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Radtour durch die Armut: Touristen schauen sich das Township Soweto bei Johannesburg an.

© South African Tourism

Slumtourismus: Der Ort des Anderen

Voyeurismus oder Entwicklungshilfe? Slumtourismus erlebt jedenfalls einen ungeahnten Aufschwung.

In neongelben Warnwesten und unter schneeweißen Fahrradhelmen fährt die Touristengruppe über den roten Sand von Katutura. Die Bewohner des Townships in Namibias Hauptstadt Windhuk haben Mitleid mit den Weißen, weil die Radler, die scheinbar ein Rennen fahren, so furchtbar langsam sind. Die Schwarzen klatschen und johlen – um die lahmen Sportler anzufeuern.

Anna Mafwila erinnert sich noch gut an ihre erste Township-Tour, auf der sie Touristen durch Katutura führte. „Da sind plötzlich die Touristen zum Objekt der Beobachtung geworden – die Blickrichtung kehrt sich um“, analysiert der Sozialgeograf Malte Steinbrink die Situation, von der Mafwila erzählt. Er lehrt am Institut für Geografie der Universität Osnabrück und ist Mitglied im Forschungsprojekt „Slumming“, das sich mit städtischem Armutstourismus beschäftigt. Annas „Katutours“ sind eine Art von Slumtourismus, die ihm gefällt. Er tut sich aber schwer, das Phänomen als Ganzes zu bewerten.

Über die Schattenseiten sagt der Wissenschaftler: „Pauschal behauptet man gern, es sei eine Form des Voyeurismus, man vergleicht es mit Zoobesuchen.“ So einfach dürfe man es sich aber nicht machen. Viel spannender als die Frage „Ziemt sich das?“ findet Steinbrink ohnehin die Frage: „Warum sind sich da alle so einig? Ist das Wegschauen besser als hinzusehen? Und: Welche Auswirkungen haben die moralischen Zweifel auf die touristische Praxis?“

Bei den Touranbietern zeichneten sich drei Hauptstrategien ab, sagt Steinbrink. Einige Anbieter deuten den Voyeur um zum Kulturreisenden. Sie versprechen ihren Kunden: „Ihr erlebt hier eine ganz andere Kultur und Lebensweise.“ Andere Veranstalter versprechen: „Einen Teil der Einnahmen spenden wir.“ Der Tourist tut etwas Gutes, wird vom Voyeur zum Entwicklungshelfer. Der dritte Tourguidetypus wirbt: „Wir zeigen euch die andere Seite, die wirkliche Seite.“ Der Voyeur wird zum Bildungsreisenden.

Steinbrink bezeichnet Slums als Backstagebereiche einer Stadt. Wer aus seinem westlichen Leben dorthin reise, wolle den Slum als „den ultimativen Ort des Anderen“ kennenlernen. „Die Differenzerfahrung dient der Herstellung und Bestätigung der eigenen Identität.“ Interessant findet er, dass Slumtouren vergleichsweise selten von Menschen angeboten werden, die selbst dort leben.

Dagegen dominieren nach seiner Beobachtung zum Beispiel in Namibia Anbieter den Markt, die sonst Tiersafaris anbieten. Einer dieser Anbieter ist Carsten Möhle. Seit 17 Jahren gehören Slumtouren durch Katutura in Windhuk zu seinem Rundreisenprogramm. Bis zu sieben Touristen fahren in einem offenen Geländewagen durch den Slum. „Anfangs haben viele Gäste befürchtet, das sei zu gefährlich“, erinnert sich Möhle an die ersten Touren. „Aber das ist es nicht, die Bewohner sind sehr freundlich.“ Oft steigen Kinder zu. „Unsere Gäste verteilen dann Eiswürfel an sie als kleine Erfrischung.“

Soziales Bungeejumping – Einmal eintauchen in die Welt der Armen

Möhle entspricht wohl dem dritten Tourguidetypus, der Wirklichkeit verspricht. Über seine Fahrten sagt er: „So dicht an Afrika kommt man sonst so gut wie gar nicht ran.“ Steinbrink ist skeptisch: „Da werden die Kinder angelockt, damit die Touristen etwas zum Knipsen und Knuddeln haben.“ Knipsen ist auch für Julia Burgold vom Institut für Geografie der Universität Potsdam ein schlechtes Zeichen. Burgold promoviert über Slumtourismus und hat sich vor allem mit dem Slum Dharavi im indischen Mumbai beschäftigt. Auch sie will das Phänomen nicht pauschal bewerten. „Es kommt auf die Art und Weise an, wie die Touren durchgeführt werden“, sagt sie.

Burgold zählt auf, was Touristen bei der Wahl eines Anbieters beachten sollten – wie das Knipsverbot: Ein gutes Zeichen sei es, wenn der Tourguide den Teilnehmern verbietet, die Bewohner zu fotografieren. Rücksichtsvoller sei es außerdem, wenn die Besucher zu Fuß unterwegs sind statt in Geländewagen oder gar Bussen.

Allerdings sind die Touristen laut Steinbrink selbst in der Pflicht: „Auch Touristen, die zu Fuß unterwegs sind, können sich unsensibel verhalten, etwa indem sie hemmungslos in Gesichter fotografieren.“ Die Gruppen sind laut Burgold besser nicht allzu groß. „Zwanzig Teilnehmer sind schon sehr viel, am besten bleibt die Zahl unter zehn.“ Außerdem sei es sinnvoll, wenn Bewohner der Slums die Gruppen selbst führen. Damit schaffen die Touristen Jobs, und die Bewohner sind dem Tourismus nicht tatenlos ausgeliefert, sondern sie zeigen selbstbestimmt und aktiv ihre Heimat. Gute Touranbieter unterstützen nach Burgolds Einschätzung gemeinnützige Projekte im Slum und zeigen transparent, wo die Ticketeinnahmen landen.

Steinbrink hat schon viele Slums gesehen und auch mitbekommen, wie sich der Armutstourismus im Laufe der Zeit verändert hat. „Der Markt boomt richtig.“ Jährlich kämen ein bis zwei Städte weltweit dazu, in denen Slumtouren angeboten werden. Jährlich machten mehr als eine Million Touristen eine solche Tour mit. Inzwischen gebe es auch Touren mit vierrädrigen Motorrädern („Quads“), Musiktouren, Paintballspiele im Slum oder sogar Bungeejumping – so zum Beispiel in Soweto bei Johannesburg.

„Das trifft es ja eigentlich ganz gut“, findet Steinbrink. „Slumtourismus ist ja irgendwie auch ein soziales Bungeejumping.“ Einmal eintauchen in die Welt der Armen – auch für die Weißen, denen die Bewohner Katuturas auf Anna Mafwilas erster Tour zujubelten, war das vielleicht ein Motiv. Noch ein paar Mal feuerten die Bewohner die Gruppe an. Irgendwann gaben sie es auf. Besonders froh waren sie, dass Anna immer vorne fuhr, erinnert sich die junge Frau. „Weil dann immer eine Schwarze das Rennen gewann.“

Johanna Uchtmann

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