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Selbstinszenierung des Attentäters: Der Breivik-Prozess als Show

Der norwegische Massenmörder Anders Breivik steht ab Montag vor Gericht – er will das Verfahren instrumentalisieren.

Geständig ist er. Doch er bereut nichts. Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 innerhalb weniger Stunden insgesamt 77 Menschen tötete, glaubt, dass es notwendig war, was er tat. Für Anders Breivik herrscht Krieg in Europa. Und zu seinem Bedauern kämpft er ihn ganz allein. Ab kommenden Montag muss er sich vor Gericht verantworten für das, was er tat.

Es ist der Nachmittag des 22. Juli, etwa 15.17 Uhr, als Breivik im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe zündet. Sie wiegt ungefähr 950 Kilogramm und ist versteckt in einem Kastenwagen. Knapp sieben Minuten hat er Zeit, sich selbst in Sicherheit zu bringen, dann explodiert der Sprengsatz. Acht Menschen in der nahen Umgebung sind sofort tot, mehr als 200 verletzt. Verkleidet als Polizist fährt Breivik weiter zur Insel Utöya nahe Oslo. Gegen 17.15 Uhr betritt er die Insel, auf der mehr als 500 Mitglieder der Jugendorganisation der regierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei im jährlichen Sommerlager campen. Breivik ruft sie zusammen, dann beginnt er zu schießen, jagt sie. 67 erschießt er, zwei weitere sterben auf der Flucht vor ihm, stürzen von Felsen, ertrinken.

Es sei der schlimmste Tag seines Lebens gewesen, sagte Breivik später. Doch einer habe es ja tun müssen: der mutmaßlich drohenden Islamisierung und „Multikulturalisierung“ Norwegens und Europas Einhalt gebieten, dem „kulturellen Marxismus“, wie er es nennt. Deswegen zielten seine Anschläge auf eine Regierung, die in seinen Augen eine falsche Politik betreibt, zu politisch korrekt, zu liberal.

Nun wird Breivik, inzwischen 33 Jahre alt, vor Gericht stehen. Fast zehn Wochen lang wird er sich für die Morde verantworten müssen, mehr als 100 Zeugen sollen gehört werden, die Anklage der Staatsanwaltschaft lautet auf Terrorismus und vorsätzlichen Mord. Breivik droht die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie – oder die norwegische Höchststrafe von 21 Jahren Gefängnis. Je nachdem, ob das Gericht ihn für zurechnungsfähig hält oder nicht.

Er habe, erzählen Überlebende aus dem Sommerlager, gelacht und sich gefreut, wenn er wieder einen der Jugendlichen erwischte. Einige flüchteten ins Wasser. Er zielte auf ihre Köpfe. Für jedes einzelne Opfer hat die Staatsanwaltschaft in der 19 Seiten langen Anklageschrift die genaue Todesursache angegeben. Fast alle schoss Breivik in den Kopf. Er tötete sie nicht einfach, er richtete sie hin.

Ein erstes psychologisches Gutachten befand, Breivik, der selbst ernannte „Tempelritter“, leide an einer paranoid-schizophrenen Psychose. Viele seiner Äußerungen beurteilen die beiden ersten Gutachter als „größenwahnsinnige Wahnvorstellungen“. Wie jene etwa, in der er versichert, er könne nach einem Staatscoup und der Machtübernahme der neue Herrscher Norwegens werden.

Die Norweger empörten sich über das Ergebnis der Untersuchung. Den Massenmörder in die Psychiatrie sperren? Behandeln statt bestrafen? Ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit entsprach das nicht. Auch Experten widersprachen den Gutachtern. Für paranoide Schizophrenie sei der Täter zu klar, er höre keine Stimmen. Also wurde ein weiteres Gutachten erstellt.

Er mordete, um sein wirres Manifest zu verbreiten.

