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Selbstmordwelle: Die Leiden der jungen Waliser

Eine Serie von Freitoden in Wales sorgt für Rätselraten: Innerhalb eines Jahres haben sich bereits 17 Jugendliche im Kreis Bridgend umgebracht. Nun geht die Angst vor dem "Werther-Effekt" um. Löst die Berichterstattung in den Medien Nachahmungstaten aus?

Verzweifelte Eltern, ratlose Ermittler, besorgte Behörden: Die seit einem Jahr anhaltende Serie mysteriöser Selbstmorde von Jugendlichen im walisischen Kreis Bridgend reißt nicht ab. Erst Anfang der Woche fand ein Spaziergänger die Leiche der 16-jährigen Jenna Parry, erhängt an einem Baum. Vergangene Woche hatten sich ein 15-Jähriger und seine fünf Jahre ältere Cousine umgebracht. Nach 17 Toten binnen eines Jahres ist das Phänomen eine gefundenes Fressen für die Medien, von denen einige über einen im Internet geschlossenen Selbstmordpakt spekulierten. Das ärgert Polizei, Eltern und Lokalpolitiker. Sie werfen Presse und Rundfunk vor, mit ihren Berichten die selbstmörderische Stimmung unter Jugendlichen anzuheizen.

Die Presseerklärung des Vize-Polizeichefs von Süd-Wales, Dave Morris, klingt gereizt: "Ich will hier ein für alle Mal alle Vermutungen beenden, dass wir von irgendwelchen Selbstmordpakten oder Internet-Verabredungen ausgehen", teilte er am Dienstag mit. Vielmehr hätten die Ermittler bei ihren Gesprächen mit Jugendlichen in der Region den Eindruck gewonnen, dass die Medienberichte sie zutiefst aufwühlten. Auch die Mutter des vergangene Woche gestorbenen 15-Jährigen will von einem Selbstmordpakt nichts hören: Die Medien hätten ihrem Sohn "diese Idee in den Kopf gesetzt", versicherte auch sie.

Bridgend: "typisch triste Ex-Bergarbeiterstadt"

Doch die Umstände sind mehr als seltsam: 16 der 17 Selbstmordopfer hatten sich erhängt - unter Jugendlichen eine eher ungewöhnliche Methode. Alle kannten sich, waren teils sogar miteinander verwandt. Und selbst Morris musste einräumen, dass sie regelmäßig typische Teenie-Kontaktforen im Internet besuchten - was allerdings auf die meisten britischen Jugendlichen zutrifft.

Laut Statistik hat Wales die höchste Selbstmordrate im Vereinigten Königreich: So bringen sich durchschnittlich 19,4 von 100.000 Männern um, bei den Frauen ist die Zahl etwas niedriger. Doch obwohl Bridgend in einer ehemaligen Bergbauregion liegt, leiden seine rund 130.000 Einwohner schon längst nicht mehr unter den Folgen der Zwangsschließungen während der Thatcher-Ära. Vor allem ausländische Investoren - wie etwa Sony und Ford - haben der Stadt einigen Wohlstand gebracht. In der Presse aber, so beklagen sich Abgeordnete vor Ort, werde Bridgend gerne als "typisch triste Ex-Bergarbeiterstadt" beschrieben.

Werher-Effekt: Selbstmörder als "romantische Helden"

Auch einige Zeitungen sind inzwischen von der Idee eines Selbstmordpakts abgerückt. In einer Art Selbstkritik sprechen sie nun von einem "Werther-Effekt" - ausgelöst durch die Berichterstattung über die Selbstmorde. So wie sich zu Zeiten Goethes junge Männer nach der Lektüre der traurigen "Leiden des jungen Werther" reihenweise umgebracht hätten, verklärten nun die Medien die jungen Selbstmörder zu "romantischen Helden" und verführten damit zur Nachahmung.

Der "Guardian" zitierte am Donnerstag eine Studie der Universität Oxford, nach der Berichte über Selbstmord - ob fiktional oder real - Suizide nach sich ziehen. Suizidforscherin Sue Simkins zufolge ist klar erwiesen, dass Fotos, detaillierte Berichte und Nachrufe im Internet den Toten "romantisieren". So steige die Selbstmordrate jedesmal an, wenn Zeitungen groß über Fälle von Freitod berichteten. Der britische Presserat hatte 2006 ausdrücklich empfohlen, keine Details über Selbstmorde und die jeweilige Vorgehensweise zu nennen. In Norwegen verbietet der Pressecode sogar den Hinweis, dass es sich bei einem Todesfall um Selbstmord handelte. (ck/AFP)

Lucie Godeau[AFP]

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