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Lanzarote, weihnachtlich geschmückt. In Yaiza ist, im typischen schwarzen Sand der Insel, eine Weihnachtskrippe zu bewundern.

© imago

Sommerurlaub im Winter: Einmal ohne Christbaum

Wer Weihnachten ausfallen lassen will, braucht ein Kontrastprogramm: am besten einen heiter-beschwingten Sommerurlaub.

Es ist das Fest der Feste. Es hat den unumstößlichsten der festen Plätze im Kalendarium eines fast jeden Menschen im christlich geprägten Abendland: Weihnachten! Wer erinnert sich nicht an glückselige Kindertage, daran, wie die Kerzen am Weihnachtsbaum angezündet und die Geschenke zur Plünderung freigegeben wurden? Später, als die eigenen Kinder heranwuchsen, inszenierte man den Kleinen zuliebe alles noch viel schöner und aufwendiger, als man es in Erinnerung hatte.

Weihnachten ist längst kein Ereignis mehr, sondern ein vom Imperativ ökonomischer Effizienz bestimmter Prozess, der im September eines jeden Jahres einsetzt. Man kommt ahnungslos vom letzten Freibadbesuch der Sommersaison und erblickt beim Discounter um die Ecke die ersten Spekulatius. Zwei Monate später gibt es kein Entrinnen mehr: Jahresendrallye im Büro, Einkaufsmarathon in der Shoppingmall, Weihnachtsfeiern in der Firma, im Verein, mit Freunden. Und immer wieder: Gänsebraten, Gänsebraten, Gänsebraten.

"Wo haben wir diese Plörre eigentlich her?"

Aber das ist noch längst nicht alles: Weihnachtsbaum kaufen, Weihnachtsbaum nach Hause schleppen. Am Morgen des Heiligen Abend den Weihnachtsbaum aufstellen, Kisten mit Weihnachtsbaumschmuck aus dem Keller schleppen, Kisten auspacken, Weihnachtsbaum schmücken. Verwandtschaft vom Besuch abraten. („Och nö, wir machen über die Feiertage gar nichts.“) Mit den Kindern in die überfüllte Kirche gehen, „Oh, du Fröhliche“ singen.

Nach Hause gehen, Würstchen mit Kartoffelsalat essen, Geschenke auspacken, herumsitzen und den längst überfälligen Familienstreit vom Zaun brechen. Am ersten Feiertag ausschlafen, Gänsebraten essen, Spaziergang machen, Familienstreit beilegen. Am zweiten Feiertag ausschlafen, Reste vom Gänsebraten essen, Spaziergang machen. Sich vornehmen, zwischen den Jahren „ein gutes Buch“ zu lesen, woraus meistens nichts wird. Silvester um Mitternacht fröstelnd auf der Straße stehen, süßen Sekt aus Plastikbechern trinken („Wo haben wir diese Plörre eigentlich her?“) und den Kindern zuschauen, wie sie versuchen, einen halbgefrorenen Hundehaufen mithilfe von Chinaböllern in die Luft zu sprengen.

Am 6. Januar ist schließlich alles wieder vorbei. Der Weihnachtsbaum, schon kräftig nadelnd, wird abgerüstet. Der Schmuck wandert in die Kiste, die Kiste in den Keller, der Baum landet auf der Straße. Anschließend stehen uns in Berlin noch zwölf Wochen unter betongrau verhangenem Winterhimmel bevor, ehe der Frühling Einzug hält.

Man kann Weihnachten ausfallen lassen

Ich gebe unumwunden zu: Mir ging Weihnachten früher nicht auf die Nerven. Ich empfand die Tage „zwischen den Jahren“ als sehr angenehm, sind sie doch die einzigen im Jahr, in denen ein jeder in Ruhe gelassen werden will und ein jeder den anderen auch in Ruhe lässt. Zuweilen gelang es mir sogar, in das „gute Buch“ einzutauchen, das zu lesen ich mir vorgenommen hatte.

Allerdings erfüllte mich die Ansicht von Spekulatius beim Discounter im September von Jahr zu Jahr mit größerem Schauder. Nimmt die Jahresend-Hektik nicht immer zwanghaftere Züge an? Bietet die Weihnachtszeit inzwischen nicht Anlass genug, um entweder vom Glauben gänzlich abzufallen oder bis zum Osterfest, der eigentlichen Nagelprobe des Christentums, zu warten? Trotz aller Zweifel plagte mich das schlechte Gewissen: Kann man Weihnachten ausfallen lassen? Einfach so? Und Silvester gleich mit auf die Streichliste setzen? Gerät dann nicht des Menschen Seelenlage in bedenkliche Schieflage? Findet das Jahr dann überhaupt noch einen würdigen Abschluss?

Man kann. Es gibt genügend Möglichkeiten, sich zum Jahresende weniger anstrengende Formen der Seelenmassage angedeihen zu lassen. Wer Weihnachten und Silvester ausfallen lassen möchte, braucht ein angemessenes Kontrastprogramm, am besten einen heiter-beschwingten Sommerurlaub. Genau so haben meine Frau und ich es gemacht.

Wir sind einfach weg!

