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Notre-Dame de Lorette. 42 000 Gräber befinden sich auf dem größten französischen Soldatenfriedhof, nördlich von Arras.

© Bernhard Schulz

Wege der Erinnerung: Kreuze des Krieges

Mehr als 700 Soldatenfriedhöfe zeugen von der Geschichte in Nord-Pas de Calais in Frankreich. Routen verbinden sie.

Hell, beinahe gleißend streicht die tief stehende Sonne über die frisch gebrochenen Schollen eines Feldes im Artois. Hier, zwischen den französischen Städten Lille und Arras, verlief ein Abschnitt der Front des Ersten Weltkriegs, der zu den umkämpftesten des Stellungskrieges zählt. In diese schwere, schwarzbraune Erde, die jetzt in der Sonne glänzt, mussten die Soldaten ihre Schützengräben ausheben. Millionen fanden beiderseits der Front den Tod. Mehr als 700 Soldatenfriedhöfe allein in der Region Nord-Pas de Calais – benannt nach den beiden Departements, die sie bilden – zeugen von dem Geschehen, das später im Titel des Roman-Welterfolgs „Im Westen nichts Neues“ seinen treffend zynischen Ausdruck fand.

Wir sitzen bei Edouard Roose im Auto, beim Tourismuskomitee der Region zuständig für die „Wege der Erinnerung“. Vier „Routen zu Sehenswürdigkeiten und Schauplätzen des Ersten Weltkriegs“ gibt es. Die erste „Die Front“ benannt und vom belgischen Ypern über Arras bis Cambrai führend, zeichnet beide kriegführenden Seiten anhand der Friedhöfe und Mahnmale nach. Ausführlich dargestellt sind sie in einer vorzüglichen Broschüre des Tourismusbüros, die auch aus dem Internet heruntergeladen werden kann. Die zweite Route, die ein wenig weiter östlich verläuft, hat den „Bewegungskrieg und die erste Zeit unter deutscher Besatzung“ zum Thema, die vierte den „Wiederaufbau der zerstörten Gebiete“. Allein der dritte Weg verläuft gänzlich andernorts, entlang der Kanalküste, und hat „Das Küstengebiet als Basis der alliierten Armeen“ zum Gegenstand – gedacht insbesondere für britische Besucher.

Auf Route 1 sind es jetzt, zur kalten Jahreszeit, nur vereinzelte Individualtouristen, die die Gedenkstätten aufsuchen, von denen die größten bis zu 500 000 Interessierte im Jahr zählen. Wenn sich im Sommer 2014 der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Male jährt, wird jedoch ein weit stärkerer Besucherzustrom zu erwarten sein.

Edouard Roose ist Politologe, er hat in Lille studiert, aber der Krieg hat auch ihn eingeholt. Seine Abschlussarbeit schrieb er über den englischen Dichter Wilfred Owen, der 25-jährig am 4. November 1918, genau eine Woche vor dem Waffenstillstand, weit östlich im Departement Nord fiel. Edouard kam im Jahr 2008 beinahe folgerichtig zum Tourismusbüro als Projektleiter „Tourisme du Mémoire“. Er ist jetzt dabei, nach dem Muster der „Wege der Erinnerung“ zum Ersten Weltkrieg vier weitere zum Zweiten zu konzipieren.

Natürlich kennt er die Route des „Front“-Wegs, von der wir kürzere Abschnitte nördlich von Arras näher verfolgen, auswendig, kleine Abweichungen und Abkürzungen inklusive. Erstes Ziel ist das Kanadische Nationaldenkmal von Vimy, das heute noch kanadischen Schulkindern ein Begriff ist. Eine gewaltige Anlage aus weißem Kalkstein, symmetrisch, zwei gut zwanzig Meter hohe Säulen, dazu zwanzig Figuren auf dem ganzen, ausladenden Monument verteilt – das ist der Gedenkstil der zwanziger Jahre, der Heldentum beschwört und die damals so turmhoch gehaltene „nationale Ehre“. In der Tat spielt der Erste Weltkrieg eine enorme Rolle bei der Bildung des eigenständigen kanadischen Staates, weil die Bedeutung der Expeditionstruppen innerhalb der Entente gleich nach dem Krieg zur Eigenstaatlichkeit führte. Das muss man angesichts der Überwältigungskunst dieses Denkmals nicht wissen, aber es erklärt die Dimension.

