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Wurst

© Promo

Schweiz: Alpenglühen

Am Mittwoch brennt die Schweiz: Der 1. August ist Nationalfeiertag, und dann macht sich das ganze Land über Würste her. Auf dieses Kulturgut sind sie dort stolz wie auf Käse und Schokolade. Hier der Beweis!

Der Sternen Grill und sein Logo. Zur knusprigen St. Galler Bratwurst gehört in Zürich ein extra scharfer Meerettichsenf und ein krachendes Gold-Bürli. Fotos: Promo

Die beste Bratwurst ihres Lebens hat sie in Zürich gegessen. Und das soll was heißen, denn dieses Leben ist schon 65 Jahre alt, und in der Welt rumgekommen ist die Amerikanerin auch. Aber so hat Barbra Streisand es kürzlich Tausenden von Menschen bei ihrem Konzert in Zürich verkündet: Diese Wurst habe sie im Zeughauskeller gegessen. Ob sie wirklich da war, weiß niemand so genau, nicht einmal der Wirt hat den Star bemerkt. „Sie kam sehr inkognito.“

Der Zeughauskeller, der gar kein Keller ist, aber mal Zeughaus war, an der edlen Bahnhofstraße gelegen, ist ein ziemlich guter Ort, um Schweizer Bratwurst zu testen – wenn man sich nicht vom berühmten Tatar („mit Scotch Whisky parfümiert“) verführen lässt. Über 20 Sorten stehen auf der Karte, kleine, dicke, lange – meterlange – und gekringelte. Neben dem Klassiker, der milden Zürcher Kalbsbratwurst, die entfernt an die Weißwurst erinnert, wird zum Beispiel die innerschweizer Bauernbratwurst angeboten, die Wiediker Roschtbratwurst, die Waadtländer Saucisson...

Wer glaubt, dass der Schweizer nur Käse, Kaviar und Birchermüsli isst, der irrt. Die Schweiz ist eine Nation der Wurstesser. Ein ländliches Land, in dem einst mehr Hirten und Bauern als Banker und Steuerflüchtlinge lebten, die kräftige, deftige Nahrung brauchten. Währschafte Kost, wie es sie in den Gasthäusern immer noch gibt, gern mit viel Butter, Sahne und Speck. Solche Traditionen legt man so schnell nicht ab. Der Coop in Zürich bietet als hochsommerliches „Menü der Woche“ „Grillschnecke (Schweiz) an Zwiebelsauce und Butterrösti“ an.

„Wurst ist ein gefüllter Darm, so dem Menschen zur Speise dienet“, heißt es in einem alten Lexikon. In der Schweiz aber ist die Wurst „Schweizer Kulturgut, nicht nur am Nationalfeiertag“, wie der Verein „Kulinarisches Erbe der Schweiz“ vor ein paar Tagen verkündet hat. Seit 2004 erarbeitet der Verein ein Inventar der Produkte von nationaler Bedeutung – und hat als Erstes Fleisch und Wurst erforscht.

Und in der Tat: Ist diese nicht ein Spiegelbild der Schweiz? Geprägt von internationalen Einflüssen, demonstriert sie regionale Vielfalt, Unabhängigkeit in der Einheit. Denn darauf weist man gerne und stolz hin: dass es zwar einen Rösti-, aber keinen Bratwurstgraben gibt, der das Land teilt. Alle lieben die Wurst, aber alle ein bisschen anders, jeder Kanton scheint eine eigene Variante entwickelt zu haben: Appenzeller Mostbröckli, Tessiner Cicitt, Waadtländer Saucisse aux choux…

Am bekanntesten ist die St. Galler Bratwurst, die es seit dem Mittelalter gibt, und die als Kalbsbratwurst bezeichnet wird, auch wenn sie nur zum Teil aus Kalbfleisch ist, dazu kommen Schweinefleisch und Speck, Macis, Pfeffer und Milch. Als Volkswurst gilt die Cervelat, eine gebrühte Wurst, die für fremde Zungen nicht besonders aufregend schmeckt – Schwaben erinnert sie an die rote Wurst –, aber außerordentlich praktisch ist. Generationen von Schweizer Kindern haben die kleinen dicken Stumpen auf ihre Wanderungen mitgenommen, sie beim Picknick auf Stöcke gesteckt, an den Enden kreuzweise eingeschnitten und überm offenen Feuer geröstet, bis die Enden sich wie Zapfen auseinanderbeugten. Selbst wo es verboten ist zu zündeln, muss niemand hungern, denn die gebrühte Wurst lässt sich auch roh verspeisen, weshalb sie gern zu Wurstsalat verarbeitet wird.