Unseren Überlegungen lag eine kühle Kalkulation zugrunde: Eine Woche vor Beginn der Weihnachtsferien kann man die berufliche Jahresendrallye getrost abbrechen. Was man bis dahin nicht geschafft hat, schafft man bis Jahresende auch nicht mehr. In der Zeit „zwischen den Jahren“ erlahmt der Eifer auch der hartnäckigsten E-Mail-Terroristen im Büro. In der ersten Woche nach Silvester sind die meisten Zeitgenossen ohnehin noch im Urlaub. Der etwas aufgeschreckten Verwandtschaft erklärten wir kurzerhand: Wir sind über Weihnachten und Silvester weg. Einfach weg! So weit weg, dass es zwecklos ist, hinterherzureisen. Die Reaktion war eine Mischung aus Verblüffung, Befremden und stillem Neid: „Ihr traut euch was!“

Nachdem unsere Entscheidung gefallen war, stellte sich die Frage: Wohin? In die engere Wahl fielen nur Orte, an denen man als Mitteleuropäer am wenigsten in weihnachtliche Stimmung versetzt wird. Die Karibik oder die Südsee kamen für uns nicht infrage: zu warm und zu teuer. Unsere Wahl fiel schließlich auf die zu Spanien gehörende Kanareninsel Lanzarote, wo fast ganzjährig Tageshöchsttemperaturen von mindestens 18 Grad herrschen.

Gut 3400 Kilometer trennen sie vom winterlichen Berlin, weit genug weg, um das Experiment zu wagen: Wir lassen das Fest der Feste ausfallen! Vorsichtshalber erkundigten wir uns nach den landesüblichen Weihnachtsbräuchen und stellten zu unserer Erleichterung fest, dass man im katholischen Spanien an Heiligabend durchaus in die Kneipe gehen kann. Am ersten Feiertag herrscht Ruhe im Land, einen zweiten Feiertag gibt es nicht, Kinderbescherung mit Konfettiregen findet erst am 6. Januar statt.

Sommerurlaub im Winter

Allmählich begannen wir uns mit dem Gedanken anzufreunden, einen mehrwöchigen Sommerurlaub anzutreten. Die letzten warmen Tage im Oktober lagen weit zurück. Seit Mitte November waren die Bäume kahl, im Dezember fielen die ersten Schneeflocken. Wir gingen seit Wochen bei Dunkelheit zur Arbeit und kehrten bei Dunkelheit nach Hause zurück. Nun holten wir unsere Sommersachen wieder aus dem Kleiderschrank. Rochen sie nicht schon ein wenig muffig?

Wir hatten unseren Abreisetag konsequent auf den 24. Dezember gelegt. Am Flughafen stellten wir zu unserer Überraschung fest, dass mit uns rund 180 Verbündete ins Flugzeug stiegen, deren grimmige Entschlossenheit im Lauf des Fluges einer heiteren Gelassenheit Platz machte. Als nach fast fünfstündigem Flug die Maschine auf der Piste des Flughafens von Lanzarote aufsetzte, betrug die Außentemperatur 21 Grad plus. Natürlich waren wir dafür viel zu warm angezogen. Noch am Gepäckband entledigten wir uns aller überflüssiger Winterbekleidung, die wir am Leib trugen. Mit dem Leihwagen ging es anschließend zum Ferienquartier inmitten eines Palmenhains. Weihnachtsgefühle sollten erst gar nicht aufkommen.

Sommerurlaub im Winter: Zur Mittagszeit brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel, kurz nach 18 Uhr versank sie grandios hinterm Horizont im Meer. Gerade mal 45 Minuten später war es stockfinster. Lanzarote liegt bedeutend näher am Äquator, weshalb die Temperaturen des Nachts auch kaum unter 15 Grad sinken. Das Meer war noch angenehme 20 Grad warm. Wir lagen am Strand und genossen den Blick auf die Brandung. Wir flanierten mit den Touristenströmen durch den Ort und begutachteten das Angebot in den Geschäften. Die Kanaren sind eine Steueroase, für kettenrauchende Schwerstalkoholiker mit einer Vorliebe für erlesene Parfüms herrschen dort paradiesische Zustände.

Das machen wir noch mal

Wir ließen Weihnachten tatsächlich ausfallen. Zu später Stunde des 24. Dezember hatten wir uns an der Promenade niedergelassen und auf das Meer geschaut. Ganz hinten blinkten die Lichter der Nachbarinsel Fuerteventura, über uns die Sterne. Es war ein schöner, erhabener Anblick. Ganz ähnlich haben wir es zu Silvester gemacht. Ich erinnere mich noch, wie wir „zwischen den Jahren“ in einer Shoppingmall einkaufen gingen. Im Innenhof stand ein Weihnachtsbaum, liebevoll mit Schnee aus Watteflöckchen dekoriert.

Irgendwie passte das nicht. Später fiel uns noch auf, dass die elektronischen Anzeigen der Busse nicht nur das Fahrtziel anzeigten, sondern auch ein „Feliz Navidad“ wünschten. Die Kassiererin im Supermarkt hatte sich eigens für die deutschen Kunden auf ein Zettelchen die Worte „Frohe Weihnachten“ aufschreiben lassen, die sie ihren Kunden mit einem freundlichen Lächeln entgegenhielt. Das aber war schon alles.

Nach drei Wochen schließlich packten wir unsere Koffer, legten die Pullover bereit und traten den Rückflug nach Deutschland an. Bei unserer Ankunft in Berlin war es kalt und nass. Darauf waren wir vorbereitet. Auf der Heimfahrt mit dem Taxi vergewisserten wir uns, dass die Weihnachtsbeleuchtung am Kurfürstendamm tatsächlich ausgeschaltet war. Zur Eingewöhnung hatten wir uns den Tag nach unserer Rückkehr auch noch freigenommen und schliefen uns aus.

Nachdem ich aufgewacht war, blinzelte ich in trübes Dämmerlicht. Ich schaute auf den Wecker. „Wie spät ist es?“, fragte meine Frau. „Halb zehn“, antwortete ich. „Das kann nicht sein, draußen ist es doch noch dunkel!“, sagte sie. In diesem Augenblick stand für uns fest: So einen Urlaub machen wir noch mal.

Peter Strunk

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