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Hervé Larcher ist der Patron der "Maison Rousse".

© Birgit Weidt

Abhängen auf Martinique: Das Geheimnis der Zeit

Touristen können viel erleben auf Martinique. Doch nur wenige tauchen ein in den Inselalltag. Ihnen fehlt die Muße. Aber die lernt man hier.

Leicht wippend schwebt eine Zigarette durch den Urwald. Festgeklemmt zwischen weiß schimmernden Zahnreihen. Eine Stimme grüßt mit samtenem Timbre „Bonsoir“. Es ist Hervé. Seine dunkle Haut und die Finsternis der Nacht lassen lediglich den aufglühenden Glimmstängel, sein makelloses Gebiss und die großen Augen leuchten. Der Patron der „Maison Rousse“ kehrt von seinem allabendlichen Rundgang zurück. Er bahnt sich einen Pfad durchs knisternde Dickicht und tritt auf die von Fackeln erleuchtete Veranda.

Seine Gäste liegen dösend in bunten Hängematten, wippen mit einem kühlen Ti-Punsch in der Hand im Schaukelstuhl oder sitzen einfach nur auf den Holzstufen des zweihundert Jahre alten Anwesens. Hinter ihnen, im Wald, raschelt’s, zirpt’s und zwitschert’s. Deutlich ist auch das Rauschen des nahen Flusses zu vernehmen.

Hervé Larcher schmunzelt zufrieden in sich hinein, ja, seine Gäste sind „angekommen“. Das braucht seine Zeit. Wenn sie mit ihren Mietwagen den Hang hinunterrollen, die Autos vor der Kolonialvilla parken und das Hauptstädtchen Fort-de-France gerade mal eine gute Stunde hinter sich gelassen haben, sind sie noch längst nicht angekommen.

„Körperlich anwesend schon“, stellt der Rastafari fest, „doch umgeben von einer diffusen Grundnervosität. Sie sind noch mit der Hochspannungsleitung ihres fernen Alltags verbunden." Woran ich das merkt? „Na, sie rennen begeistert auf meine Hängematten zu, setzen sich kurz rein, springen gleich wieder raus, mit der Begründung, nur um zu schaukeln, dafür hätten sie keine Zeit. Es gebe so viel zu tun und zu sehen ringsherum.“ Der Kreole wiegt nachdenklich den Kopf, sodass seine langen Dreadlocks hin und her baumeln. Als ob Schaukeln Zeitvergeudung wäre.

Die Hängematte gibt der Bewegung der Träume nach

Hervé findet die Dodine, also die Hängematten auf Martinique, schön und existenziell. Deshalb stellt er sie auch selbst her. Das hat er von seinem Großvater gelernt. Als Kind half er ihm beim Ziehen der Vanille, bei der Ernte des Kaffees und beim Jäten der Yamswurzeln. In den Verschnaufpausen lag er träumend in der Hängematte – und hat sich die Knüpftechnik fürs fabelhafte Abhängen bald vom alten Pierre abgeschaut.

Hervé, dessen fein geschnittenes Gesicht nun im Schein der Laterne gut zu erkennen ist, drückt seine Zigarette aus und lächelt – ein Lächeln, das im Nu seine Augen erreicht. Ein schöner, auch eleganter Mann. Seine Eleganz besteht nicht darin, was er trägt, es ist nur ein einfaches Hemd, eine weite Leinenhose – sondern wie er es trägt: stolz schreitend, mit durchgedrücktem Rücken und breiten Schultern.

Zwischen den Holzsäulen der Veranda sind seine kunterbunt gestreiften Exemplare festgeknüpft, sie sehen aus wie verkehrt herum angebrachte Regenbogen. „Je länger meine Gäste in der Hängematte liegen, desto besser geht es ihnen. Sie entspannen!“, resümiert Hervé. „Warum? Die Hängematte gibt der Bewegung der Träume nach.“

1902 übergoss der Vulkan Mont Pelée St. Pierre mit Lava

Wenn Hervé mal alt ist, will er ein Buch schreiben über Bekenntnisse seiner Gäste beim Schaukeln: Geschichten von großen Träumen und kleinen Begebenheiten, vom leichten Leben und der schweren Liebe und von der langen Suche nach dem Glück. Aber jetzt ist er erst 40 und sammelt fleißig.

