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Russland: Das Land, aus dem die Kälte kommt

Leuchtreklamen und Aufzüge werden abgeschaltet, weil die Kraftwerke nicht mehr hinterherkommen. Moskau friert ein - und am härtesten trifft es die Obdachlosen: eine Nacht auf der Straße.

Moskau - Anton Koschelew kennt jeden noch so kleinen Winkel am Leningrader Bahnhof. "Manchmal schlafen sie sogar hier", sagt der 22-Jährige und zeigt auf einen Lüftungsschacht direkt vor dem Bahnhofseingang. "Das heißt, solange die Miliz sie lässt", schränkt er ein. Schnellen Schrittes läuft er eine Unterführung entlang.

Koschelew ist diese Nacht mit drei Kollegen als kirchlicher Sozialarbeiter unterwegs. Auf der Suche nach denjenigen, denen sonst keiner mehr hilft. "Miloserdie", auf Deutsch "Barmherzigkeit" steht in roten Buchstaben auf Antons blauem Overall. Im Auftrag der russisch-orthodoxen Kirche klappern drei Männer und eine Frau die Moskauer Bahnhöfe und umliegende Unterführungen ab auf der Suche nach Obdachlosen, die bei diesen Temperaturen den nächsten Morgen ohne Hilfe nicht erleben würden. Halb erfrorene Menschen laden sie in ihren Bus. Für die, in denen noch ein Hauch Leben steckt, gibt es heißen Tee, eine warme Suppe oder auch ein warmes Kleidungsstück.

Samstagnacht, minus 25 Grad zeigt das Thermometer. Doch das Tückische am Moskauer Frost ist nicht die Temperatur allein: Die hohe Luftfeuchtigkeit und eine Windgeschwindigkeit von sieben Meter pro Sekunde verstärken die gefühlte Kälte auf unter minus 44 Grad. "Wer bei diesem Klima draußen liegt, dem bleibt nur wenig Zeit", sagt Koschelew und wirft einen Blick in eine dunkle Ecke einer Unterführung. "Nach einigen Minuten frieren Füße und Hände ein." Und dann - je nach körperlicher Verfassung - kann es ganz schnell gehen.

Die Kälte hat etwas Unheimliches: Schon nach den ersten Schritten durch die Moskauer Nacht gefrieren die Nasenschleimhäute, ein Gefühl als habe man Klebstoff in der Nase. Noch in den Handschuhen werden die Finger steif. Der Frost frisst sich unter die Haut. Jede Nacht erfrieren mindestens fünf Obdachlose. Gäbe es nicht den kirchlichen Sozialdienst "Barmherzigkeit", es wären sicher mehr. Am Ende der Unterführung sitzt ein Häuflein Mensch unter einem Berg von Decken. "Das ist Galja", sagt Koschelew im Vorübergehen und ohne das Häuflein näher zu beachten. Sie sitze jede Nacht hier und verweigere sich jeder Hilfe. "Nitschewo" - macht nichts -, sagt Anton. "Sie wird auch diese Nacht überleben. Wie, ist mir allerdings ein Rätsel."

Mindestens 80 Tote soll die Kältewelle im ganzen Land bislang gefordert haben. So weit die offizielle Statistik, doch die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Moskau geht in die zweite Kältewoche, und ein Ansteigen der Temperaturen ist zumindest in den nächsten Tagen nicht in Sicht. Russland erlebt einen Rekordwinter. Zuletzt war es im Winter 1978/79 so kalt. Doch nicht die tiefen Temperaturen, sondern die Länge der Frostperiode macht den Behörden Sorgen: Denn ausgerechnet das Land mit den größten Rohstoffreserven droht einzufrieren. Langsam und zuerst an den Rändern.

