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Wann ist die "rote Linie" überschritten?

© dpa

Sexismus-Debatte: Auf der Suche nach den Grenzen des Anstands

Durch einen publizistischen Zufall scheint das Land verwandelt. Plötzlich schauen alle durch eine Sexismus-Brille und suchen Regeln für das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Eine Reise, auf der das Unsichtbare sichtbar wird.

Am vergangenen Montag veröffentlichte der Berliner Bewerbungshelfer Gerhard Winkler unter dem Titel „Deine Kollegin“ im Netz einen Leitfaden für Männer, nach dem das ganze Land nun über eine Woche gerufen hatte: Regeln. Endlich klare Regeln. Da definierte jemand die „rote Linie“, die Männer im Umgang mit Frauen nicht übertreten sollten. „Verhältst du dich so, dass man dein Verhalten mit dem Handy filmen und der Welt vorführen kann?“, ist eine seiner Testfragen. Man kann Winkler anrufen und einwenden: Ist es nicht so, dass in Deutschland die Menschen einander nirgendwo so gut kennenlernen wie am Arbeitsplatz? „Das ist ja toll“, sagt Winkler. „Aber das kann man ja nach der Arbeit machen.“

Winkler hat Ende der 90er drei Jahre in den USA gelebt und gearbeitet. Eine ganz angenehme Entspanntheit habe da geherrscht, eine wunderbare Klarheit und Eindeutigkeit, die dadurch entsteht, dass alle die Regeln kennen. Seine Erfahrungen decken sich überhaupt nicht mit der hiesigen Angstvorstellung vor „amerikanischen Verhältnissen“, in denen ein Mann mit einer Frau alleine keinen Aufzug mehr betreten dürfe. Nur würden da halt keine Pin-ups in den Werkstätten hängen.

Schon aus ökonomischen Gründen müssten die deutschen Unternehmen nach dieser Diskussion einen Verhaltenskodex entwickeln. Schon, um sich vor Klagen zu schützen. Damit der Betrieb nicht durch solche in seiner Effizienz gestört wird. Denn Sexismus gebe es überall, aber in der Arbeitswelt „kann man einfach zum Rechtsanwalt gehen“. An dieser Front werde das Thema härter als anderswo verhandelt und auch juristisch ausgefochten, einfach weil es für die Betroffenen um ihre Existenz gehe. „Ein Betrieb ist ein gutes Versuchslabor“, sagt Winkler. Wenn man schon einmal auf der Suche ist nach den Grenzen des Anstands.

Sobald man den Telefonhörer auflegt, fällt einem auf, dass man sich in genau jenem Versuchslabor befindet. In einem Biotop, in dem künstliche Bedingungen herrschen. Aber das Phänomen ist ja deshalb so gewaltig, weil es darum geht, dass der Sexismus als Spurenelement überall enthalten sein soll. Die Einträge, die unter #aufschrei bei Twitter versammelt sind, berichten von Fahrlehrern, Klassenkameraden, Arbeitgebern, Lehrern, Vätern und Brüdern. Also weg von diesem Schreibtisch, aus dem Büro. Dorthin, wo dieses Flüchtige, Uneindeutige, das uns umgibt, noch sichtbarer wird.

Es ist, als hätte man durch einen publizistischen Zufall nach Laura Himmelreichs Reportage über einen Abend an der Hotelbar mit Rainer Brüderle einen neuen Bestandteil der Luft entdeckt, der jetzt, da es Twitter gibt und das Netz, endlich auch nachgewiesen werden kann. Die Beweisführung mit den neuen Medien scheint gelungen. Alle sind überrascht, wie viel es zu sagen gibt. Plötzlich haben alle eine Sexismus-Brille auf. Und zwar derart, dass das ganze Land verwandelt scheint.

Ist jetzt wirklich alles anders?

Aber ist jetzt wirklich alles anders? Ist es möglich, eine Reise auf dieser Grenze zu unternehmen, durch ein scheinbar verändertes Land? Sich auf dieser Grenze, der roten Linie zu bewegen? Einen Ort zu finden, an dem die Grenze sichtbar wird? Und was macht diese Brille mit dem eigenen Blick?

Draußen ist Donnerstag, der 31. Januar in diesem merkwürdigen Jahr 2013, in dem das Private plötzlich wieder politisch wurde. In der Buchhandlung des Berliner Hauptbahnhofs liegt Pola Kinskis Beschreibung ihres Vaters, der sich selbstverständlich alles nahm, direkt neben Hanna Rosins: „Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen.“ Irgendwo zwischen diesen Polen titelt eine viel zitierte Illustrierte: „Der tägliche Sexismus“. Unter dem Deckmantel der Aufklärung werden hier demütigende Szenen geradezu lustvoll noch einmal ausführlich erlebbar gemacht. Da reibt einiges aneinander, fiese Spitznamen fallen, und bei dieser Gelegenheit kann man immer wieder „Schenkel“ schreiben. Aber dieses Mal dürfen alle dabei sein. Und jetzt mit Foto der Frau.

