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Mehr als 750 Jahre Geschichte. Die ukrainische Stadt Lwiw (Lemberg) hat ihre Bausubstanz trotz aller Widrigkeiten erhalten können. Auch die Neptunstatue am Markt.

© Helge Bendl

Ukraine: Frischer Wind aus den Karpaten

Das ukrainische Lemberg steht als Teil des europäischen Fußballfests im Rampenlicht. Es lohnt, die Welterbestadt für sich zu entdecken.

Dornröschen wird soeben wach geküsst, doch kaum jemand nimmt bisher davon Notiz. Hat Lemberg zu lange geschlafen, so dass sich fast niemand mehr an die Stadt erinnert? War die stachelige Hecke, die sie gefangen hielt, zu undurchdringlich, so dass all ihre Eleganz und Pracht im Rest Europas in Vergessenheit geriet? Vermutlich ist es ganz gut, wie wenige Menschen wissen, dass sie immer noch die Schönste ist im ganzen Land Ukraine – und dass sie sogar ihre wilde, junge Seite neu entdeckt. Denn so muss, wer sie besucht, ihr märchenhaftes Ambiente mit nur wenigen Verehrern teilen.

Geschichtsbücher besingen Lembergs Schönheit, Besucher sollten also vorbereitet sein. Doch liegt einem erst die Stadt im Wortsinn zu Füßen, ringt man um Luft. Das liegt, so viel Ehrlichkeit muss leider sein, nicht nur am Panorama, sondern oft auch an mangelhafter Fitness. Denn entweder geht es 409 Stufen nach oben auf den Rathausturm. Oder man erklimmt den Schlossberg, 130 Höhenmeter über Lemberg thronend, in dessen Wald das Echo unzähliger Heiratsanträge nachklingt. In Ermangelung der passenden Begleitung kann man sich, oben angekommen, auch in die Stadt selbst verlieben.

„Renaissance, Barock, Klassizismus, Historismus, Jugendstil und Art déco: Nicht im Krieg zerstört und auch danach nicht mit sowjetischer Tristesse verschandelt, ist Lemberg komplett erhalten geblieben“, erzählt in perfektem Deutsch Olena Holyschewa, die Historikerin des Besucherbüros. Wer mit der versierten Frau durch die Straßen tourt, muss sich auf einen Parforceritt durch die Geschichte einstellen, bis die Füße schmerzen. Später, wenn sich ein Überblick eingestellt hat und der Besucher die Stadt auf eigene Faust entdeckt, erspürt er auch die Stimmungen der Gegenwart. Bei den Mütterchen auf dem Markt, wo Kopftücher und weite Röcke die Kleiderordnung bestimmen, oder bei der flotten Süßwarenverkäuferin mit ihrem Bauchladen. Abends, wenn Pärchen auf dem Prospekt vor der Oper flanieren. Oder nachts, wenn man nach dem Besuch einer Tanzvorstellung im bröckelnden Les-Kurbas-Theater – einst Kasino und Bordell – nicht nur die Straßenbahn durch die Gassen quietschen hört, sondern auch die Improvisationen des Saxofonisten aus dem Jazzclub.

„Das 20. Jahrhundert war in Galizien sehr turbulent: In 100 Jahren wechselten die Menschen ihre Staatsbürgerschaft tatsächlich sieben Mal“, sagt Olena Holyschewa. Lemberg gehörte einst zu Österreich-Ungarn und war – Glanz und Gloria inklusive – nach Wien, Budapest und Prag die viertwichtigste Metropole der Habsburgermonarchie. 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs, wurde hier die Westukrainische Republik gegründet, doch bald danach übernahm Polen. Später kamen im Zweiten Weltkrieg Russlands Truppen, dann Hitlers Wehrmacht. Nach der deutschen Kapitulation geriet die Stadt wieder unter sowjetische Herrschaft. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Lemberg – inzwischen unter dem offiziellen Namen Lwiw – Teil der unabhängigen Ukraine. Zwar zerstörten die Nazis die Synagoge, eine der prächtigsten in Europa. Doch sonst kamen die Gebäude glimpflich davon. Mit viel Glück in den Weltkriegen – aber auch, weil Bürger später erfolgreich Widerstand leisteten, als die Sowjets das Zentrum planieren und Lemberg zu einer kommunistischen Musterstadt mit Boulevards und monumentalem Lenin-Denkmal umbauen wollten.

750 Jahre Geschichte schimmern deswegen unter den abblätternden Fassaden: eine überbordende Architekturpracht mit unzähligen Türmchen und Kuppeln und Arkaden und in Hinterhöfen versteckten Galerien – Handelsherren und Herrschende hatten keine Gewissensbisse, ihr Geld zur Schau zu stellen. Es gibt auch die Gassen der Handwerker, wo man die Sprachen halb Europas hören konnte: Armenisch, Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Ukrainisch und Ungarisch. Lemberg (für die Deutschen), Lwiw (für die Ukrainer) oder Lwow (für die Polen): Leopolis, die stolze Stadt im alten Galizien (es soll hier mehr als 4000 Löwenfiguren geben), hat 100 Kirchen zu bieten – und man amüsiert sich in mindestens ebenso vielen Kaffeehäusern, Künstlerkellern und Kult-Kneipen. Restauratoren schwärmen aus, um das Weltkulturerbe herauszuputzen, doch Lemberg ist kein Freilichtmuseum.

