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Reise: Über allen Gipfeln singt’s

Wie ein mächtiges Gebiss, das sich von unten durch die sanfte, grüne Hügellandschaft gebohrt hat, ragt das schroffe Felsmassiv des Schlern in die Höhe. Gegenüber liegt die Seiser Alm, das Hochplateau am Rande der Dolomiten.

Wie ein mächtiges Gebiss, das sich von unten durch die sanfte, grüne Hügellandschaft gebohrt hat, ragt das schroffe Felsmassiv des Schlern in die Höhe. Gegenüber liegt die Seiser Alm, das Hochplateau am Rande der Dolomiten. Es ist ein warmer Frühsommertag in Südtirol. Aus einem Lautsprecher vor der Almhütte Prossliner Schwaige erklingt die Musik, die vor diese Kulisse gehört: „Berg ohne Wiederkehr“ – von den Kastelruther Spatzen, der vermutlich erfolgreichsten deutschsprachigen Volksmusikband (16 Millionen verkaufte Alben). Ihre Musikvideos dreht sie bevorzugt hier oben auf den saftigen Almwiesen, fast immer mit dem charakteristischen Schlernfelsen im Hintergrund. 60 000 Touristen reisen jedes Jahr in den Naturpark Schlern, viele zum Wandern, nicht wenige vermutlich wegen der Kastelruther Spatzen.

Die Fans kommen, um die Landschaft zu sehen, die sie als Videokulisse kennen. Sie kommen in Massen zu den Open-Air- Festivals wie im Juni und zum „Spatzenfest“ im Oktober. Doch sie kommen eigentlich das ganze Jahr über, um ihre Stars im Alltag zu erleben. Was aber findet man von der heilen Welt und den Bergdramen, die die Kastelruther Spatzen besingen? Was ist das für eine Gegend die zu Textzeilen inspiriert wie:

„Und die Gefühle, die blieben dort,

am Berg ohne Wiederkehr ...“

Bergführer Robert Egger, ein Mann mit Dreitagebart und vom Wetter gegerbten Gesicht, bringt uns zur Prossliner Schwaige. Bei einem Gespritzten blicken wir zum Felsen hinüber. Der 58-Jährige erzählt von seiner ersten Begegnung mit der Santnerspitze, dem vorgelagerten Säbelzahn des Massivs. An dem Tag, damals im Juni 1964, sollte es schwül werden. Gefährlich schwül für das, was Robert Egger und Pepi Schmuck, beide 16 Jahre alt, vorhatten.

Um sechs Uhr morgens, der Himmel hatte sich bereits zugezogen, erreichten die beiden die Hütte Schlernboden, hinter der das Grün aufhört, wo sich fast senkrecht die steile Felswand erhebt. Mehr als 500 Meter hoch. Dort trafen sie auf den 19-jährigen Hugo Prossliner, diskutierten mit ihm, ob man den Aufstieg wagen solle. Die Luft war heiß und feucht, doch die Jungs, jetzt zu dritt, beschlossen, die Wand in Angriff zu nehmen. Schnell stiegen sie hinauf, entlang der in den Fels geschlagenen Nägel. Alles klappte gut, nur der Himmel wurde dunkler und dunkler. Das Gewitter kam nah. Dass Blitzschläge lebensgefährlich sind, wussten die Jugendlichen. Aber der direkte Weg zurück war steil und gefährlich. Die Jungs entschieden sich, auf den Gipfel zu gehen und sich auf der anderen Seite abzuseilen; der einfachere Abstieg, aber ein verhängnisvoller Fehler.

An das, was auf der Santnerspitze in den folgenden Stunden passierte, hat Robert Egger keine Erinnerung mehr. Er wachte auf, durchnässt, den Rücken an einen Felsblock gelehnt, hatte starke Schmerzen, Verbrennungen von der rechten Schulter bis zur rechten Ferse – der Weg, den der Blitz durch seinen Körper genommen hatte. Er stand auf, humpelte zu Hugo, der bewusstlos war, aber atmete. Er schaute sich um, sein Kumpel Pepi Schmuck war nicht zu sehen. Später fand man ihn 700 Meter tiefer, sein Körper auf einem Felsen zerschmettert. Eine heftige Böe hatte ihn wohl in die Tiefe gerissen.

