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Reise: Vehikel zur Natur

21 Ferienorte in den Alpen wollen den Individualverkehr verringern und fördern sanfte Mobilität

Berchtesgaden gehört zu den behaglichsten und ursprünglichsten Feriengemeinden im deutschen Alpenraum. Dass im ehemaligen Klosterstaat nicht alle Register der Erschließung gezogen wurden, ist einer langen Tradition des Naturschutzes zu verdanken, die 1978 zur Gründung des ersten und einzigen deutschen Hochgebirgsnationalparks führte. Weil sich Flora und Fauna möglichst ungestört entwickeln sollen, ist in der Kernzone sogar das Radfahren verboten. Einzige Ausnahme: das Sträßchen durch das Klausbachtal, auf dem im Winter Pferdekutschen unterwegs sind und im Sommer der „Almerlebnisbus“ verkehrt.

Die Szenerie ist atemberaubend: Zur Linken plätschert der Wildbach, zur Rechten recken sich die Ramsauer Dolomiten in den Himmel – steilste Felswände, in denen Steinadler brüten. Da die Trasse für den privaten Autoverkehr gesperrt ist, können wir gemütlich nebeneinander radeln. Und sehr bequem. Denn wir haben keine gewöhnlichen Tourenräder, sondern sogenannte Swiss Flyer – Elektrobikes aus der Schweiz, mit denen selbst heftige Anstiege keine Probleme mehr sind. Die Genialität dieser umweltfreundlichen Vehikel liegt darin, dass sie die Beinarbeit nicht ersetzen, sondern nur verstärken. Tritt man etwas kräftiger in die Pedale, so schaltet sich der geräuschlose Elektroantrieb zu.

Dass es im Berchtesgadener Land „Swiss Flyer“ zu mieten gibt, ist kein Zufall. Schon seit Jahren profiliert sich die abgelegenste Ecke Oberbayerns als Modellregion für sanfte Mobilität. Im vergangenen Jahr bekam die Initiative dann einen neuen Schub: Gemeinsam mit dem Nachbarn Bad Reichenhall schloss sich die Marktgemeinde dem Verein „Alpine Pearls“ an. In diesem Netzwerk „alpiner Perlen“ versammeln sich 21 Ferienorte aus fünf Alpenstaaten, die die Herausforderungen des Klimawandels annehmen und sich in besonderer Weise für den autofreien Urlaub starkmachen: Sie unterstützen sich gegenseitig bei der Verbesserung ihrer Nahverkehrsangebote, organisieren dem Gast die Anreise mit der Bahn und geben ihm an Ort und Stelle eine „Mobilitätsgarantie“. Ohne allzu große Umstände und Kosten soll es ihm nun möglich sein, sich die Region auf genussvolle und zudem umweltfreundliche Art zu erschließen – mit erdgasbetriebenen Shuttlebussen etwa oder mit Bergbahnen, Pferdekutschen und speziellen Elektrofahrzeugen.

Ein einheitliches Konzept haben die weit über den Alpenbogen verstreuten Mitgliedsgemeinden bisher nicht. Mal liegt der Schwerpunkt auf der Erhöhung der Aufenthaltsqualität im Ortszentrum, mal auf der Vereinfachung autofreier Anreisemöglichkeiten. Der „Flyer“ soll nun das erste gemeinsame Markenzeichen werden. Werfenweng, Arosa und Deutschnofen sind dem deutschen Beispiel schon gefolgt und haben sich einige dieser Räder angeschafft. Jetzt wollen auch Villards de Lans, Welschnofen, Ratschings und Interlaken nachziehen.

Ein Hort sanfter Mobilität ist Werfenweng im Salzburger Land. Vor gut zehn Jahren hat der Bürgermeister und jetzige Alpine- Pearls-Präsident Peter Brandauer sein Feriendorf mit einer einfachen Strategie auf die Erfolgsspur zurückgebracht: Wer mit der Bahn kommt oder nach seiner Anreise den Autoschlüssel abgibt, kann einen ganzen Fuhrpark mit Elektrofahrzeugen gratis nutzen.

Für weitere Strecken stehen zwei Toyota Prius mit Hybridantrieb und drei spritzige Elektroroller zur Verfügung. Ausflugsfahrten mit dem Bus sind ebenso frei wie der Transfer zum Bahnhof und ein Taxiservice, der in der Saison bis vier Uhr morgens geboten wird. Am Dorfplatz stehen Solaranlagen, die den Strom für die umweltfreundliche Fahrzeugflotte liefern. Wer „klimaneutrale Ferien“ verbringen will, hat zu Werfenweng kaum eine Alternative.

Bisher haben nicht alle „Alpine Pearls“ schon ein derart ausgeklügeltes Sanftmobilangebot. Vielerorts stöhnt man unter massiven Verkehrsproblemen und ist erst mal mit Schadensbegrenzung beschäftigt. Im französischen Les Gets und im friaulischen Pieve di Cadore etwa. Oder auch in Arosa, das es durch seine Sackgassenlage natürlich einfacher hat, umweltfreundliche Transportlösungen zu finden. Eine knappe Million Logiernächte im Jahr sind hingegen auch eine Hypothek. Sie haben Abhängigkeiten geschaffen, die die „Klimaneutralität“ zu einem nur schwierig einzulösenden Versprechen machen.

Das Gegenstück zur urbanen Welt von Arosa ist Chamois. In der höchstgelegenen Dauersiedlung des italienischen Aosta-Tals stehen nicht einmal hundert Hotelbetten. Chamois ist schon deshalb eine Perle, weil es überhaupt nicht ans Straßennetz angeschlossen ist. Die einzige Verbindung zur Außenwelt besteht in einem Stahlkabel, an dem zwei kleine Kabinenbahnen aufgehängt sind. Schon bei der Auffahrt kommt es zu jener Begegnung zwischen Gästen und Einheimischen, die in autogeprägten Ferienorten kaum noch stattfindet.

In früheren Jahrhunderten musste man die 700 Höhenmeter aus der Talsohle des Valtournanche zu Fuß zurücklegen. Der perfekt erhaltene, sich durch die Felswand windende Saumpfad ist noch heute begehbar. Das Wandern spielt in den Perlengemeinden naturgemäß eine wichtige Rolle. Der Anspruch der transnationalen Tourismuskooperation Europas reicht jedoch weiter. Er reagiert auf einen neuen Trend. Allem Anschein nach wollen immer mehr Menschen in ihrem Urlaub möglichst schnell langsam werden. Im Idealfall beginnt die Erholung dann schon an der Haustür: Wenn man mit Bus oder Taxi zum Bahnhof fährt und dort den reservierten Platz im Zug einnimmt.

In dieser Hinsicht war Bad Reichenhall seiner Zeit weit voraus. Schon seit mehr als zehn Jahren bietet die Stadt attraktive Pauschalen an, bei denen die Zuganreise im Preis enthalten ist. Inzwischen kommt hier jeder dritte Gast mit der Bahn an.

Auskunft: Alpine Pearls, Weng 138, A-5453 Werfenweng; E-Mail: info@al pine-pearls.com; www.alpine-pearls.com

Gerhard Fitzthum

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