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Jeder geht seiner Wege, hängt seinen Gedanken nach, unterhält sich mit diesem oder jenen, döst, liest, gönnt sich zum Sonnenuntergang ein Gläschen Wein oder schläft einfach mal unter freiem Himmel ein wie in einem großen schaukelnden Kinderwagen.

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch Tag 4: Bring back!

Tagsüber segeln, nachts unter Motor vorankommen – das ist auf hoher See der Reiserhythmus des Windjammers. - Ein Bordtagebuch von Reinhart Bünger.

Tag 4, Montag, 5. Dezember 2011

Position um 8 Uhr morgens:

31 Grad, 54 Minuten Nord

17 Grad, 27 Minuten West

Wassertiefe: 4076 Meter

Stärke des Seegangs 3 Plus

Durchschnittliche Fahrt: 6 bis 6,5 Knoten

Gesegelte Gesamtdistanz bis 8 Uhr früh seit Abfahrt: 546 Seemeilen

Windstärke 3 bis 4 aus Ost/Nordost.

Entfernung bis zum Fahrtziel St. John’s (Antigua): 2686 Seemeilen.

Gesegelte Entfernung von Sonntag, 4.12.2011 (8 Uhr)  bis Montag, 5.12.2011 (8 Uhr):

214 Seemeilen

Kurs Süd/Südwest

„Wir legten 240 Seemeilen in Tag- und Nachtfahrt zurück, mit einer Stundengeschwindigkeit von zehn Seemeilen; allein ich verzeichnete nur 192 Seemeilen, damit die Mannschaft wegen der bloßen Länge der Fahrt nicht unwillig werde.“ Christoph Kolumbus in seinem Bordbuch mit den Aufzeichnungen seiner ersten Entdeckungsfahrt nach Amerika unter dem Datum des 10. September 1492 nachdem er die Kanarischen Inseln hinter sich gelassen hatte.

Beide Maschinen der „Sea Cloud“ liefen in der vergangenen Nacht in voller Fahrt voraus. So sind am Montagmorgen gut 210 nautische Meilen zurückgelegt. Ein aus Sicht der Passagiere gottlob nur kleiner Schritt auf dem Weg zum Ziel in der Karibik, ein großer Sprung für die „Sea Cloud“ mit Blick auf die bisher zurückgelegte Distanz. Der Nostalgie-Großsegler muss auf eine durchschnittliche Tagesgeschwindigkeit von 8,5 Knoten kommen, um im Zeitplan zu bleiben.

Deshalb sind wir in den dunklen Stunden unter Motoren 11 bis 11,5 Knoten die Stunde gelaufen und haben so die geringe Geschwindigkeit am gestrigen Tage wieder wettgemacht. Immerhin, die Hälfte der bisherigen Streckenabschnitte wurde allein unter Segeln bewältigt. Tagsüber segeln, nachts unter Motor vorankommen – das ist unser Reiserhythmus.

In der Frühe werden alle Segel gesetzt, an Madeira laufen wir gegen fünf Uhr im Abstand von fünf Seemeilen vorbei; das Eiland ist zum Sonnenaufgang um 6:56 Uhr noch in der Ferne zu erkennen. Um mehr Fahrt zu machen, werden auch die Besansegel am letzten hinteren (Besan-)Mast gesetzt. Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang sind bereits viele Passagiere an Deck – schließlich war die vergangene Nacht eine Stunde länger, da wir die Greenwich-Zeitzone überfahren haben.

Für die Frühaufsteher wird jeden Tag ab zirka 6.30 Uhr ein eigenes Frühstücksbüfett an Deck aufgebaut: Kaffee, heißes Wasser für Tee, Croissants und Hefestücke helfen auf die Sprünge in einen neuen Tag, der sich zunächst bedeckt hält.

Bisher weitgehend unentdeckte Ruheoasen auf der Sea Cloud.

Zum morgendlichen Briefing mit dem 1. Offizier Christian Haas hat ein amerikanischer Passagier sein „Sea-Cloud“-Reisetagebuch von vor zwei Jahren mitgebracht. Am Tag 4 der Transatlantiküberquerung, so stellt er unter dem Gejohle der Mitreisenden fest, sei die „Sea Cloud“ damals kaum 6 Knoten gelaufen.

Von unserer derzeitigen Position sind es noch 540 Seemeilen bis zu einem Kurswechsel, so der 1. Offizier. „Wir drehen dann scharf nach rechts ab in der Hoffnung, dass die Passatwinde uns dann schieben.“ Das könnte in zwei bis zweieinhalb Tagen der Fall sein. Die Passagiere, die zum Briefing gekommen sind, sagen: „Ihr könnt Euch auch noch mehr Zeit lassen.“ Langsam nur verschwindet der Alltag am Horizont achtern.

Gegen Mittag zerreißt die Sonne die Wolkendecke und siehe da: Der Atlantik wird immer blauer und die Sonnenstrahlen wärmen richtig. In den luxuriösen Kabinen im Rumpf fühlen sich Mitreisende bei etwas stärkerer See immer wieder für ein paar Augenblicke wie in einem Tiefseeaquarium, wenn sie aus den Bullaugen schauen. Spätestens heute sind die Passagiere der „Sea Cloud“ auf „ihrem“ Schiff richtig angekommen. Mit den Gegebenheiten ist man schon länger vertraut, nun ist man es auch – im Großen und Ganzen - mit den Mitreisenden an Bord.