„Ich hatte einen Kameraden ...“

Ganz anders sieht es wenige Kilometer weiter nördlich aus, wo sich der französische Nationalfriedhof Notre-Dame de Lorette um eine gleichermaßen kalksteinweiße Basilika schart. Es ist der größte französische Soldatenfriedhof überhaupt, letzte Ruhestätte für mehr als 40 000 Gefallene; 22 000 davon sind namentlich unbekannt, die meisten von der Schlacht an dieser Stelle, die die Franzosen gut 100 000 Tote kostete für ein paar Meter Geländegewinn ohne strategischen Wert.

Die christliche Symbolik, darauf macht Edouard aufmerksam, bildet die Ausnahme. Denn die Truppen der Entente, der Franzosen und Briten und ihrer Kolonien, waren, aufs Ganze gesehen, bunt gemischt, national, ethnisch und religiös. Das spiegelt sich in den Friedhofsanlagen. Ein herausragendes Beispiel ist die Indische Gedenkstätte von Richebourg Neuve-Chapelle. Hier wurde im März 1915 ein indisches Korps eingesetzt – und aufgerieben. Die 4047 Gefallenen sind hier bestattet, in einem von Herbert Baker gestalteten Mahnmalsfriedhof, immerhin der Chefarchitekt der Kolonialhauptstadt Neu-Delhi.

Und die deutschen Gefallenen? Ihnen konnten in Feindesland gewiss keine Heldendenkmäler errichtet werden. Wieder näher an Arras heran, findet sich das Gräberfeld von Maison Blanche bei Neuville-Saint-Vaast, der größte deutsche Friedhof in ganz Frankreich. 44 833 Gefallene sind hier bestattet, ein jeder unter einem schlichten dunklen Metallkreuz, unterbrochen hin und wieder von einem Grabstein für einen jüdischen Soldaten; und alle in weiten Reihen in einem schier unendlichen Grasteppich. Die Anlage des Friedhofs organisierte die französische Regierung gleich nach Kriegsende; 1983 wurde die Neugestaltung durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge fertiggestellt. Vom früheren Aussehen kündet ein martialischer Steinblock, auf dessen eine Seite die Anfangszeile von „Ich hatte einen Kameraden ...“ eingemeißelt ist.

Der deutsche Friedhof gehört selbstverständlich zum „Weg der Erinnerung“ dazu. Und auch im nahen Arras, der Hauptstadt der historischen Grafschaft Artois, ist die Geschichte Vergangenheit geworden. An der kurzen Verbindungsstraße zwischen den beiden Hauptplätzen der Stadt sitzen wir mit Isabelle Pilarowski in einem der zahlreichen Restaurants. Die Historikerin leitet die Carrière Wellington, einen 1914 längst aufgelassenen Steinbruch in Arras, in dem sich die britischen Truppen gegen die deutsche Artillerie verschanzten, die die Stadt in Trümmer legte. Vom Steinbruch aus starteten 24 000 Mann im April 1917 einen Überraschungsangriff; heute sind Teile des unterirdischen Tunnelsystems zu besichtigen.

Die Ruinen von Arras stellten bereits unmittelbar nach Kriegsende eine Attraktion dar. Es entstand ein regelrechter Schlachtfeldtourismus. Dann aber beschloss der Stadtrat den Wiederaufbau in historischen Formen, die an den beiden, arkadengesäumten Hauptplätzen allen Hausbesitzern zur Pflicht gemacht wurden. Der mächtige, 75 Meter hohe Belfried überragt den Platz, der seit dem damaligen Krieg den Namen Heldenplatz trägt.

Britische Besucher, so Isabelle Pilarowski, bilden die Mehrzahl der Touristen. Stark vertreten sind auch Besucher aus Kanada, Australien und selbst Neuseeland. Dass dieser Krieg ein Weltkrieg war, ist an den Soldatenfriedhöfen zu begreifen, unter denen es einen polnischen gibt, einen tschechoslowakischen und sogar einen portugiesischen, den einzigen dieses Krieges überhaupt. Und alle kämpften in dieser Landschaft, die in der dunklen Jahreszeit selbst dann von einer leisen Schwermut gedrückt wird, wenn die Sonne so hell scheint wie in diesen Tagen.

Nähere Informationen im Internet: wegedererinnerung-nordfrankreich.com

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