Egger und Prossliner konnten mithilfe der Bergrettung absteigen. Egger stieg noch im gleichen Jahr wieder auf die Santnerspitze, in den folgenden Jahren war er jeden Sommer 15- bis 20-mal dort oben, 1972 ging er als Erster einen neuen Weg zum Gipfel, über die extrem steile Nordflanke, er nannte sie „Pepi- Schmuck-Gedächtnisweg“. Prossliner ging nie wieder auf eine alpine Bergtour.

Bergdramen, es gibt sie, doch eher in der Geschichte. „Abstürze kommen kaum noch vor bei uns. Die Masse der Notfälle sind heute Kreislaufkollaps und Herzinfarkt, meistens beim Wandern und nicht beim Bergsteigen“, sagt Egger. Die Ausrüstung sei viel besser als früher, die Routen detaillierter beschrieben, die Kletterer gut informiert.

Er blickt über die Wiese zum Schlernmassiv. „Es isch scho’ einmalig hier.“ Findet er seine Liebe zur Heimat in den Texten der Kastelruther Spatzen wieder? „Das ist Musik für Menschen, die Probleme haben; dieses Langweilige, alles Liebhabende, das mag ich nicht“, sagt er. „Nicht, dass ich’s kritisieren tät. Durch die Spatzen hört man immer wieder von unserem Gebiet, und das ist schon zu begrüßen.“

„Die weiße Braut der Berge wird sie heute noch genannt, / die Blume aller Blumen hoch in der Felsenwand.“

Die Erinnerung treibt Heinrich Abraham an. Es donnert, dunkle Wolken stehen über dem Schlernmassiv, Tropfen fallen. Doch der 60-jährige Kräuterexperte, große metallgerahmte Brille, schmale Lippen, geht mit schnellen Schritten voran. Er ist auf der Suche nach einer Blumenwiese, wie er sie aus seiner Kindheit kennt. Einfach ist so etwas nicht zu finden hier unten im Tal. An den Seiten des Feldweges, der aus Kastelruth herausführt, ist das Gras kurz geschnitten, dunkelbraun zeichnen sich darin Traktorspuren ab.

Abraham führt uns durch die von den Kastelruther Spatzen so gepriesene Natur im Schlerngebiet. „Früher hatten wir hier überall blauen Enzian, heute ist das eine Kostbarkeit, für die man weit aufsteigen muss“, sagt er. Durch das Ausbringen von Gülle und den Einsatz schwerer Erntemaschinen verschwänden viele Pflanzenarten. Doch dann: eine abschüssige Wiese. Schon von weitem hören wir das Zirpen der Grillen. „Das hier ist eine ganz tolle Wiese, das höre ich schon“, sagt Abraham. Hüfthoch wogende Gräser, dazwischen tiefblau blühender Wiesensalbei, lila Witwenblumen. „Vor ein paar Jahren hat es das noch nicht gegeben. Die Milchwirtschaft hat keine große Zukunft mehr, damit geht die intensive Landwirtschaft langsam zurück.“

Der sonst so nüchterne Wissenschaftler Abraham gerät ins Schwärmen. „Wenn ich müde bin und sehe diese Farben, blühe ich wieder auf.“ Sind die Kastelruther Spatzen der Soundtrack zu dieser Wiese? Der 60-Jährige lächelt. „Ich liebe klassische Musik. Wenn hier mit riesigem Aufwand ein klassisches Konzert veranstaltet wird, kommen nur ein paar Menschen – und wenn die Spatzen spielen, dann kommen Tausende. Das ist natürlich ein bisschen enttäuschend. Ich will mich aber nicht negativ äußern und sage: Ich höre ab und zu ein Stück von ihnen.“

„Wenn einmal der Applaus verklingt, / dann geh ich einfach heim, / und Bauernbub von Kastelruth, / das werd ich immer sein.“

Ein Schnupftabakkrümel klebt unter der Nase von Elmar Schieder, lange braune Haare, muskulöse Arme. Der 30-Jährige ist Bergbauer aus Tisens, einem Ortsteil von Kastelruth. „Natürlich fahre ich Jauche aus auf der Alm, sonst wächst da viel zu wenig. Der Aufwand, dort zu mähen, würde sich sonst nicht lohnen.“