"Kaffee ist der Rohstoff, der und antreibt"

750 000 Einwohner, darunter immerhin 150 000 Studenten, bringen Leben in die Altstadt und sorgen an lauen Abenden für stetes Klappern auf dem Kopfsteinpflaster. „Europas unentdeckte Perle“ sei Lemberg, sagen die Tourismuswerber, ein „ungeschliffener Diamant“. Natürlich schwingt da viel Lokalpatriotismus mit, doch mit Blick auf das nahe Krakau (die polnische Grenze ist nur 80 Kilometer entfernt) stimmt der Vergleich: Während an der Weichsel Billigflieger im Halbstundentakt einschweben, erwacht Lemberg, die letzte Stadt Europas vor der russischen Seite der Welt, erst aus seinem Dornröschenschlaf. Vor allem Tagestouristen aus anderen Städten der Ukraine zieht es hierher – aus dem Westen kommen allerdings erst wenige Besucher.

Dabei gibt es hier mehr zu sehen als Steine. Die Karpaten sind nicht weit, und für frischen Wind in der Stadt sorgen Entrepreneure wie Igor Sydor, den man – das ist kein Zufall – auf einen Espresso und ein Stück Apfelstrudel im Kaffeehaus trifft. „Als im 17. Jahrhundert die Türken vor Wien standen, soll Georg Franz Kolschitzky, ein Händler aus der Gegend von Lemberg, die gegnerischen Truppen ausspioniert haben. Als Belohnung für seine Dienste wünschte er sich nach dem Sieg der Kaiserlichen die ,Säcke mit den Körnern‘, die im Türken-Depot lagerten“, erzählt der 34-Jährige. So kam der Legende nach der erste Kaffee nach Wien – und später in Kolschitzkys alte Heimat. „Wir sind in dieser Hinsicht immer noch von den Österreichern geprägt: Geschäfte werden bei einem Kaffee abgewickelt, und am Sonntag geht man nach dem Kirchgang zusammen mit der Familie ins Kaffeehaus.“ Igor Sydor hat deswegen ein Kaffeefestival ins Leben gerufen. Und weil das so erfolgreich ist, gibt es inzwischen auch ein Schokoladenfestival. Und eines, bei dem sich alles um Käse und Wein dreht.

Jenseits dieser Events sorgt ein anderer Tausendsassa dafür, dass Lemberg eine individuelle gastronomische Szene hat. „Eine Pizzeria eröffnen? Oder eine Sushi-Bar? Das ist austauschbar, das interessiert mich nicht“, sagt Yuri Nazaruk. Am liebsten würde der junge Mann wieder mit dem Rucksack um die Welt reisen, doch leider hat er dafür jetzt keine Zeit mehr: Er entwickelt Themenrestaurants, die alle authentisch und mit der Geschichte der Stadt verknüpft sind. So kann man in der Loge der Freimaurer zu Abend essen und im Restaurant „Zur goldenen Rose“ jüdische Spezialitäten probieren. Man kann sich im „Haus der Legenden“ verirren, in dem jeder Raum anders dekoriert ist, oder sich für ein Mahl von strengen Bedienungen einsperren lassen in einem Café, das Leopold von Zaher-Masoch gewidmet ist. Das Gewölbe unter der Oper hat Yuri Nazaruk für Auftritte von Lemberger Nachwuchsbands reserviert, die abrocken, während ein Stockwerk weiter oben Verdi aufgeführt wird. Und natürlich hat er sich auch etwas überlegt, um die Koffeinsucht der Lemberger zu befriedigen. „Kaffee ist der Rohstoff, der uns antreibt“, sagt er. „Wir haben jetzt ein Bergwerk eröffnet, in dem die Kaffeebohnen tief unter der Erde aus dem Gestein geschlagen werden.“

Nur ein paar Schritte von den behelmten Kumpels entfernt hat im ersten Stock des Rathauses Bürgermeister Andriy Sadovyj sein Büro. Drei Vorrundenspiele der Fußball-Europameisterschaft werden in Lemberg ausgetragen, Deutschland trifft am kommenden Sonnabend hier auf Portugal und sieht sich an gleicher Stelle am 17. Juni Dänemark gegenüber. Das Stadion ist schon längst fertig, der neue Flughafen eröffnet: Wenn von Problemen bei der EM-Infrastruktur und von der Unterwanderung durch die Mafia die Rede war, dann betraf das die anderen Austragungsstädte der Ukraine, nie Lemberg. „Wir haben uns hier eben sehr, sehr gründlich vorbereitet und mächtig angestrengt“, sagt Andriy Sadovyj mit dem gewissen Lemberger Selbstbewusstsein. Nun soll ein einziges großes Fußballfest steigen und die Stadt wieder bekannt machen in Europa. Andriy Sadovyj schmunzelt, er kennt das passende deutsche Wort: „Wir hoffen auf ein Sommermärchen.“

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