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Reise: Unsichtbar im eigenen Land

Die Indianer an Kanadas Westküste nutzen Olympia 2010, um sich und ihre Kultur selbst darzustellen

Zum Treffen trägt Häuptling Bill Williams die Rabenweste. „Eigentlich bin ich ein Wolf, so wie mein Vater es war“, sagt der Führer der Squamish-Indianer. Deswegen trägt Williams, der in der Sprache seines Stammes Telásemkin Siyam heißt, zu offiziellen Anlässen meist eine Weste mit einem aus Filz genähten Wolf. Heute ehrt der Häuptling mit dem grauschwarzen Haar und dem dunklen Schnurrbart jedoch seine Mutter. „Die gehörte zum Clan der Raben.“ Daher ziert an diesem Sommertag ein kunstvoll stilisierter roter Filzrabe die Weste, in der Bill Williams den Besucher empfängt. Über der Weste baumelt eine Kette mit fingerdicken Schwarzbärenkrallen, verziert mit bunten Perlen. Hinter Bill Williams schrauben und hämmern Arbeiter an einem transparenten Bau aus Glas und hellem Zedernholz, der die Größe einer Sporthalle hat. Rundherum ragen die zu den Coast Mountains gehörenden Berge des Whistler-Skigebiets in den graublauen Himmel. „Willkommen im Land der Squamish“, sagt Bill Williams.

Der Neubau in Whistler, durch den der Häuptling seinen Besuch führt, ist ein bemerkenswertes Pionierprojekt. Im Zentrum des vor allem bei wohlhabenden Kanadiern, US-Amerikanern und Japanern beliebten Skiortes laden zwei sonst recht abgeschieden lebende Indianerstämme dazu ein, ihre Kultur zu erkunden. Das „Squamish-Lil’wat-Kulturzentrum“, das in diesem Sommer eröffnet wird, soll aus Anlass der Anfang 2010 stattfindenden Olympischen Winterspiele Touristen ein Gefühl dafür vermitteln, dass dieses Gebiet zwei Autostunden nördlich der Millionenmetropole Vancouver eine Geschichte hat, die weit über die 40 Jahre hinausgeht, in denen sich Whistler zu einem der populärsten Skigebiete Nordamerikas entwickelt hat.

„Wir wollen zeigen, dass die Siedlungen der Weißen neue Phänomene sind und dass es hier lange davor Einwohner mit einer eigenen Kultur gab“, sagt Häuptling Williams. Hinter ihm räumen Bauarbeiter einen Platz frei, an dem ein großes, bis zu 50 Menschen fassendes Zwölf-Meter-Kanu an die Seefahrertradition der Squamish erinnern wird. Geschnitzte Holzfiguren sollen Besucher begrüßen, so wie es vor den Häusern der Squamish Tradition war. Daneben soll ein großes Spinnrad in die Traditionen des Lil’wat-Stammes einführen, der weiter im Landesinnern lebt und mit den Squamish verwandt ist. Rundherum sollen Ausstellungstafeln von Alltag, Geschichte und Mythen der mehr als 5000 Mitglieder zählenden Stämme erzählen. Hinter der Ausstellungshalle bereiten Bauarbeiter den Boden vor, um zwei traditionelle Wohnhäuser zu errichten, ein „Longhouse“ aus Baumstämmen und ein „Istken“ aus Erde.

So wie in Whistler wird derzeit an vielen Orten der kanadischen Westküste gebaut und gearbeitet, damit die Region sich zu den hier stattfindenden Olympischen Winterspielen 2010 in bestem Licht präsentiert. Neben einer Handvoll neuer Sportstätten für Wintersport-Wettkämpfe sind auch mehrere Großprojekte im Bau, die die Region über die Spiele hinaus nachhaltig verändern. Der Sea-to- Sky-Highway, der Vancouver mit den Skiregionen um Whistler verbindet, wird größtenteils vierspurig ausgebaut. Mehrere Hauptverkehrsstraßen Vancouvers haben sich in gigantische Baustellen für eine neue U-Bahn-Linie vom Flughafen in die Innenstadt verwandelt. Und an fast jeder Ecke der City wachsen neue Bürogebäude, Wohntürme und Hotels in die Höhe, von denen einige noch rechtzeitig vor den Spielen fertig sein sollen.