Das „Maison Rousse“ liegt im Norden von Martinique, eine halbe Stunde entfernt vom ruhigen Saint-Pierre. Das Städtchen am Karibischen Meer ist von Touristenströmen verschont geblieben und hat einen ganz eigenen Stil entwickelt, mit einer inseleigenen kreolischen Kultur. Der Grund dafür liegt lange zurück. 1902 übergoss der Vulkan Mont Pelée St. Pierre mit seiner Lava: Das pompöse Theater, die flotten Pferdebahnen, gepflegte Restaurants und exquisite Läden wurden zerstört.

Tausende Menschen starben, und mit dem gepriesenen Charme der damaligen Hauptstadt, die gern als das „Paris der Antillen“ bezeichnet wurde, war es ein für alle Mal vorbei. Fort-de-France rückte in den Mittelpunkt.

Erst in den vergangenen Jahren rappelte sich Saint-Pierre auf und schüttelte das Image der tristen Stadt ab. Kreolische Villen wurden renoviert, neue Läden eröffneten und der Markt an der Uferpromenade wurde vergrößert. Ein maritimes Sportzentrum entstand, wo Neugierige in die Vergangenheit hinabtauchen können – dort, wo Dutzende Schiffe, die damals bei Ausbruch des Vulkans am Hafen lagen, versanken. Die von Schwämmen und Korallen bedeckten Wracks, umschwärmt von bunten Fischen, faszinieren Einheimische und Besucher gleichermaßen.

Die Band Kassav machte den Zouk weltweit bekannt

Der Ort Saint-Pierre im Norden der Insel.
Der Ort Saint-Pierre im Norden der Insel.

© Gabriel Bouys/AFP

Eine Corniche ist entstanden, eine lang gestreckte Uferpromenade, auf der sich Künstler und Musiker treffen. Dort werden Musikanlagen mit wuchtigen Verstärkern aufgebaut und übertönen mit Zouk- und Reggae-Rhythmen die tosende Brandung der Wellen. Der Zouk ist nicht nur ein traditioneller, karibischer Musikstil, sondern der Tanz der Kreolen, ein erotischer Tanz, bei dem beide Partner abwechselnd die Führung übernehmen und die Frau kräftig die Hüfte schwingt.

Er findet seinen Ursprung auf Martinique und auch Guadeloupe. Berühmt auf beiden französischen Antilleninseln ist die Band Kassav, die seit über 30 Jahren weltweit auftritt und den Zouk über die Karibik hinaus bekannt gemacht hat. Kassav benannte sich nach dem Maniokfladen Kassav, der sowohl süß mit Honig als auch salzig mit Trockenfisch gebraten wird. Ein Nationalgericht.

In Saint-Pierre, dort wo nichts mehr war, entsteht Neues: Ein Freund von Hervé, aus dem französischen Mutterland, der seinen stressigen Job bei France Télécom aufgab und nach Martinique auswanderte, bringt Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker zusammen und verkauft ihre Produkte.

Hervés Hängematten werden dort auch angeboten. Die Besucher haben zu Recht das Gefühl, hier wirklich Dinge zu sehen und kaufen zu können, die von Einheimischen stammen und kein Allerweltskitsch sind. Der Laden liegt nahe der Hafenpromenade, am Gemüsemarkt, in dessen alter Halle ein kleines Bistro eröffnete, in dem man frische Langusten für ein paar Euro bekommt.

Die Zamanabäume werden hoch wie Kathedralen

Von Saint-Pierre ist es nicht weit bis zur ältesten Siedlung, dem Fischerdörfchen Le Prêcheur, das einst Zentrum der Zucker- und Kakaoindustrie war. Nicht weit zum Lieblingsort von Hervé, der Habitation Céron, einer Plantage aus dem 18. Jahrhundert: Und dort steht er, der imposanteste und größte Zamana von Martinique. Zamanas, das sind Bäume hoch wie Kathedralen, sie wachsen in den Wäldern und Hochebenen, mit ausladender Krone, die über hunderte Quadratmeter Schatten wirft.

Wenn es regnet, falten sich die Blätter zusammen, damit das Wasser durchs Geäst hindurch die Erde erreicht. Sobald die Sonne scheint, fächern sie sich auf und schützen den Boden vor dem Austrocknen.