In vielen entlegenen Regionen haben marode Heiz- und Stromwerke den Kampf gegen den sibirischen Frost bereits verloren. Bilder von geplatzten Heizungsrohren in Dörfern und Schlafzimmer, in denen wie in der Gefriertruhe das Eis zentimeterdick an den Wänden hängt, gehen jeden Abend über die Fernsehsender. Noch erleben die Moskauer den wahren Kälteschock ohne Gas, Strom oder Heizung nur in den Fernsehnachrichten. Noch. In der Kleinstadt Tomilino, im Moskauer Umland, waren am Donnerstag zwei Heizkessel im örtlichen Wärmekraftwerk wegen Überbelastung geplatzt. Drei Tage mussten rund 8000 Bewohner in ihren völlig ausgekühlten Wohnungen ausharren.

Wo Strom oder Fernwärme ausfallen oder nicht ausreichen, versuchen die Menschen mit dem voll eingeschalteten Gasherd in der Küche zu heizen. Seit Tagen schon arbeitet die Stromversorgung in der Hauptstadt an der Kapazitätsgrenze. Täglich verbraucht die Zwölf-Millionen-Metropole Rekordmengen von 15 000 Megawatt. Die Hauptsorge der Behörden ist nun, dass sich die Katastrophe vom Mai 2005 wiederholt, als der Brand in einem Umspannwerk eine Kettenreaktion auslöste und halb Moskau für einen ganzen Tag ohne Strom war. Die Gefahr ist durchaus real, denn die meisten Umspannwerke haben 80 oder mehr Dienstjahre auf dem Buckel. Einzelne Werke müssen bereits um ein Viertel über der Norm arbeiten. Ein Wunder eigentlich, dass es in Moskau bislang noch keine Pannen zu vermelden gibt. Um Strom zu sparen, ließ Bürgermeister Juri Luschkow in den niedrigen Wohnhäusern die Aufzüge vom Stromnetz abklemmen. Für rund 200 Unternehmen verhängte er Stromsperren.

Eindringlich appelliert der Bürgermeister an die Moskauer, auch an diesem Montag und Dienstag nicht zu arbeiten. Viele Leuchtreklamen am Puschkin-Platz und der Ausfallstraße Arbat bleiben inzwischen dunkel. Doch von einer Katastrophenstimmung ist die Hauptstadt weit entfernt. Die Menschen fügen sich in ihr Schicksal. Die sonst so hektische Metropole hat ihren Pulsschlag deutlich verlangsamt. Da viele Autos inzwischen nicht mehr anspringen, ist auch der Verkehr merklich entlastet.

Mitternacht am Weißrussischen Bahnhof. Vor dem Bus drängen sich Obdachlose. Frauen und Männer, die aussehen wie das Lumpenproletariat zu Beginn der Industrialisierung. Ein Fäkaliengeruch zieht durch die Tür. Alle wollen in den Bus, doch Anton Koschelew und seine Kollegen bleiben hart. Mitfahren bis zum Morgen dürfen nur diejenigen, die keine Kraft mehr haben. Im Bus erhalten sie erste Hilfe und können sich aufwärmen, am Morgen werden sie Ärzten übergeben. Für die anderen armen Seelen, die nicht mitkönnen, gibt es Suppe, Brot und Tee, aber keinen Platz im warmen Bus. "Wenn wir alle mitnehmen wollten, bräuchten wir einen ganzen Zug und hätten noch immer nicht genug Platz." Noch sind erst vier von 17 Plätzen besetzt. Drei Frauen und ein Mann schlafen im Bus ihren Rausch aus. Doch die Nacht ist noch lang, und die Lebensretter in Gottes Namen haben noch vier Bahnhöfe vor sich. In diesen extremen Frosttagen stoßen sie auf ihren Kontrollgängen auf weniger schwere Fälle als üblich.

"Viele Obdachlose suchen und finden irgendwo einen halbwegs geschützten Platz", erklärt Koschelew. Zu Beginn der Frostwelle hat Bürgermeister Luschkow die Miliz angewiesen, die Obdachlosen nicht - wie sonst üblich - aus den Bahnhöfen zu jagen. Allein in der Halle des Kursker Bahnhofs campieren nun hunderte. Noch lässt die Miliz sie in Ruhe, doch sobald die Temperaturen wieder auf minus zehn Grad steigen, wird die Miliz sie verjagen. (Von Stephan Hille, Moskau)

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