Die Tourismuswerber der Stadt und der Provinz British Columbia feilen parallel dazu an den Details einer internationalen Werbekampagne, die in diesem Herbst starten soll, sobald die Olympischen Spiele in Peking vorüber sind und der Kartenverkauf für die Winterspiele 2010 beginnt. Ihr Ziel: Vancouver und die Bergregion nördlich der Stadt so bekannt zu machen, dass Besucher hier künftig mehr als nur einen kurzen Zwischenstopp auf dem Weg in die populärste Touristenattraktion Kanadas machen, die östlich liegenden Rocky Mountains.

Besonders groß sind die Erwartungen bei den Indianerstämmen, in Kanada „First Nations“ genannt, die hier seit Jahrtausenden leben. Viele tun sich schwer, in der von Europäern und anderen Einwanderern geprägten Gesellschaft Fuß zu fassen. „Die Spiele 2010 sind eine große Chance für uns“, sagt Häuptling Bill Williams beim Rundgang durch das fast fertige Indianer-Kulturzentrum in Whistler. Er hofft, dass die mit den Winterspielen verbundene Aufmerksamkeit den Indianern und ihrer Kultur mehr Wertschätzung bringt. Und er hofft auf neue Jobs für die Nachfahren der Ureinwohner. „Wir ermuntern unsere jungen Menschen, bis 2010 Konzepte zu entwickeln und zum Beispiel Wildführungen und Schneeschuhwanderungen für Touristen anzubieten“, sagt er und berichtet von Schwarzbären und Bergziegen, die in den Bergen rund um Whistler leben – bislang von Ski- oder Mountainbike-Urlaubern meist unentdeckt.

Das neue Kulturzentrum am Fuße der Whistler-Berge kristallisiert die großen Hoffnungen, die die Indianer mit den Winterspielen verbinden. „Wir wollen der Welt zeigen, dass unsere Kultur keine Sache der Vergangenheit ist, sondern lebendig“, sagt Bill Williams. Dann erzählt er von den jährlichen Versammlungen der Squamish und anderer Westküsten-Indianerstämme, bei denen die Teilnehmer mit den wie seit Jahrhunderten aus Baumstämmen geschnitzten Kanus anreisen und eine Woche lang singen, Geschichten austauschen und gemeinsam spirituelle Zeremonien feiern.

Geschichten wie diese sollen Winterspiele-Besucher und Touristen im neuen Kulturzentrum erzählt bekommen. „Das Problem ist, dass die meisten Weißen nicht wissen, wie lebendig unsere Kultur ist“, sagt Häuptling Williams. „Wir sind unsichtbar in unserem eigenen Land.“ Zwar gebe es in Vancouver auf den Straßen und in den Museen traditionelle Totempfähle und andere Kulturgegenstände zu sehen – aber den realen Alltag der Squamish und anderer Westküstenbewohner bekommen Besucher so gut wie nie zu Gesicht. Das soll das Kulturzentrum zumindest ein wenig ändern. Das eineinhalb Hektar große Grundstück dafür haben die Stämme von der Provinz British Columbia gepachtet. Die Baukosten von umgerechnet knapp zehn Millionen Euro kommen zur Hälfte vom Staat, den Rest wollen die Squamish und die Lil’wat durch Spenden zusammenbekommen. 40 Angehörige der beiden Stämme sollen hier künftig Arbeit finden.

Mit ihrem Zugehen auf Touristen und Olympiaorganisatoren grenzen sich diese Gruppen der Westküstenindianer von anderen Vertretern der nordamerikanischen Ureinwohner ab, die, statt zu kooperieren, auf Protest setzen, um sich Gehör zu verschaffen. Mehrere Indianergruppen haben angekündigt, während der Olympischen Spiele zu demonstrieren und vielleicht sogar die Wettkämpfe stören zu wollen. Und erst kürzlich besetzte eine Gruppe von Squamish-Mitgliedern die Büros der Stammesführung in Vancouver aus Protest gegen die Politik der „Marionettenhäuptlinge“. Bill Williams und die übrige gewählte Stammesführung unternehmen nach Ansicht ihrer Kritiker zu wenig gegen die elenden Lebensbedingungen der Squamish, vielmehr gäben sie das Land des Stammes zum Ausverkauf frei. Häuptling Bill Williams will jedoch seinen Weg gehen: „Wir errichten das Kulturzentrum, um zu zeigen, wer wir sind – nicht um die sozialen und rechtlichen Missstände anzuprangern, die unsere Gemeinschaften plagen.“ Den Streit mit der kanadischen Regierung wollen die Squamish anderenorts klären, sagt der Häuptling. Besucher von Whistler und der Gegend um Vancouver wolle man willkommen heißen, ihnen jedoch auch selbstbewusst zeigen: „Ihr seid auf unserem Land.“

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