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Schneeloch. Aktuell meldet das schweizerische Braunwald 160 Zentimeter der weißen Pracht. Für Winterwanderer abseits der geräumten Pfade eine Herausforderung.

© picture alliance / Arco Images G

Schweiz: Achtung, da kommt ein Schlitten

Winterwandern wird gern beworben – auch im schweizerischen Braunwald. Doch selten hat man die Wege für sich.

Am ersten Morgen lugt die Sonne durch die Vorhänge, der Tödi mit seinen stolzen 3600 Metern Höhe strahlt in ganzer Pracht. Das Bergpanorama, das sich dem Neuankömmling bietet, wirkt, als habe sich eine Fototapete vor den Fenstern des Frühstückszimmers entrollt. Weiße Gipfel, Felsen, gefrorene Wasserfälle, die in blaugrünen Farbtönen schimmern, davor verschneite Chalets. Braunwald im Glarner Land, rund zwei Zugstunden südöstlich von Zürich, ist einer jener abgeschiedenen Orte der Schweiz, die nur mit einer Bergbahn zu erreichen sind. Autos gibt es nicht. Hierhin ziehen sich Zürcher gern zurück, wenn es das Tagesgeschäft in der Stadt zulässt. Auch Prominente tauchen hier schon mal unter. 350 Einwohner leben am Ort, es gibt einige Skilifte – und ansonsten selige Ruhe.

Wer nicht Ski fährt, muss sich entscheiden: Den ganzen Tag auf der Terrasse sitzen, schön eingehüllt in Wolldecken und sich von der Sonne und dem Ausblick verwöhnen lassen? Oder hinauf auf den Gumen, wo der so sehr gelobte Panoramawanderweg mit Eisgrotte lockt? Wir, zwei sauerstoffhungrige Flachlandtiroler aus Berlin, entscheiden uns für die Bergtour. Ein bisschen Proviant eingepackt und los geht’s. Natürlich nehmen wir nicht die Panorama-Bergbahn, der ganze Stolz des Dorfes. Wir wollen es zu Fuß packen, und das ist selbst bei Tiefschneeverhältnissen möglich, versprechen jedenfalls die Karten des Braunwalder Tourismusbüros.

Der Anstieg zur ersten Rast am Weg, der Grotzenbüel-Bergstation auf 1559 Meter, ist (fast) ein idyllischer Spaziergang. Eine halbe Stunde geht es vorbei an netten Ferienhäusern, Bauernhöfen und viel, sehr viel Schnee. Am Dorfrand weitet sich der Blick, Bächistock, Glärnisch und auf der anderen Seite des Linthals unterhalb von Braunwald die Glarner Alpen.

Die Luft ist frisch. Wer innehält, hört allenfalls sein eigenes Ohrensausen. Ein Wegweiser kündigt eine Alpkäserei an, die irgendwo hinter dem Schneeteppich liegen muss. Die Vorstellung ist verlockend, das Ziel zu ändern, doch schon nach ein paar Schritten durch den Schnee, der gleich bis zum Oberschenkel nachgibt, ist klar: Hier ist ohne Schneeschuhe – jene Plastikbretter zum Unterschnallen – nichts zu machen. Also bleiben wir brav auf dem frei geschaufelten Weg. Doch auch das hat seine Tücken. Plötzlich brettert eine Kindergruppe auf Schlitten den Weg hinunter, ein Sprung in den Tiefschnee verhindert gerade noch, von einem der jungen Raser überfahren zu werden. Geschlittelt werden – wie die Schweizer sagen – darf hier ganz offiziell. Der Weg ist zugleich als Rodelbahn ausgewiesen.

Auf dem Grotzenbühl ist schon reichlich Halligalli. Skilehrer scharen ihre Schüler um sich, die Seilbahn bringt im Minutentakt Skifahrer herbei, die aussehen wie auf dem Weg zu einer Mondexpedition. Schweren Schrittes wanken sie mit klobigen Skischuhen zum Pistenrand, ihre Bretter geschultert. Wir kommen uns ein bisschen nackt vor in unserer Alltagskluft.

Rotznasen auf Skateboards

Den Weg weiter hinauf zu finden, ist nicht einfach. Zwar weisen rosafarbene Schilder die Winterwanderwege aus, doch zwischen den rasanten Abfahrtsjägern auf der Piste sind sie kaum zu sehen. Schließlich finden wir den Pfad, der uns über eine autobahnbreite Skipiste direkt zu einer Felswand führt. Wie sollen wir da rüberkommen? Von oben schießen rotwangige Rotznasen auf Skateboards talwärts. Wir nutzen eine Lücke und stapfen bergauf. Doch auch dieser Wanderweg hat eine Doppelnutzung, wie die Skifahrer im Gegenverkehr beweisen. Das ist uns dann doch zu gefährlich – wir kehren um.

