zum Hauptinhalt

Schweinegrippe: Vorsicht, Pandemie!

Seit Wochen breitet sich das H1N1-Virus aus. Jetzt nennt die WHO die Amerikagrippe weltweite Seuche. An der Situation ändert sich wenig. Warum herrscht dann Höchstalarm?

"Die Welt steht am Beginn der Influenzapandemie 2009", sagte die WHO-Generaldirektorin Margaret Chan am Donnerstagabend fast schon beschwörend. "Wir sind zusammen in dieser Lage und wir werden dies durchstehen, zusammen." Sie sprach über die als Schweinegrippe bekannt gewordene Influenza, ausgelöst durch den neuartigen Erreger H1N1.

Wer den Worten der Frau an der Spitze der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lauschte, erlebte unfreiwillig ein Déjà vu. Denn grundsätzlich Neues gab es eigentlich nicht zu berichten. Pardon, eine Neuigkeit war dabei: Schließlich befindet sich die Welt nun auch offiziell in einer Pandemie, im Griff einer den Erdball umspannenden Grippe.

Inoffiziell war das schon seit Wochen mehr oder minder bekannt. So erscheint die gestrige Hochstufung der Warnphase von fünf auf sechs zunächst nur konsequent. Drei Gründe nannte Chan für diese Entscheidung: "Das Virus ist ansteckend, überträgt sich leicht von einer Person zur anderen und von einem Land zum nächsten." Diese Informationen sind nicht neu. Die gestrige Erklärung der WHO offenbart deshalb etwas ganz anderes. Sie zeigt, dass die Organisation selbst nicht genau weiß, was eine Pandemie ist.

Doch erst einmal ist die viel drängendere Frage: Was ändert sich durch die höchste Warnstufe? Laut dem "weltweiten Influenza-Vorbereitungsplan" der WHO ist die sogenannte pandemische Periode wie folgt definiert: Es sind Infektionen durch einen neuen Grippesubtyp aufgetreten, die durch eine "gesteigerte und anhaltenden Übertragung in der breiten Öffentlichkeit" gekennzeichnet sind. Der Plan sieht für diesen Fall eine "bedeutende Veränderung" in der weltweiten Überwachung und "Antwortstrategie" vor, denn, so heißt es weiter: Das Risiko einer Pandemie sei nun "immanent für alle Länder." Doch was heißt das konkret?

"Die WHO empfiehlt weiterhin weder Reisebeschränkungen noch Grenzschließungen", sagte Generaldirektorin Chan. Nichts Neues. "Länder mit keinen oder nur wenigen Fällen sollten wachsam sein." Das waren sie auch schon vorher. Und schließlich: "Länder mit ausgedehnter Übertragungsrate sollen sich auf angemessene Maßnahmen bei der Patientenbehandlung konzentrieren." Auch das wird bereits getan. Antivirale Medikamente werden verteilt und selbst die Impfstoffproduktion ist bereits vereinzelt angelaufen. Eine deutliche Empfehlung für die großflächige Herstellung einer Vakzine blieb gestern aus. Erste Dosen werden allerdings ohnehin im Herbst bereitstehen. Was also ist der Grund für Warnstufe sechs?

Die WHO und ihre Experten haben offensichtlich Probleme, eine Pandemie zu definieren. Das kann ihnen noch nicht einmal verübelt werden. Schließlich wurde das aktuelle sechstufige Warnsystem 2005 vor dem Hintergrund der Vogelgrippe, ausgelöst durch den Erregertyp H5N1, entwickelt. Die hatte, wenn sie denn vereinzelt auf den Menschen übersprang, eine Sterblichkeitsrate von etwa 60 Prozent, schreibt etwa die New York Times.

Mit der aktuellen Amerikagrippe steckt man nun in einem Dilemma. Zwar verbreitet sich H1N1 von Land zu Land sowie kontinentübergreifend. Auch ist das Virus laut WHO ansteckender als die saisonale Grippe. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Erkrankung verläuft bei weitem nicht so schwer wie befürchtet. Gerade einmal zwei Prozent der Infizierten leiden unter lebensgefährlichen Lungentzündungen, erklärte die WHO-Generaldirektorin gestern Abend. Die "überwältigende Mehrheit" der Patienten zeige hingegen milde Symptome und würde rasch genesen, "zumeist auch ohne jegliche medizinische Behandlung."