Jedes Kind kann hier ein Feuer machen, jeder Erwachsene auch. Die Schweizer gelten als Weltmeister des Grillierens, wie es hier heißt, auch der Gründer der World Barbecue Association ist ein Schweizer gewesen. „Sie grillieren überall, im Wald, am Fluss, überall, wo’s ein bisschen schön ist“, erzählt die Wahlschweizerin Sigrid Auerbach. Und auch dort, wo es nicht schön ist. Auf den Balkonen stehen unzünftige riesige Gasgeräte, „das sind richtige Möbelstücke“.

Der Fremde, ohne Grill und Balkon, geht in den Züricher Zeughauskeller, dort gibt’s zum St. Galler Schübling „das Schweizgefühl“ aus der blauen Tube, wie René Schätti es nennt: den milden Thomy-Senf. Jahrzehntelang ist der Diplomat um die Welt gezogen, in New York war er stationiert, in Berlin hat er gearbeitet, zuletzt war er Schweizer Botschafter in Äthiopien. Fünfeinhalb Jahre lang, in denen ihm Besucher immer wieder blaue Senftuben und eingeschweißte Cervelatwurst mitbrachten. Von den feinsten Diners verwöhnt, ging der Diplomat jedes Mal, wenn er auf Heimatbesuch in Zürich war, an die Würstchenbude. Nicht an irgendeine, sondern die berühmteste der ganzen Schweiz, „weltberühmt“ hat die „Neue Zürcher Zeitung“ sie genannt: Am Vorderen Sternen, „wo es die besten Grillbratwürste von ganz Zürich gab“, wie es zu Beginn von Peter Zeindlers Krimi „Bratwurst für Prominente“ heißt – „eine Legende, vielleicht, aber ebenso unzerstörbar wie Legenden eben sind“. Dürrenmatt und Fellini waren hier Stammgäste, Urs Widmer und Tina Turner sind es noch – und die „Cervelat-Prominenz“, wie man halbseidene Berühmtheiten in der Schweiz nennt.

Sein ganzes Leben könnte René Schätti anhand der Bratwurst erzählen. In seiner Kindheit gab es Bratwurstbuden nur auf dem Rummel und dem Schützenfest, „das war was ganz Speziales“. Und plötzlich konnte er sich dieses Festgefühl das ganze Jahr über einverleiben: Als Jurastudent in Zürich kam Schätti jeden Tag auf dem Weg von der Uni zum S-Bahnhof am Vorderen Sternen vorbei und hat dort immer schnell noch eine Bratwurst gegessen. Einmal wollte er eine Freundin, die ihm eine Seminararbeit sauber abgetippt hatte, einladen; mangels Geldes führte er sie zur Würstchenbude – und nahm einen Kerzenleuchter mit.

Der Sternen Grill war wohl eine der allerersten fest installierten Würstchenstände im Land. 1961 fing alles an, mit ein paar Gemüsekisten, auf die der Wirt Edi Rosenberger einen Elektrogrill gestellt hat, darüber kam ein Sonnenschirm. Heute führen die Söhne den kleinen gastronomischen Komplex „Vorderer Sternen“, zu dem noch vier Lokale gehören. Der Grill, eingequetscht in einer Gasse am Fuße der Altstadt, wo früher Autos parkten, ausgestattet mit Plastikstühlen und einer aufrollbaren Plastikplane als mobiler Wand, klebt an der Restaurantmauer. Er liegt am Bellevue, der kein Platz ist, schon gar kein schöner, sondern ein Verkehrsknotenpunkt, drei Straßen kreuzen hier, unzählige Straßenbahnen, um die Ecke ist noch ein kleiner Bahnhof, sind Festwiese, Oper, Theater, Kino, Discos, Geschäfte.