Hervé wird oft gefragt, warum Zamanas so alt werden: „Na, weil sie nutzlos sind! Wäre ein Zamana brauchbar, was immer man auch darunter versteht, würde er gefällt und zu Tischen oder Stühlen verarbeitet. Doch weil man mit dem Holz nichts anfangen kann und auch mit den Früchten nichts, deshalb bleiben sie. Die Vögel bauen darin ihre Nester, und wir können uns in ihren Schatten setzen und ausruhen.“

In der alten Destillerie lebt die Kolonialzeit fort

Zamanas wachsen im Norden von Martinique und werden 100 bis 200 Jahre alt. Die Früchte sind im Vergleich zur voluminösen Erscheinung des Baumes winzige, dunkelbraune flache Hülsen, aus deren Samen Hervé auf seinem Anwesen im Dschungel neue Zamanas züchtet und hofft, dass seine Sprösslinge einmal genauso riesig und uralt werden.

Hervé liebt Hängematten, Zamanas und natürlich Rum. Ein Getränk, für Müßiggänger, Tagediebe, Lebenskünstler, wie er meint, vor allem aber für Genießer und Kenner. Keiner zweifle daran: Der Rum von Martinique gehört zur Weltspitze.

Wie die meisten Bewohner der Insel trinkt er auch den weißen gemischt mit Fruchtsäften zum Aperitif und den aromatischen rhum vieux nach dem Essen als Digestif. Am liebsten brennt er ihn selbst. Auf seiner Pflanzung schneidet er das Zuckerrohr noch traditionell mit der Machete, befreit die Halme von Blättern und Enden, schüttet sie in die Presse. Der Rum auf Martinique wird nicht wie üblich aus Melasse, sondern aus Zuckerrohrsaft gebrannt und reift in Eichenfässern.

In der Rumfabrik Clément bei Le François, eine der sieben Destillerien auf Martinique, ergänzt Hervé sein hausgemachtes Sortiment, kauft zu seinem frischen Weißen noch den guten Alten und zeigt seinen Gästen das beeindruckende Anwesen der alten Fabrik: Nirgends kann man sich so gut in das Leben der Plantagenbesitzer aus der Kolonialzeit zurückversetzen wie hier im Park und der Villa, die wirkt, als seien die einstigen Bewohner nur kurz außer Haus: Die Betten sind aufgeschlagen, in der Küche steht der Topf auf dem Herd, und in der schwarzen Schreibmaschine klemmt ein halb beschriebenes Blatt Papier.

Aus der Hitze in die Jugendstilbibliothek

Grüne Seite. Die Gemeinde Grand’Rivière liegt im Nordosten von Martinique am Fuße des Vulkans Montagne Pelée.
Grüne Seite. Die Gemeinde Grand’Rivière liegt im Nordosten von Martinique am Fuße des Vulkans Montagne Pelée.

© mauritius images

Durch die herrliche Allee aus Kokos- und Königspalmen rauscht der Wind, raschelt durch die dicht beieinanderstehenden Bäume. Es sind rund dreihundert verschiedene Arten, durch die sich idyllisch ein Bach schlängelt. Auf dem holprigen Weg ruckelt eine Pferdekutsche heran, feine Herrschaften mit weißen Sonnenschirmen stehen und plaudern – es wird wieder einmal ein historischer Film gedreht, eine Episode über die Rum-Barone von einst.

Die Geschichte der Rum-Destillerien auf Martinique reicht weit zurück, sie wurden bereits im 17. Jahrhundert immer wieder ehrgeizig modernisiert. Den entscheidenden Anstoß gab der in Paris geborene Dominikanermönch Père Labat, der als Missionar auf die Antilleninsel kam. Ein gebildeter und streitlustiger Schlemmer, der mit Freibeutern dinierte, leidenschaftlich gern Wildschweine jagte und häufig Ärger mit seinen kirchlichen Vorgesetzten hatte. Er ließ Windmühlen bauen, mit vorsätzlicher Absicht, die Rumproduktion – erheblich – zu steigern.

Wenn die Hitze der Tropen unversehens aufs Gemüt schlägt, ein Gläschen Rum einem sofort die Sinne raubt und man sich mehr schlecht als recht durch die Mittagsglut schleppt, ist es höchste Zeit, sich irgendwo abzukühlen.

