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Vorgefahren. Vom ersten Trabi, den er sah, schuf Christian Overbeck eine exakte Kopie. „Eine Würdigung“, sagt er.

© Torsten Hampel

Sammlerleidenschaft: Der letzte Wagenaufheber

Als am 30. April 1991 der letzte Trabi vom Band rollte, war Christian Overbeck fünf Jahre alt. Er beschloss, sich dem Vergessenwerden dieses Autos entgegenzustellen.

Der Moment, in dem jene Eigenart von Christian Overbecks Gedanken Besitz ergriff, oder von seinem Herzen, ist bestens dokumentiert. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein zusammengehefteter, aufgeschlagener Stapel Klarsichthüllen, in jeder Klarsichthülle steckt ein weißer DIN-A-4-Bogen, und auf jedem DIN-A-4-Bogen sind zwei oder drei oder vier Fotos mit Klebeecken befestigt. Overbeck schaut gerade auf ein Bild, auf dem ein hellblau gekleideter Junge traurig einem hellblauen, an ihm vorüberfahrenden Trabant nachblickt.

Der Junge auf dem Foto ist er. Viereinhalb Jahre alt und mit hängenden Armen steht er am Rand einer unbefestigten, braunen Straße vor braunen Häusern, er wäre gern in dem Trabant mitgefahren. Noch nie zuvor hatte er einen gesehen.

Der Mann am Lenkrad, Overbecks Vater, hatte wohl sein Handzeichen nicht bemerkt.

Das Foto ist vor 21 Jahren gemacht worden, aufgenommen zu Ostern 1990 bei einem Besuch der BRD-Familie Overbeck in der DDR. Hellblau vor Braun im Licht einer tief stehenden Sonne, und man könnte sagen, die Kleidung des Jungen und die Farbe des Autos sind das einzig Freundliche auf dem Bild. Man könnte aber auch sagen, sie entsprechen genau der Farbe dessen, was aus einem Trabant-Auspuff herauskommt.

Das jedenfalls, das Überkommene der Kraftstoffverbrennung und der gesamten Konstruktion zusammen mit einer ausreichenden Sättigung des Marktes mit diesem Produkt führten ein Jahr später, am 30. April 1991, dazu, dass die Trabant-Herstellung beendet wurde. Es wollte niemand mehr einen haben. Der Junge Christian Overbeck aber, an diesem Tag vor 20 Jahren mittlerweile fünfeinhalb, geboren und aufwachsend im nordrhein-westfälischen Hochsauerlandkreis, wollte einen. Er würde sich dem beginnenden Vergessenwerden dieses Autos entgegenstellen. Er hatte bereits damit angefangen. Christian Overbeck ist jetzt 25, er hat eine Ausbildung zum Physikalisch-technischen Assistenten hinter sich und arbeitet bei der Firma Hoppe AG, wo er im Schichtbetrieb eine Maschine bedient, die Fenstergriffe zusammenbaut. Er lebt immer noch im Hochsauerlandkreis, in der Stadt Winterberg. Dortmund liegt 100 Straßenkilometer entfernt im Westen, Kassel 100 im Osten, im Norden ist Paderborn und im Süden Gießen. Sie haben eine Sprungschanze hier und eine Bobbahn.

Overbeck ist vom Tisch aufgestanden, ein mittelgroßer junger Mann in T-Shirt und Jeans, die kurz unter den Knien aufhören. Darunter kommen Waden und Turnschuhe, und jetzt steht er auf dem Balkon seiner Wohnung und blickt auf die Häuser gegenüber, als müsste er dort etwas suchen. Die Häuser gegenüber sind wie alle Häuser in Winterberg reinweiß, mit Dächern und Giebeln aus Schiefer. Overbeck sagt, er könne nicht mehr sagen, was damals genau passierte, was er dachte, was er fühlte. Es ist lange her, und er war klein. „Ich weiß nur noch, dass dieses Auto anders war als die, die ich kannte, das habe ich bemerkt“, sagt er. Er kannte damals vor allem den VW Passat Kombi, das war das Familienauto, und die W123er Baureihe von Mercedes. Das waren die Taxis, die sein Vater nebenher fuhr. Und dann sagt er noch einmal: „Der Trabant war anders.“

Anders in dem Sinne: „Ein vernünftiges Auto soll seinen Besitzer überallhin transportieren – außer auf den Jahrmarkt der Eitelkeiten“ (Henry Ford aus Detroit)? Oder meint er eher so etwas wie die angeberische Behauptung von Unangepasstheit, gepaart mit ein wenig Freiheitsdingsbums: „Komm fahr mit mir im Trabi durch die Welt, ich glaube sicherlich, dass dir das gut gefällt. Pfeifst du wie ich auch mal auf Gut und Geld, dann fahr mit mir im Trabi durch die Welt“ (Karsten R. Lückemeyer, „Der singende Autohändler“ aus Dessau-Mosigkau)?