Als ein Journalist auf der Konferenz nachhakte, wie man denn nun auf die neue Einstufung gekommen sei, wich Margaret Chan aus. Sowohl das Notfallkomittee der WHO, das extra für die Amerikagrippe einberufen wurde als auch Experten aus den WHO-Mitgliedsstaaten hätten die vorliegende Beweislage genau geprüft. Anschließend sei man zu einem Konsens gekommen. Dass allerdings nicht alle Beteiligten glücklich mit der Entscheidung waren, zeigt eine Aussage des Vizedirektors der WHO, Keiji Fukuda, in der New York Times vom 23. Mai. Hier wird zunächst berichtet, dass die WHO plane, die Regeln für die Einstufung einer weltweiten Seuche zu ändern. Ein entscheidendes Kriterium für eine Pandemie solle laut Fukuda sein, dass ein "beträchtliches Gefährdungsrisiko für den Menschen" von einer Pandemie ausgehen müsse, damit sie als solche gelte.

Ein Kennzeichen, das derzeit im Falle der als  Schweinegrippe bekannt gewordenen Influenza augenscheinlich nicht greift. So ist die saisonale Grippe, die alljährlich ihren Streifzug über die Kontinente antritt, gefährlicher. Hierzulande sterben an ihr jede Saison zwischen 8000 und 11.000 Menschen. Auch als die WHO zuletzt eine Pandemie ausrief, im Jahr 1968, war die Situation ungleich dramatischer. Damals starben an der Honkonggrippe mehr als eine Million Menschen. Die Amerikagrippe verlief hingegen bislang bei etwas mehr als 140 Menschen tödlich und infizierte rund 30.000 weltweit.

Auch in Deutschland herrscht keine Pandemie. Dass mehr als 30 Kinder der japanischen Schule in Düsseldorf an H1N1 angesteckt haben, vermittelt den Menschen in Deutschland den verzerrten Eindruck, hier passiere etwas Unkontrollierbares. Zudem tauchen vermehrt Meldungen auf, nach denen die nationalen Notfallpläne nun anlaufen würden. Das ist Unsinn, sie sind bereits im Gang, und das mit Erfolg. Medikamente werden eingelagert, und auch die WHO hat bereits Arzneimittel an Entwicklungsländer verteilt.

Sicher besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass die Amerikagrippe sich verändert und schwerer verläuft als bisher. Das liegt in der Natur der Grippeerreger, die sich ständig wandeln können. So ist auch die Warnung des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Jörg Hacker, verständlich, der weiter zur Vorsicht aufruft. Auch die Mahnung des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon ist richtig, dass die Gefahr besteht, dass die Influenza gerade in Entwicklungsländern schwerer verlaufen könnte. Bislang breitet sich H1N1 zumeist in Ländern aus, die über ein grundsätzlich funktionierendes Gesundheitssystem verfügen.

Dennoch bleibt festzuhalten: Dem Virus H1N1 gebührt weiterhin unser aller Aufmerksamkeit. Die Welt hat bereits bewiesen, dass sie besonnen auf eine mögliche Pandemie reagieren kann und vorbereitet ist. Ob eine Warnstufe sechs, die auch aus Gründen der mangelhaften Definition des Begriffs "Pandemie" eingetreten ist, Panik vermeidet, ist fraglich.

Generaldirektorin Chan warnte denn auch vor Überreaktionen. Sie sei zudem zuversichtlich, dass alle Länder, die gewisse Verbote verhängt haben, diese wieder aufhöben. Sicher meinte sie damit auch die nicht nachzuvollziehende Reaktion Ägyptens nach dem Auftreten der ersten Fälle von H1N1. Hier wurde angeordnet, praktisch den gesamten Schweinebestand zu keulen.

Niemand kann den weiteren Verlauf der Amerikagrippe vorhersagen. Die Welt muss weiter wachsam sein

ZEIT ONLINE

Sven Stockrahm

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false