Die Franzosen waren besonders lecker

Der angenehmste Fluchtort ist natürlich ein klimatisiertes Museum. Hervé bevorzugt die Bibliothek Schœlcher. Dieses orientalisch anmutende Jugendstilgebäude mit seiner imposanten Glaskuppel in Fort-de-France wurde einst zu Ehren des Politikers Victor Schœlcher errichtet, der sich 1848 in Frankreich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte.

Das Gebäude wurde für die Pariser Weltausstellung im Jahre 1889 gebaut, anschließend in alle Einzelteile zerlegt und in Martinique wieder aufgebaut. Die Bibliothek birgt über 130.000 Bücher, von denen viele von Schœlcher selbst gestiftet wurden.

In den alten Bänden zu schmökern, ist ein wunderbarer Zeitvertreib. Ab und zu ist Kurioses und durchaus Makaberes zu lesen. Wie Passagen aus den Reisenotizen von Charles de Rochefort, der 1658 detailliert die kulinarischen Vorlieben der einst angeblich menschenfressenden Kariben beschrieb und zusammenfasste: „Die Franzosen waren besonders lecker, Holländer schmeckten fade und Spanier mit ihren vielen Sehnen und Knorpeln blieben fast ungenießbar.“

Ein Stein wie ein Kunstwerk

Am Abend, wenn die Nacht den Tag ablöst, schlendert Hervé mit seinen Gästen zum rauschenden Fluss. Er und die Besucher lassen die „Maison Rousse“ hinter sich, um die Beine vom Ufer aus im kühlenden Wasser baumeln zu lassen.

Dann fischt Hervé aus der Strömung einen glatten schwarzen Kieselstein, der, von zwei weißen Adern durchzogen, wie ein Kunstwerk aussieht. Der Rastafari reicht ihn herum. Einer nach dem anderen nimmt den Stein in die Hand, befühlt ihn, dreht und wendet ihn.

Der Stein ist von besonderem Wert, sagt Hervé. „Man kann ihn in einen Milchtopf legen, und die Milch kocht nicht über. Oder damit einen streunenden Hund bewerfen, der einen vielleicht angreifen will. Ihn als Briefbeschwerer benutzen. Oder einfach nur auf den Tisch legen, von Zeit zu Zeit in die Hand nehmen und an diesen Moment jetzt denken!“

Hervé kann eine Menge. Im Grunde aber ist er wohl Philosoph.

Immer eine angenehme Brise am Strand

Fröhlich: Grande Anse
Fröhlich: Grande Anse

© mauritius images

ANREISE
Nonstop-Flüge von Paris. Die Flugzeit beträgt 8,5 Stunden. Mit Air France von elf deutschen Flughäfen, ab 680 Euro.

ÜBERNACHTUNG
Im Norden: Schöne Pension mit guter, kreolischer Küche: Maison d'hôte la Maison Rousse (bei Hervé), pro Nacht für zwei Personen mit Frühstück ab 90 Euro (bei Einzelzimmer Aufschlag), Quartier Fonds Mascret, Fonds Saint Denis.

Im Süden: Chambre d'hôte Domaine de Puyferrat (bei Sylvie und Bruno), pro Person mit Frühstück ab 75 Euro, Quartier Puyferrat-Massel, Le Marin.

SEHENSWÜRDIGKEITEN
Plantage der Habitation Céron mit dem riesigen Zamanabaum. Erhaltener Wohnbereich der Sklaven, Produktionsbereiche mit Mühle und Zuckerfabrik, schöne Parkanlage. Eintritt: sechs Euro.
Rumfabrik Clément bei Le François. Schönste Destillerie der Insel, Verkostungen gelegentlich auch nachts. Hier haben sich 1991 die Präsidenten Mitterand und Bush getroffen. Eintritt: zwölf Euro inklusive Verkostungen.
Bibliothek Schœlcher in Fort-de-France. Von den etwa 300.000 Bänden kann immerhin ein Drittel besichtigt werden. Eintritt: frei, Rue de la Liberté, Fort-de-France

BADEN
Anse Couleuvre im Norden: schwarzer Naturstrand im Regenwald am Ende der Straße von Prêcheur. Diamant Strand: vier Kilometer lang, stets Wellen, zudem weht immer eine angenehme Brise, viele schattenspendende Palmen.

REISEFÜHRER
Régis Couturier: Martinique, Lonely Planet, 2014, 9,70 Euro

AUSKUNFT
Im Internet unter insel-martinique.de, oder rendezvousenfrance.com/de/sehenswert/martinique

Birgit Weidt

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