selbst die gebratenen Fliegenleiber, die wir mit hinunterschlucken mußten, konnten das Futter nicht würzen.“

Was für eigenartige Wesen doch diese Welt bewohnen

Ja, früher. Früher, im Vor-Google-Zeitalter, war die Fremde noch unbekannt und das Reisen ein hinreißendes Abenteuer. Jeder Schritt steckte voller Überraschungen und oft wusste man nicht, ob man am Ende zurückkehren würde. Entsprechend farbig, schrill und begeistert fielen die Berichte der Reisenden auch aus. Die Geografin Ulrike Keller hat auf ihrer Website reiseliteratur-weltweit.de mehr als 1000 davon gesammelt: Auszüge aus Büchern von Diplomaten, Forschern, Kaufleuten, Piraten, Missionaren, Straflagerinsassen und Matrosen, von Herodot um 600 vor Christus bis in die Gegenwart.

Das ist aufregend, amüsant, erhellend – und höchst riskant für Leserin und Leser. Die Gefahr, sich festzulesen und erst Stunden später etwa mit Richard Kandt 1901 aus einem Dschungelgewitter im Kongo wieder aufzutauchen, ist enorm:

„Das hier war kein Donner, wie ich ihn kannte, das rollte nicht und polterte nicht, nein, das war, als führen tausend Riesenschwerter zischend durch die Luft, als klirrten tausend Riesenschilder wütend gegeneinander, und dann wieder krachte es, als berste die Erde an hundert Stellen und wolle alle Kreatur verschlingen“.

Alle Kreatur. Was für eigenartige Wesen doch diese Welt bewohnen! Carl Friedrich Behrens kann nur den Kopf schütteln, als er 1722 die Osterinsel entdeckt: „Wir gaben diesem Südländer oder fremden Gast ein Glas Wein zu trinken, er nahm es und stürzte es in seine Augen, worüber wir uns verwunderten.“

Michel de Montaigne hat nichts zu meckern

Johann Peter Reichart, holländischer Matrose, muss sich 1735 in Kanton mit den Feinheiten chinesischer Körperpflege auseinandersetzen. „Dann haben sie einen kleinen Besen, in Form eines runden Stöberbesens, den sie, nachdem sie die Ohren gesäubert haben, hineinstecken, so daß er fast auf der anderen Seite hinausgehen sollte, und drehen ihn so geschwinde mit beiden Händen herum, daß man ein entsetzliches Geräusch und hupfende Bewegung spürt.“

Während Emmanuel Heath, nachdem er 1692 das Erdbeben von Port Royal überlebt hat, sich über die Einwohner von Jamaica nur noch gruseln kann: „Sie sind so gottlos, ich fürchte, es stehen ihnen noch schlimmere Dinge bevor, Gott wird sie bald vernichten.“

Der Streifzug durch die Website wird zu einer Reise durch Raum und Zeit. Man trifft mit Luigi Barsini per Automobil 1907 in Ulan Bator ein, bestaunt mit den Augen Lady Mary Anne Broomes die blühende Wüste in Westaustralien und begegnet neben Wladimir Arsenjew in der Wildnis Ostsibiriens einem Tiger.

Und furchtlos kostet man natürlich von fremden Tischen. Michel de Montaigne hat da endlich einmal nichts zu meckern: „Es vergehen wenig Mahlzeiten, ohne daß man einem Zuckerwerk oder Büchsen mit Eingemachtem anbietet. Das Brot ist denkbar ausgezeichnet. Die Weine sind gut.“ Drei Sterne für Augsburgs Küche, im Jahre 1580.

Tränende Augen vom Whiskey schon vorm Frühstück

Gentlemen bevorzugten es nobel. Das Bild von Charles C. Hunt, gemalt 1830, zeigt englische Reisende auf dem Weg zwischen Norwich und Cromer.
Gentlemen bevorzugten es nobel. Das Bild von Charles C. Hunt, gemalt 1830, zeigt englische Reisende auf dem Weg zwischen Norwich und Cromer.

© picture alliance / Everett Collection

John Palliser dagegen wundert sich ein wenig über die Frühstücksgewohnheiten seiner Mitreisenden, als er 1847 mit dem Dampfer auf dem Mississippi unterwegs ist: „Schon hört man den Barkeeper rufen: ,Also Gentlemen, treten Sie näher, treten Sie näher, was darf es denn sein?‘ Und mit diesen Worten beginnt die Reihe der Brandy Smashes, Mint Juleps, Gin Slings und Whiskey Cocktails. Gewisse Herrn kann man dann beobachten, wie sie sich mit tränenden Augen an den Frühstückstisch setzen; hervorgerufen durch einen Schluck Whiskey oder Wermut, der allerdings sehr elegant als Hustensaft bezeichnet wird.“

Sie dürsten und sie schlagen sich den Bauch voll, sie fallen unter die Räuber und schmeicheln Fürsten, sie bewundern Juwelen und bemitleiden Bettler – und Leserinnen und Lesern bleibt nur, zu staunen: über die Neugier und den Mut, die Unverfrorenheit und die Unbeirrbarkeit, mit der diese Pfadfinder, aus welchen Gründen auch immer, das alles auf sich nehmen.

Die haben sich was getraut. Chapeau!

Zur Startseite