Die Blicke der Fahrgäste, die auf Gleis 13 gleich in den ICE 546 Richtung Hannover steigen werden, haften geschlossen und selbstvergessen auf einer Plakatwand gegenüber: Riesige, weibliche Lippen umschließen vorsichtig ein Hustenbonbon der Marke Pulmoll. Darüber steht: „Welcher Lutschtyp sind Sie?“ Wenn man will, sieht man es überall.

Die Deutsche Bahn ist einer von Deutschlands größten Arbeitgebern, 12 000 Menschen im Bordpersonal fahren täglich kreuz und quer durch Deutschland, die „Entgleisungen“ sind glücklicherweise meist verbal. Der Spott über Mitarbeiter der Bahn ist Legende und betrifft gar nicht hauptsächlich Frauen, sondern das Englisch aus den Lautsprechern und die Verspätungen. Fifty ways to leave your lover. Man kann sich ja auf viele Arten herabwürdigen.

Anruf bei der Deutschen Bahn: Nein, man trenne nicht zwischen den Spielarten der Diskriminierung, den Arten der Provokation. Eigens für die sexuelle Belästigung gebe es keine Zählung. Ihr Hauptproblem sei nicht Sexismus, sondern Aggressivität bei der Eskalation im Konflikt um Fahrkarten und Schwarzfahrer. Die Bahn bietet dafür ein Deeskalationstraining. Und? Wie bitte? Ja, möglich, dass auch die Uniform eine Hemmschwelle bilde, um gar nicht erst angefasst zu werden.

Im Wagen 22 sackt jenseits der Armlehne, die er sorgsam nicht nutzt, ein langer Mann mit Kopfhörern in den Ohren tief in den Sitz und schließt die Augen.

Alle verlangen jetzt nach eindeutigen Armlehnen. Man müsse jetzt, heißt es, die Grenze genau definieren. Die „rote Linie“. Dabei ist schon der Gedanke komisch, dass Männer und Frauen, kaum zieht einer irgendwo eine Linie, sich selbstverständlich auf gegenüberliegenden Seiten versammeln würden. Wird die Grenze nicht immer zuletzt zwischen zwei Leuten ausgehandelt.

Nicht zum ersten Mal wird über Grenzen des Anstands nachgedacht.

Nicht zum ersten Mal wird ja über die Grenzen des Anstands nachgedacht. Das Denken hatte bloß bislang zugewiesene Reservate: Die Wissenschaft und Comedy. Mario Barth hat in seiner ganzen Karriere Männer und Frauen beidseitig eines Kommas sortiert. 2001 hieß die erste Show: „Männer sind Schweine, Frauen aber auch“, 2013 heißt die aktuelle Show: „Männer sind schuld, sagen die Frauen“. Man kann es für schlimm halten, dass Barth diesen ganzen Sexismus wiederholt.

Andererseits: Was sagt es über den Sexismus, dass er den Witz bislang brauchte, um von der Gesellschaft gespiegelt werden zu können? Es gab ja Gesellschaften, da waren die Narren die Einzigen, die die Wahrheit aussprechen durften, damit im Lachen die Anspannung entwich. Wenn nur in jedem dieser Witze von Mario Barth und in denen der Dauer-Bühnenbestseller „Caveman“ und „Cavewoman“ ein Korn Wahrheit steckte, hätte sich in den letzten zehn Jahren ein ganzer Haufen Wahrheit über unseren Umgang miteinander angesammelt. Millionen Menschen lachen ja, weil sie etwas wiedererkennen. Aber ganz plötzlich lacht keiner mehr.

Umsteigen in Hannover. Ein Mann winkt seiner Mutter aus dem anfahrenden ICE 771 Hamburg-Stuttgart. Auf Platz 101 in Wagen sechs sitzt ein Mann eingesponnen in den Austausch mit seinem Game-Boy. Auf Platz 104 legt eine Frau mit Piercings in der Augenbraue den „Hobbit“ beiseite, um sich Dressing über ihren Salat zu gießen. „Guten“, sagt der Schaffner im Vorbeigehen. „Danke“, sagt die Frau leise und errötet altmodisch.