Am vergangenen Dienstag stellten zwei Psychiater es vor. Im Gegensatz zu ihren Kollegen halten Agnar Aspaas und Terje Törrisen den Mörder für zurechnungsfähig. Weder zum Zeitpunkt der Tat noch während der Befragung sei Breivik psychotisch gewesen, teilten sie mit. Allerdings bestehe die große Gefahr, dass er wieder gewalttätig werden könne.

Anders Breivik, so sagte sein Anwalt Geir Lippestad anschließend, sei mit dem Ergebnis des neuen Gutachtens zufrieden. Schon seit seiner Festnahme gleich nach den Anschlägen wünschte Breivik, für zurechnungsfähig erklärt zu werden. Die erste Diagnose hatte er als herbe Kränkung empfunden. Die norwegische Tageszeitung „VG“ zitierte aus einem offenen Brief Breiviks die Worte: „Einen politischen Aktivisten in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen, ist sadistischer und böser als ihn zu töten.“ Sein Anwalt wird auf Zurechnungsfähigkeit plädieren – auf den ausdrücklichen Wunsch seines Mandanten hin. Zu diesem Zweck plant Lippestad, auch andere Extremisten und Rechtsextreme in den Zeugenstand zu rufen. Er will zeigen, dass auch andere denken wie sein Mandant. Andere, die nicht als psychisch krank gelten. Auch die vier Psychiater, die in ihren zwei Gutachten zu so unterschiedlichen Einschätzungen kommen, werden im Prozess aussagen, das Gericht wird beide Gutachten berücksichtigen. Entscheiden aber, ob Breivik eine Haftstrafe oder die Unterbringung in der Psychiatrie droht, werden am Ende allein die Richter. Die Aussicht, dass der Massenmörder in einer Psychiatrie unterkommen könnte, hat in Norwegen längst eine Diskussion über das im Vergleich sehr liberale Rechtssystem ausgelöst. Zwar kann die längste norwegische Gefängnisstrafe von 21 Jahren mehrfach verlängert werden. „Lebenslänglich“ aber gibt es in Norwegen nicht.

Er freue sich nicht auf die Verhandlung, zitierte „VG“ aus einem weiteren Brief Breiviks an eine anonyme Frau. Trotzdem aber sei dies eine „einmalige Gelegenheit“, den Bewohnern Europas seine Sicht der Welt zu erklären. Verrückt, das denkt er ohnehin, sind die anderen. Er nicht.

Die Anschläge, seine „Operation“, wie er sie nennt, hatte Breivik nach eigenen Angaben seit dem Jahr 2002 mehr oder weniger konkret geplant. Seine Fantasien, seine Überlegungen und Pläne für eine Reformierung der Gesellschaft schrieb er ausführlichst auf. Mehr als 1500 Seiten umfasst sein Text, den er „2083 – A European Declaration of Independence“ nannte und kurz vor seiner Tat im Internet verbreitete.

Später, während erster Vernehmungen, soll Breivik behauptet haben, er habe die Anschläge nur unternommen, um dem Manifest im Netz die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Töten als Marketing für Gedanken, die, zwar in Kapitel unterteilt, aber doch recht unzusammenhängend auf den 1500 Seiten gruppiert sind. Es geht um HipHop und Philosophie, um Geschlechtskrankheiten und darum, warum „der Westen den Kalten Krieg verlor“. Das Manifest ist ein pseudointellektuelles Sammelsurium von Theorien, in dem sich Breivik bei Marx und Engels und von Adorno über Derrida bis George Orwell bedient, um zu begründen, warum der „Kulturmarxismus“ gefährlich und „zu viel Freiheit“ schädlich für eine Gesellschaft ist.

Er bittet darum, den Text zu verbreiten. Er geht offensichtlich davon aus, dass viele seine Meinung teilen. Tatsächlich schrieben ihm Sympathisanten Briefe ins Gefängnis, sagte seine Verteidigerin Vibeke Hein Baera im Norwegischen Rundfunk.

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