„Ich weiß es einfach nicht mehr“, sagt Overbeck.

Er muss damals dermaßen oft von dem Auto gesprochen haben, dass er umgehend einen Spielzeugtrabi geschenkt bekam. Jedes Jahr, anlässlich der Besuche der Familie Overbeck bei der befreundeten, den hellblauen Trabant besitzenden Familie Karakulin in Ostdeutschland, kamen welche dazu. Der kleine Overbeck zeichnete daheim auf dem Computer Tabellen, druckte sie auf dem Nadeldrucker aus und malte dann sauber getrennt nach Farbe, Typ und Hin- und Rückfahrt Striche ein. Trabant-Sichtungen auf den Touren von Winterberg nach Röblingen in Sachsen-Anhalt und zurück.

Eine dieser Listen besitzt Overbeck noch. 79 hellblaue, 88 beigefarbene, 19 grüne in der Limousinenversion zählte er da, es muss so um 1998, 1999 herum gewesen sein. Kombis sah er zwölf in Hellblau, 39 in Beige, neun in Grün. In den Jahren zuvor, so erinnert sich Overbeck, hatte er deutlich mehr Striche in seine Tabellen machen müssen.

Obwohl es oberflächlich betrachtet den gegenteiligen Eindruck machte, begann der Trabant damals ziemlich schnell zu verschwinden. Die Kinofilme „Go Trabi Go“ und „Go Trabi Go 2“ waren in der Zwischenzeit gedreht worden und die Rockband U2 hatte mit bis zu elf Trabants im Bühnenbild eine Tournee um die Welt gemacht. Er war auf die Ostseite eines übrig gebliebenen Stücks der Berliner Mauer gemalt worden, das Bild wurde berühmt und zum Postkartenmotiv. Es gab Trabant-Wetten bei „Wetten, dass ...?“. Das Auto war im Unterhaltungskulturbetrieb sehr gegenwärtig, auf den Straßen wurde es naturgemäß seltener. 1999 waren noch 228 000 Trabant zugelassen, in Hunderttausenderschritten waren es bis dahin Jahr für Jahr weniger geworden. Ungefähr 300 pro Tag. Auch der hellblaue Wagen der Familie Karakulin aus Röblingen war dabei, sie fuhr jetzt Mitsubishi.

Christian Overbeck kompensierte das nach Kräften. Auf drei Regalböden in seinem Kinderzimmer standen nun Modelltrabanten. „Irgendwann hatte ich dann Modelle in allen Farben“, sagt er. „Was mir noch fehlte, das war ein Kombi mit Aufziehmotor. Ich hab lange danach gesucht, in keinem Laden hatten sie welche, aber irgendwann hat es dann geklappt. Vermutlich beim Saurierpark Kleinwelka bei Bautzen.“

Der Junge besaß ein Trabant-Lenkrad, das er immer mitnahm, wenn er zu seinem Vater ins Auto stieg. Er hatte ein Abonnement der Zeitschrift „Super-Trabi“. Er schrieb an den singenden Autohändler aus Dessau, der auf Trabantfahrertreffen Trabantlieder vortrug. Die Röblinger Familie besorgte ihm für 300 Mark eine Trabantruine mit einem Wespennest am Kofferraum. Da war Overbeck 15.

Er hat sich wieder an den Tisch gesetzt. Ein junger Mann, der weder den DDR-Autoalltag noch das geteilte Deutschland erlebt hat. Der seine Freizeit einer Sache widmet, von deren Ursprung er zwar ein Foto hat, aber kaum eine Erinnerung daran.

Er sitzt hier wie ein Fremder. Er spricht klare Sätze, ohne Übertreibungen und ohne Ergriffenheit, er vermeidet die Worte „Kult“ und „Liebe“, er ist völlig bei Verstand. So sehr, dass es wirkt, als habe er vor allem Abstand zu dem, was er da tut. Als sei diese Wohnung nicht seine, diese Sammlung von Modellen aller in der DDR je gebauten Autos in der Vitrine, das Trabant-Poster über dem Sofa und diese Mini-Bibliothek mit den Büchern „Trabbi – die Legende lebt“, „Trabant. Legende auf Rädern“, „Der Trabant“, „Trabi“, „Wir und unser Trabant“, „Die Trabi-Story“. Das „Fahrzeuglexikon Trabant“ steht da sogar zweimal.