Sonnabendnachmittag sitzt er im Schatten eines Nussbaumes vor der Haustür des Bauernhofs. 16 Milchkühe hat Schieder. Das Gras, das sie im Winter als Heu fressen, muss zum großen Teil von Hand gemäht werden, weil die Hänge, auf denen es wächst, zu steil für Maschinen sind. Landwirtschaft im Hochgebirge lohnt sich schon lange nicht mehr – eigentlich. Im Winter sitzt Schieder jede Nacht in der Pistenraupe, manchmal 16 Stunden am Stück. „Ich muss in fünf Monaten das Geld für das ganze Jahr verdienen.“ Warum nicht aufhören mit der Landwirtschaft? „Niemals, dafür ist der Stolz zu groß. Wenn du in Südtirol Bauer bist, dann bist du wer“, sagt Elmar Schieder mit fester Stimme. Er will seinen Hof halten, allen Widrigkeiten trotzen. „Vielleicht ist es unser Glück, dass die Landwirtschaft bei uns noch so ursprünglich ist, denn unsere Gäste suchen Ruhe, die wollen zurück zur Natur.“ Die Schieders vermieten auch Zimmer, Ferien auf dem Bauernhof. „Ohne die Einnahmen aus dem Tourismus könnte ich kein Bauer mehr sein“, sagt Schieder. „Unser Glück hier sind die Kastelruther Spatzen. Was die an Werbung für die Region machen, ist unbezahlbar.“ Und zwei von ihnen seien schließlich selbst Bauern.

„Immer noch und immer, / immer wieder Kastelruther-Spatzen-Fieber.“

Wir sind mit Albin Gross, dem Keyboarder und Manager der Kastelruther auf die Seiser Alm gefahren. Gross zeigt auf eine Almhütte: „Dort hinten habe ich als Kind Kühe gehütet.“ Auf der Alm seiner Großeltern verbrachte er die Sommer. „Damals war nichts los hier in der Gegend.“ Heute startet hinter der Hütte ein Sessellift, daneben steht ein Hotel. Die sanften Hänge der Seiser Alm sind touristisch erschlossen, im Sommer kommen Wanderer und Spaziergänger, im Winter Skifahrer – braune Stellen auf den Hängen erzählen davon. Aber die Aussicht über das Hochplateau und auf das Schlernmassiv ist großartig. „Das ist die schöne Heimat, die wir Kastelruther Spatzen besingen, das ist kein Kitsch. Und wenn die Menschen im Urlaub hierherkommen, dann sehen sie, dass es wirklich so ist.“

„In der Felsenwand des Lebens / ist die Liebe wie ein starkes Seil, / das verbindet in der schweren Zeit / und das uns rettet vor dem tiefen Fall.“

In Kastelruth betreibt Albin Gross seit Jahren ein Hotel, außerdem gemeinsam mit seiner Frau einen Getränkegroßhandel. „Den führt meine Frau, die ist mein großer Rückhalt, wir sind jetzt seit 27 Jahren verheiratet.“ Schwierige Phasen habe es gegeben. „Aber da sind ja noch die Kinder, die halten eine Ehe zusammen.“ Im Steckbrief von Albin Gross auf einer DVD steht: „Frauen wollen die Treue, Männer sehen das etwas anders.“ Gibt es Groupies bei den Spatzen? „Musiker sind begehrt, da muss jeder selber wissen, was er tut.“

Wir stehen im Hotel von Albin Gross, ein zweistöckiges Haus mit vier Flügeln und 32 Apartments. Eine schwäbische Familie kommt an die Rezeption, Eltern, zwei Kinder und Großeltern. Sie wollen sich verabschieden, freuen sich, dass sie noch ein Erinnerungsfoto mit dem Keyboarder der Spatzen machen können. Gross nimmt die Frauen in den Arm, der Vater fotografiert. Dann steigt die Familie in ihre beiden Autos, raus aus der heilen Bergwelt, rein in den Alltag. „Bis wir wiederkommen, hören wir eure Lieder“, ruft die Mutter aus dem offenen Fenster.

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