In einer Zeit der 1000 Möglichkeiten, in der man ständig entscheiden muss, ist das kulinarische Angebot von angenehmer Schlichtheit. Es gibt nur zwei Sorten von Würsten, St. Galler Bratwurst und Cervelat, einfach in Papier gewickelt, dazu ein Brötchen namens „Gold-Bürli“ und ein Topf Senf, für 6,50 Franken (3,90 Euro). Ein Mittagessen für Bergsteiger. Das Bürli ist ein Brocken, fast ein kleines Landbrot, mit krachender Kruste und weichem Innenleben, so hoch, dass man nicht einfach hineinbeißen kann, sondern es am besten auseinanderreißt. Für manche ist das Sauerteig-Bürli das Beste an der Wurst. René Schätti rührt es nicht: „Ich schütte ja auch keinen Wasser in Wein.“ Er genießt die knusprige heiße Wurst ausschließlich pur, manchmal sogar noch nach einem Abendessen, „zum Abrunden“. Was Schätti, einem eleganten, weltläufigen Mann, besonders gefällt an ihr: dass sie noch nicht der Globalisierung zum Opfer gefallen ist. Die Schweizer Wurst schmeckt für ihn noch immer nach Schweizer Wurst, und die ist für ihn die beste, „die ist im Geschmack feiner“.

„Fade“ findet Sigrid Auerbach die Schweizer Würste, „ohne Geschmack, ohne Gewürz.“ Auch wenn sie seit 40 Jahren hier lebt, als waschechte Schwäbin ist sie Kräftigeres gewöhnt. Sie kommt aus einem anderen Grund, wenn es sich einrichten lässt, vor jedem Opernbesuch zum Sternen-Grill: „wegen des Senfs. Der ist hier so scharf, mit Meerrettich, das zieht einem richtig die Nase hoch“. So was darf man auch nur in Zürich servieren: In St. Gallen ist Senf auf der Wurst generell verpönt, der würde doch ihren feinen Geschmack übertünchen.

Die Wurst übrigens mag Schweizer Kulturgut sein, die Grilleure aber, die sie am Sternen Grill aufs Feuer legen, kommen von ganz woanders her: aus Bangladesch, Irak und Afghanistan. „Der Schweizer per se will ja nicht mehr bedienen“, sagt Geschäftsführer Victor Steffenelli, „der will dauernd in die Ferien fahren und trotzdem viel Geld verdienen.“

Was Sigrid Auerbach gefällt am Sternen Grill: dass hier „alle, wirklich alle herkommen. Und man redet auch miteinander, was sonst ganz unüblich ist“. Am Bratwurststand darf der Städter noch urchig sein – kernig, natürlich, naturbelassen, urwüchsig und ungekünstelt, wie der Thesaurus den Ur-Schweizer Ausdruck umschreibt. Mittags trifft man hier jede Menge Banker neben Blaumännern, wobei die Anzugträger deutlich überwiegen, japanische Touristen, Liebespaare, Kulturredakteure, Großväter mit Enkeln und die Pressechefin des Diogenes Verlags Ruth Geiger. Die auch verantwortlich dafür ist, dass beim Sommerfest des Verlags immer Bratwürste vom Sternen Grill statt Lachscanapés serviert werden.

Dass die Würste beim Test eines Verbrauchermagazins kürzlich wegen ihrer Zusammensetzung besonders schlecht abgeschnitten haben, kann sie nicht schrecken: „Mir ist egal, was da drin ist“, erklärt Ruth Geiger, „ich bin süchtig danach.“ Am liebsten nimmt die schlanke Pressefrau ihre Wurst mit an den Zürichsee, der gleich hinterm Bellevue beginnt, am allerliebsten mit der besten Freundin. Kein Tag, sagt sie, könne so schlecht sein, dass diese Kombination, Wurst, Freundin und See ihn nicht retten könnten. „Dann ist die Welt wieder in Ordnung.“

Fritz von Gunten hat ein Buch über Schweizer Wurst verfasst: „Alles ist Wurst“, Ott Verlag/hep, 19 Euro.

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