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Zunächst geht es noch nach Süden zu den Passatwinden, dann wird Kurs Richtung Karibik eingeschlagen.

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch Tag 5: „Wo ist meine Heimat, wo bin ick to Hus?“

An Bord der „Sea Cloud II“ haben sich die Passagiere am dritten Seetag häuslich eingerichtet – dazu gehört natürlich auch etwas Hausmusik.

Nicks Vorfahren sind 1620 mit den Pilgrims über Bremerhaven nach Amerika ausgewandert. 392 Jahre später will der Pensionär aus der Nähe von Boston (Rhode Island) erspüren, wie sie wohl gewesen sein mag – die Reise in die „Neue Welt“. Nick ist zum ersten Mal auf einem Großsegler und zollt seinen Respekt: „Toll, dass Ihr Deutschen noch solche ,Square Rigger' in Betrieb haltet.“ Die Takelage, die Rahen, das laufende und das stehende Gut – Nick sieht das alles zum ersten Mal und staunt außerdem über seine Kabine. „Die Kabinen sind ganz schön luxuriös, obwohl ich eine der preiswertesten genommen habe.“ Die „Crossing“ mit der „Sea Cloud II“ ist mit einer Überfahrt zu jenen fernen Zeit sicher nicht zu vergleichen. Oder doch? Schließlich stehen Sonne, Mond und Sterne immer noch am Firmament und der Atlantik ist unergründlich wie eh und je.

Rund 20 Stunden laufen wir noch in Richtung Süden. Wir bewegen uns vor der Küste Mauretaniens bei 21 bis 22 Grad Außentemperatur in Richtung Karibik. Irgendwann in den kommenden Tagen werden wir den Blinker nach rechts setzen und in die Passatwinde abbiegen. Mehr und mehr weicht die Dünung einer ebenen See, der Wind kommt gleichmäßig aus Nord/Nordost. Mehrmals hat die Mannschaft heute die Segel korrigiert und etwas Fläche zurückgenommen – die „Sea Cloud II“ soll weiterhin sieben bis acht Knoten Fahrt machen. Nicht mehr. Und auch nicht weniger.

In Decken eingemummelt auf den Lieblingsplätzen
Nach dem gestrigen Captains Welcome Dinner, das mit einem „Duett von Foie Gras auf Apfel Ingwer Chutney“ eingeleitet wurde, uns über Kalbsconsommé mit Curryhaube, Birnen-Koriander Sorbet auf den geschmacklichen Höhepunkt brachte - Rinderfilet mit Limette, Selleriepüree und Parisienne-Kartoffeln -, der wiederum mit einem „Schokoladenfondant“ mit karamelisierter Feuerbanane und Vanilleeis abgerundet wurde (Chefkoch: Caspar Meurer), mussten wir Passagiere die Genüsse und Eindrücke der vergangenen Tage heute erst einmal verdauen. Das Frühstücksrestaurant füllte sich erst richtig um 9 Uhr 30, den gesamten Tag über saßen wir – wegen des Windes dick in Decken eingemummelt – auf unseren Lieblingsplätzen und machten einfach mal gar nichts. Die Überfahrt ist nicht total ausgebucht; die Crew ist mit Blick auf die Gäste in der Überzahl: gut für uns – wir finden überall einen Platz, müssen uns weder auf dem freien Lido-Deck um windgeschützte Plätze kabbeln, noch vor dem Restaurant Schlange stehen, um einen schönen Platz zu finden.

 Bordpianist Helge Herr fährt schon seit sechs oder sieben Jahren zur See.
Bordpianist Helge Herr fährt schon seit sechs oder sieben Jahren zur See.

