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Panorama: Scharfe Sache

Etwa 4000 Stunden verbringt ein Mann in seinem Leben mit dem Rasieren. Das ist bei manchem erheblich mehr als er in sein Liebesleben investiert, oder in Hausarbeit.

Von Andreas Oswald

Etwa 4000 Stunden verbringt ein Mann in seinem Leben mit dem Rasieren. Das ist bei manchem erheblich mehr als er in sein Liebesleben investiert, oder in Hausarbeit. Was bringt einen Mann dazu, jeden Morgen in dämmrigem Zustand zu einem scharfen Schneidegerät zu greifen und damit durch sein Gesicht zu fahren? Für seine Frau tut er das bestimmt nicht. Die wird er frühestens am Abend wieder küssen und dann ist er wieder kratzig. Nein, er tut es jeden Morgen, weil er es immer morgens tut.

Es gab schon immer einige Männer, die sich nur abends rasiert haben. Das waren diejenigen, die es wirklich für die Frau taten. Aber das waren nur wenige. Gestiegen ist in den letzten beiden Jahren aber die Zahl derjenigen, die sich morgends und abends rasieren. Möglich wird dies durch neuartige Rasierer wie den "Mach 3" von Gillette, der die Haut schonend behandelt und Blutungen verhindert. Er hat drei Klingen und zudem eine porenverschließende Substanz, die er bei Feuchtigkeit freigibt. Mit der guten alten Gillette-Rasierklinge hingegen - das ist die, die zwei Schnittstellen hat und die Generationen von Männern verwendet haben - gäbe es ein Blutbad, wollte sich der Mann zweimal am Tag rasieren.

Diese alte, beidseitig verwendbare Rasierklinge verschwindet zusehends aus den Badezimmern. Damit stirbt eine Einrichtung aus, die als Meilenstein in der männlichen Hygiene gilt. Ihr Erfinder, King Champ Gillette, gilt als einer der großen Industriepioniere der Geschichte. Der Kapitalist hatte als sozialistischer Visionär begonnen, der ein Paradies auf Erden schaffen wollte und dazu 1894 einen architektonischen Entwurf für eine "Metropolis" veröffentlichte, die 60 Millionen Menschen beherbergen sollte.

"The Human Drift" hieß das Werk. Diese Idealvorstellung eines harmonischen kollektiven Zusammenlebens von abermillionen von Menschen wollte Gillette durch eine Perfektionierung des Warenflusses erreichen. Seine "Revolution" sollte aber weniger aus einem Klassenkampf hervorgehen, sondern aus einer "United Stock Company", einer Art "guten Aktiengesellschaft", die alles perfekt organisiert und die Nachteile des Kapitalismus vermeidet. Es war ein gedankliches Konglomerat aus den vertriebstechnischen Ideen der großen Chicagoer Warenversandhäuser und der berühmten Fleischfabriken, gemischt mit dem Gedankengut von Karl Marx, oder Frühsozialisten wie Charles Fourier sowie den städtebaulichen Tendenzen im seinerzeitigen Chicago mit der Weltausstellung und der "Chicago School of Architecture". Er sah eine Megastadt vor sich, wie sie vielleicht erst Fritz Lang in seinem Film "Metropolis" visualisierte. Diese Stadt sollte zwischen Erie- und Ontario-See liegen und die Niagara-Fälle als Energielieferant nutzen.

Die Form seiner Rasierklinge, die man sich jahrzehntelang gar nicht anders vorstellen konnte, entsprach seinem Grundrissentwurf einee Idealwohnung für eine Familie (siehe nebenstehenden Entwurf). Gillette machte sich bis ins Detail Gedanken darüber, wie die Menschen in seinem Paradies leben sollten. In jedem seiner Hochhaustürme sollten 40 000 Menschen wohnen, die nach seinen Vorstellungen eines Wohlfahrtsstaates perfekt versorgt sein sollten.

Die Erfindung des klassischen Sicherheitsrasierers, der 1901 in die Produktion ging, entsprach Gillettes Vorstellung von Hygiene, Ordnung und Freiheit. Die Männer waren erstmals befreit vom Gang zum Barbier. Und sie mussten sich nicht mehr mit stumpfen Rasiermessern den Bart abrasieren. 1904 bekam Gillette sein Patent und verkaufte im folgenden Jahr 90 000 Apparate und 1,2 Millionen Klingen. Den Durchbruch brachte der 1. Weltkrieg, als die Soldaten auf Selbstrasur angewiesen waren. Anschließend ließen die Männer nicht mehr davon ab. Angeblich war der Anstoß für die Erfindung der Ärger über eine stumpfe Rasierklinge. Bei allen Beglückungsvisionen, die Gillette gehabt hat, ist aber nicht ausgeschlossen, dass er auch die Vision persönlichen Reichtums gehabt haben mag. So wird kolportiert, dass der Erfinder des Kronkorkens, William Painter, ihm gesagt haben soll, man könne nur dann richtig Geld verdienen, wenn man einen Gebrauchsartikel produziert, der nach dem Benutzen weggeworfen wird.

Die neue Klingel war so eingefasst, dass sie sicherer an der Haut entlang geführt werden konnte. Die heutigen Modelle "Mach 3" oder - für Frauen - "Venus", die millionenfach in Berlin hergestellt werden, gelten als weiterer Meilenstein hin zu einer schonenden Rasur. Diese neuen Rasierapparate werden zunehmend auch von Frauen benutzt, weil sie schonend für die Beine und die Achseln sind. In dieser Hinsicht ziehen auch die Männer nach. Immer mehr rasieren sich unter den Achseln und das betrifft nicht nur die Schwulen. Immer mehr in Mode kommt bei Männern wie bei Frauen die Teilrasur im Intimbereich. Das sieht besser aus und kitzelt den Partner nicht so in der Nase.

Derweil sterben die alten Rasierklingen langsam immer mehr aus. Wer einmal das Neue probiert hat, kehrt nicht mehr zum Alten zurück. "Liebhaber bleiben bei den alten Klingen", sagt Gillette-Sprecherin Ute Kempf-Uhlig.

Tatsächlich: Wer von seiner Freundin einen alten Art-Deco-Nassrasierapparat geschenkt bekommt, nimmt gerne die alten Klingen in Kauf. Aber nicht jeder Mann hat eine Freundin, die ihm einen Art-Deco-Nassrasierapparat zu Weihnachten schenkt.

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