Jetzt heißt es nur noch, den richtigen Platz und Rhythmus für sich selbst zu finden. Einer der schönsten – weil bisher von den meisten Passagieren unentdeckten – Plätze befinden sich über der Brücke. Hier,  zwischen Schornstein und Fockmast, öffnet sich eine Fläche von rund zwanzig Quadratmeter mit einer fantastischen, fast ungestörten Rundumsicht über das Schiff. Eine steile Treppe führt hinauf. Doch der elegante Viermaster bietet überall an Deck ausreichend Platz. Es findet sich immer ein freier Liegestuhl – wahlweise  allein stehend und/oder verborgen oder gereiht mit der Option zum Gespräch mit dem Liegestuhlnachbarn.

Neben der Möglichkeit, einfach nur zu träumen oder die kulinarischen Angebote wahrzunehmen,  gibt es tagsüber auch – mal in Englisch, mal auf Deutsch gehaltene – Vorträge über das Sonnensystem mit Lektor Erich Übelacker, der von 1975 bis 2000 Leiter des Hamburger Planetariums war. Es gibt Brückenbesichtigungen, einen Malkurs und „Pilates mit Gabi“, der Cruise-Direktorin. Dabei geht’s keineswegs um Bekämpfung von Langeweile. Die hat hier keiner. Von Animation mag man schon gar nicht reden. Vielmehr sind alle Angebote eher taugliche Versuche, Seele, Geist und Körper in Einklang zu bringen.

Die Sea Cloud als Schwesternschiff der "Titanic"?

Ohnehin ergibt sich für die Passagiere alles ganz zwanglos. Jeder geht seiner Wege, hängt seinen Gedanken nach, unterhält sich mit diesem oder jenen, döst, liest, gönnt sich zum Sonnenuntergang ein Gläschen Wein oder schläft einfach mal unter freiem Himmel ein wie in einem großen schaukelnden Kinderwagen. Warm eingepackt in eine Decke geht das auf der Kissenlandschaft der „Blauen Lagune“ auf dem Achterdeck besonders gut. Die Mannschaft ist – vom Servicepersonal abgesehen – weitgehend unsichtbar. Es sei denn, Segel werden gesetzt oder eingeholt (die obersten wegen der Stabilität des Schiffes  immer zuerst).

Allerdings gibt es Sondereinsätze für die Mannschaft. Heute zum Beispiel zucken die Passagiere zusammen. Der Oldtimer „Sea Cloud“ tutet, als sei er das Schwesterschiff der „Titanic“. Feueralarm! „Auch wenn uns das Wasser bereits bis hier steht“, sagt Hoteldirektor Simon Kwinta und deutete mit der Handkante auf seinen Hals, die Mannschaft müsse stets mit gutem Beispiel voran gehen.

Der versammelten (Teil-)Mannschaft erklärt er auf dem Lidodeck, „Ihr bleibt freundlich, wenn wir aussteigen müssen. Sagt den Gästen, dass alles in bester Ordnung ist. Alles bestens, nicht vergessen! Und achtet bei Familien darauf, dass die  einzelnen Familienmitglieder an einem Platz zusammenkommen und  auch zusammenbleiben.“  - „Aye-aye, Sir!“ Geordneter als dieses Schiff würde keines jemals untergehen, so viel ist gewiss. Doch dazu wird es nie kommen. Die 80-jährige Geschichte des Viermasters – Einsatz im 2. Weltkrieg inklusive – zeigt: Dieses Schiff segelt unter guten Sternen bis zum „Kreuz des Südens“ und weit darüber hinaus.

An Sicherheitstechnik mangelt es nicht. Die „Sea Cloud“ hat allein zwei von einander unabhängige Radarsysteme, die bei der technischen Überholung im Frühjahr nagelneu an Bord kamen. Überdies gibt es drei UHF-Funkgeräte, über die das Brückenpersonal Notsignale absetzen kann. Zwar ist das beste System nur so gut, wie der schlechteste Bediener. Aber dann gibt es auch auf einem Nostalgie-Segelschiff, das gelegentlich nur dieselt und dann wieder segelt, einen, der die Sache im Zweifelsfalle  regelt: „Der Master“, Kapitän Wladimir Pushkarew.

Der Russe ist durchaus in der Lage, auch einen gar nicht so gefühligen „Alten“ zu geben. Als ein Passagier das Brückenpersonal am frühen Abend auf den leicht im Wind  schlagenden Querbaum des Besanmastes hinweist, schießt Pushkarews Blutdruck  auf 180. Drei, vier Anweisungen mit dem Walkie-Talkie und der 3. Offizier bewegt sich mit einer kleinen Truppe im Laufschritt zum Heck. Zunächst werden die Besansegel eingeholt („Hau-Ruck“), dann wird der Querbaum neu befestigt.

Dieses Teamwork gibt dann auch dem Shantieabend, der diesen Tag beschließt, die besondere Note. Pianistin Gaynor Trammer hatte im Vorfeld Blut und Wasser geschwitzt, ob sie den Erwartungen voll und ganz entsprechen könne. Denn sie hatte zur Vorbereitung nur Texte der ihr weitgehend unbekannten Seemannslieder erhalten. Der „Hamburger Veermaster“ gehört in den USA schließlich zu den eher seltener gespielten Stücken. Doch die Amerikanerin hat sich zu helfen gewusst.

Über ein Computerprogramm ließ sie den Songs Notenkleider schneidern. Das klingt jetzt so, als habe sie mehrere hundert Jahre an der deutschen Nordseeküste gelebt. „My  Breakfast is over the ocean“, singt der Mannschaftschor unter Leitung von Hoteldirektor Simon Kwinta. „Bring back, bring back, bring back my Breakfast to me“, schallt das Echo der Passagiere. Well done, Gaynor!

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