Während Schneesalven von wedelnden Skiern auf uns niederrieseln, steuern wir den Sessellift an. Der führt direkt zum Gipfel mit dem Panoramawanderweg. Ein bisschen albern ist es schon, in einem solchen Lift im Winter ohne Skier zu sitzen. Und guckte der Liftwart, der uns in den Doppelsitz hinhielt, nicht ein bisschen erstaunt? Im winterweißen Gebirge sind Wanderer die absolute Minderheit.

Dann wird es doch noch romantisch. In 2000 Metern Höhe dürfen wir den Panoramaweg ganz allein nutzen. Keine Skifahrer, keine Schlitten. Dafür ist der Weg auch viel zu schmal. Parallel zum Gipfel führt er über ein riesiges Schneebrett und hält die schönste Aussicht auf die Glarner Alpen bereit. Nur von Weitem ist das Surren des Lifts zu hören. Nach einem halben Kilometer führt der Weg direkt in eine Grotte. Meterhohe Eiszapfen hängen von der Decke, wachsen scheinbar aus dem Boden oder bilden Barrieren in der Wand. Überall tropft es.

"Immer schön schlurfen"

Wir schlängeln uns durch diese märchenhafte Landschaft und denken an Zwerg Bartli, der in Braunwald eine nicht unbedeutende Rolle spielt. In der Geschichte der Schweizerin Jenny Lorly lebt ein Zwerg namens Bartli in Braunwald, sämtliche Schauplätze des Märchens sind rings um den Ort verteilt und können im Sommer tatsächlich besichtigt werden. Für Kinder ein Anreiz, auch mal längere Wanderungen auf sich zu nehmen, wenn man hinterher mit einem Besuch im Zwergenschloss oder der sagenumwobenen Edelsteinspalte belohnt wird.

Am anderen Ende der Grotte scheint wieder die Sonne. Von Weitem ist die Gumen-Bergstation zu sehen. Weit droben thronen die mächtigen Felsen der Eggstöcke. Allein auf dem Dach der Welt stapfen wir zur Aussichtsterrasse des hoch gelegenen Restaurants. Hier setzen wir das Programm fort, auf das wir am Morgen verzichtet haben, genießen die Sonne – und fahren später mit der Bahn hinunter.

Hans-Rudi hat im Winter nicht viel zu tun. Er arbeitet als Gärtner in Braunwald, und heute ist er der Lotse für eine Schneeschuhtour. Mit Plastikbrettern unter den Sohlen lässt sich der Berg problemlos erklimmen, auch abseits der ausgeschilderten Pfade. Also los. Vorbei am Skikindergarten geht es zunächst quer über eine Niederung zum Wald unterhalb des Grotzenbühls. Träge wie zwei Roboter schreiten wir voran. „Immer schön schlurfen“, rät Hans-Rudi und erzählt, dass wir gerade über einen Bach gehen, der allerdings unter der dicken Schneedecke komplett verschwunden ist. Dann geht es bergauf. Nicht in Windungen, wie auf den Wanderwegen im Sommer, sondern steil aufwärts. Minuten später klopft das Herz bis zum Hals, die Anstrengung macht durstig. Dumm: kein Wasser mitgenommen. Alle paar Meter legen wir eine Pause ein.

Mitten im Wald kommen uns Skifahrer entgegen, die sich mutig ihren Weg um die Bäume suchen. Wir steigen weiter bergauf, queren schnellen Schrittes eine Skipiste (was albern aussieht, weil man mit Schneeschuhen läuft wie ein fußkranker Elefant) und passieren schließlich einen merkwürdigen Steinhaufen. Stolz präsentiert Hans-Rudi „seinen“ Kalkofen. Er hat ihn im Wald entdeckt. Viele Hundert Jahre war der Ofen nicht in Betrieb, und jetzt will er ihn wieder flottmachen – als Attraktion für die Urlauber.

Nach einer halben Stunde geht uns die Puste aus, und die Bergstation Grotzenbühl ist immer noch nicht in Sicht. Lieber zurück, Hans-Rudi. Querfeldein schreiten wir also talwärts, verlassen den Wald. Hans-Rudi stapft voran. Er weiß, wo sich gefährliche Felsspalten unter dem Schnee verbergen. „Da helfen auch keine Schneeschuhe mehr“, sagt er und schaut grimmig. Verstanden: keine Schneewanderungen ohne Guide. Es ist halt nicht ganz so einfach mit der Einsamkeit in der Natur.

Christine Berger

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