Vielleicht ist es ja so, dass Christian Overbeck einfach nur diesem Jungen auf die Spur kommen will. Dem Jungen von Ostern 1990. Vielleicht sind diese ganzen Trabants in seinem Leben seitdem nichts anderes als ein Mittel zu diesem Zweck.

Darüber ist ihm aber vor allem die DDR geläufig geworden. Auf dem Tisch liegt nun ein Aktenordner. Wieder DIN-A-4-Bögen, wieder Klarsichthüllen und Klebeecken, mit sauber abgehefteten Trabant-Messeprospekten und Trabant-Kaufverträgen, mit zwei Exemplaren der „Qualitätsurkunde Meine Hand für mein Produkt“ und dem automobilen Teil der Lebensgeschichte eines Herrn Lehmann aus Karl-Marx-Stadt. Zum Beispiel gibt es da Herrn Lehmanns Trabant-Bestellformular, vergilbt und mürbe, vom 8. Juni 1971, umgewandelt in eines für einen Skoda, später in eines für einen Lada 21011. Auf der nächsten Seite ist ein Brief abgeheftet. „Werter Herr Lehmann! Hierdurch möchten wir Sie bitten, bei uns am 23.5.1980, 11 Uhr, mit Ihren Bestellunterlagen zwecks Kaufvertragsabschluss vorzusprechen. Mit sozialistischem Gruß“, Stempel „VEB IFA-Vertrieb Karl-Marx-Stadt, Sitz Zwickau“, Unterschrift. Es folgt der Kaufvertrag, „Grundpreis 21 000,- Mark“, plus 122 Mark für die Sicherheitsgurte.

Der Trabant, den Overbeck seit 2009 besitzt, es ist sein dritter, hat ihn 2450 Euro gekostet. Gebaut 1986, Grundpreis damals 8050 Mark. Er hat Kaufverträge anderer Trabanten aus diesen Jahren, aus denen hervorgeht, dass zum Grundpreis noch eine nicht näher bezeichnete „Gebrauchswerterhöhung“ dazukam, oder ebenso nicht näher bezeichnete „serienmäßige Verbesserungen“. Am Ende kosteten die Wagen 9000 bis 12 000 Mark.

Overbeck hatte das Auto im Internet gefunden. Hellblau, also „Delphingrau“, in gutem Zustand. Es sollte die Krönung seiner Trabantkollektion werden, es sollte so werden wie jenes von Ostern 1990 in Röblingen. Es fehlten nur noch die individuellen Verbesserungen. Folgendes musste beschafft und eingebaut werden:

– zwei Seitenblinker vom 1200er Lada

– zwei braune Kunstlederaufsteckkopfstützen

– braun gemusterte Schonbezüge

– zwei Nebelscheinwerfer mit Plastikgitter davor

– Nebelschlussleuchte und Rückfahrscheinwerfer

– vier Gummistoßhörner an den Stoßstangen

–Schmutzfänger hinter den Vorderrädern

– Türkantenschoner vom VEB Berlinplast

Eine zumindest äußerlich fast exakte Kopie entstand. Fertiggestellt und mit dem DDR-Nummernschild der Familie Karakulin versehen im Spätsommer 2010, als noch 31 000 Trabant-Exemplare für die deutschen Straßen zugelassen waren. Ein Hundertstel aller 3 096 099, die insgesamt, von 1957 bis 1991, gebaut worden sind.

Ist Overbeck jetzt am Ziel? „Irgendwie schon“, sagt er. Die Modelle, die Sammelei, 20 Jahre Dauerbeschäftigung mit den DDR-Autos, „der Wagen damals hat das alles ausgelöst“, sagt er. „Das wollte ich würdigen.“

Als er fertig war damit, hatte er noch die Idee, damit herumzufahren sei nun etwas ganz Besonderes. Aber so sei es dann eigentlich gar nicht gewesen. Warum? „Weil es einfach nicht mehr so ist wie damals. Weil es nicht dasselbe Auto ist. Und weil ich kein kleiner Junge mehr bin.“

Er sagt diese drei Sätze, schlägt die Klarsichthüllenstapel zu und blickt auf. Er sieht dabei kein bisschen so traurig aus wie der Viereinhalbjährige auf dem Foto.

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