© Reinhart Bünger

Angesichts des Windes und angesichts des Datums war heute einigen richtig weihnachtlich zumute („Wo bleibt der Glühwein?“). Es wird wohl erst in einigen Tagen wärmer, das Meer ist noch dunkel, immer wieder stehen Wolken am Himmel. Der gestern erwähnte Mexikaner mit dem Panamahut, der in München wohnt und fast so etwas wie ein Schweizerdeutsch spricht, heißt Luis. Er hat seinen Platz an Bord noch nicht so richtig gefunden, ist mal hier, mal dort und sucht, was andere schon gefunden haben: Ruhe. „Was treibt Sie um, Luis?“, frage ich ihn. Eigentlich sind es zwei Sachen, sagt er. Zum einen läuft sein Körper noch nicht ganz konform mit den Bewegungen des Schiffes und damit ist er auch schon bei Punkt 2 seiner Unruhe. Luis liest gerne, fixiert dann an Land einen festen Punkt und denkt über das Gelesene nach. Doch diese langjährige Lesegewohnheit lässt sich an Bord eines Schiffes unmöglich aufrecht erhalten. Es gibt hier keinen festen Punkt, an den sich das Auge heften lässt – alles ist in Bewegung und das scheint Luis zu beunruhigen. Die „Sea Cloud“-Schiffe sind gute Orte, alte Gewohnheiten zu überprüfen. Musik könnte da helfen. Eigentlich wollte Helge Herr, der neue Bord-Pianist, heute zum Nachmittagskaffee in der Lido-Bar amerikanische Rhythmen spielen, denn es gab frische Waffeln mit heißen Kirschen und Eis. Und da schien ihm die Musik aus dem Land der Stars und Stripes sehr passend. Doch er wollte auch dem schweigsamen Luis eine Freude machen. Und so servierte er zu den Waffeln Chopin. Schmeckte auch.

Bordpianist mit Faible für Filmmusik

Die Mannschaft hat die Segel etwas zurückgenommen. Die Sea Cloud soll sieben bis acht Knoten laufen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Mannschaft hat die Segel etwas zurückgenommen. Die Sea Cloud soll sieben bis acht Knoten laufen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

© Reinhart Bünger

Helge hat ein breites Repertoire drauf, auf Noten kann er meist verzichten. In der Regel spielt er eineinhalb Stunden vor dem Essen und eine halbe Stunde nach dem Essen, nachmittags und abends. „Ich werde täglich so auf vier bis fünf Stunden kommen“, sagt der gebürtige Österreicher, der in Deutschland aufgewachsen ist. Seit sechs oder sieben Jahren ist der 35-Jährige als Bord-Pianist unterwegs. Sein Repertoire hat er breit angelegt, weil er irgendwann den Eindruck hatte, dass er ständig das Gleiche spielt. „Aber ich will ja auch meinen Spaß haben.“ Ein besonderes Faible hat Helge Herr für Filmmusiken und da besonders für Melodien aus der „Fabelhaften Welt der Amelie“. Helge war ein bisschen aufgeregt vor seinem ersten Einsatz. „Die Technik ist neu für mich und ich wusste noch nicht, wie es klingt“, sagt er. Außerdem sei ein Bord-Pianist an Bord eines „Sea Cloud“-Schiffes im engen Kontakt mit den Passagieren. Die wollen, auch während er für sie spielt, mit ihm sprechen. Auf dieses Multitasking muss er sich noch einstellen. Während des Spielens schaut er gerne auf den Atlantik. Das lässt eine Repertoireerweiterung in Richtung Stummfilmmusiken zu: Helges Klavier müsste für den Seegang – der die Handlung wäre – nur noch die musikalische Unterströmung finden.

Zuzutrauen wäre es Herrn Herr. Als sich vor dem Abendessen ein auf Gästen zusammengesetzter 12-köpfiger Shanty-Chor vor der Bar und Helges Klavier versammelt, klappt die Improvisation schon 1A. „Wo wollt Ihr singen?“, fragt er. „So in der Mitte“, lautet die mehrkehlige Antwort und schon ist Stimmung: „Wo die Nordseewellen springen an den Strand, dor is miene Heimat, dor bin ick to Hus.“ Nick aus der Nähe von Boston hat zwar kein Wort verstanden, und kennt noch nicht einmal die Zeile „There's plenty of Gold, so I've been told – at the Banks of Sacramento.“ Doch welche Gefühle die Ausreise seiner Vorfahren bestimmten, das hat er jetzt gespürt. Man hört eben nur mit dem Herzen gut.

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