Draußen fliegen deutsche Landschaften vorbei. Mal sind sie hügelig, mal flach. 30 Prozent aller Ehen da draußen begannen am Arbeitsplatz. Es ist davon auszugehen, dass die Liebe wohl kaum ausbrach, weil jemand herabgewürdigt wurde. Kurz vor Göttingen hat sich die Dunkelheit vollkommen über das Land gesenkt. 17 Uhr 14. Mit der neuen Brille sieht auch diese Dunkelheit verdächtig aus. Ja, es ist dieselbe Dunkelheit, die dafür sorgt, dass Frauen spezielle Parkplätze benutzen, 23 Prozent haben Angst vor Gewalt. Ein Großteil der Frauen in Deutschland müsste sich danach ab jetzt draußen unwohl fühlen. Im Winter länger, als im Sommer.

Aber der ICE 771 ist ein heller Wurm des Fortschritts, der mit 250 Sachen über Land rast. Die ältere Frau auf 114 sagt erfreut zu ihrem Sitznachbarn: „Wenn Sie auch bis Stuttgart fahren, haben wir ja noch Zeit.“ An der Schulter des Mannes auf 111 lehnt schlafend eine Frau. Es geschieht ganz selbstverständlich. Ständig werden hier zwischen Männern und Frauen Entscheidungen getroffen. Angesprochen. Reagiert. Ständig wird die Grenze verhandelt. Erspürt. Erahnt. Walk the line.

Vielleicht ist das nicht repräsentativ. Alle wollen eine angenehme Bahnfahrt. Vielleicht liegt es daran, dass es hier keine Hierarchien gibt, jeder so gleichberechtigt nebeneinander in seiner ICE-blauen Sitzschale sitzt mit dem hellblauen Schuppenfänger im Nacken. Vom Cover des Bahn-Magazins lächelt Martina Gedeck. Titel: „Alles, nur kein Opfer.“ Über die Zusammenarbeit mit ihrem Filmpartner Jeremy Irons befragt, wird sie dort folgendermaßen zitiert: „Alles hat im Spiel stattgefunden. Wenn ich gemerkt habe, etwas gefällt ihm nicht, musste ich das selbst herausfinden – und umgekehrt auch! Es ging darum, eine Art geistigen Tastsinn für den anderen zu entwickeln.“

Täuscht es, oder ist dieser Tastsinn hier am Werk? Der Bärtige auf 106 ist an einen freien Tischplatz umgezogen, weil er der Frau nicht auf die Pelle rücken wollte, neben der seine Reservierung lag. Der Grenzübertritt, wie er in den letzten Wochen beschrieben wurde, sei ein Zuviel an Nähe, dabei dient Sexismus ja gar nicht zur Anbahnung einer Gemeinsamkeit und beruht auch nicht auf Interesse. Er soll gar keine Nähe herstellen, sondern die Frau auf ihren Platz verweisen. Sexismus ist ein Abstandhalter.

„Hallo, ich bin euer Hooters-Girl für den Abend.“

19 Uhr, Frankfurt am Main. Die Lederschuhe der Angestellten glänzen heller als in Berlin. After Work. In der U-Bahn stehen auffällig viele erschöpfte Männer mit Aktentasche und einem einzelnen Baguette in der Hand. Und in Sachsenhausen, dem kopfsteingepflasterten Ausgehviertel, liegt das „Hooters“, die einzige Filiale der amerikanischen Sportsbar in Deutschland. Es ist der Ort, an dem die Grenze des Erlaubten so weit gedehnt ist, dass sie sichtbar wird. Man kann sie beobachten. Die Grenze des Erlaubten ist hier das Geschäftsmodell.

„Hallo, ich bin Jule, euer Hooters-Girl für den Abend.“ Die Voraussetzung für ihre Einstellung hier vor sechs Monaten war nicht ein C-Cup. Rupert Nagl, dem Geschäftsführer, ist es recht, wenn seine „Girls“ ihre Oberweite „pimpen“ – „ich will gar nicht wissen, was in den Körbchen alles drin ist“.

Jule hat schöne Zähne, lange blonde Haare, die Ausstrahlung einer Landfrische und eine Jugend, die nichts entstellen kann. Auch diese Uniform nicht mit den orangefarbenen Shorts, den fleischfarbenen Leggins, die per Post aus Amerika kommen, den weißen Turnschuhen und Stulpen. Es muss schon deshalb so warm sein hier, damit Jule in ihrem ärmellosen T-Shirt nicht friert. Vor ihrem Schritt bollert die Geldtasche, und erinnert daran, weswegen sie hier ist. Denn von seinem Gehalt könnte keiner leben, sagt Nagl. Leben müssen seine Angestellten vom Trinkgeld.

Es ist noch keine Sexbar, noch ein Ort des Alltags. Montags ist Familientag. Und es ist nicht so, als würden hier keine Grenzen gelten. Zum System dieser Gastronomie gehören: Ein Kalender mit den „Girls“, der jährlich erscheint. Es gibt weltweit eine Miss-Wahl unter den Angestellten. Und es gibt viele Regeln. Die wichtigste: Nicht anfassen. „Wenn einer anfasst, gleich zum Management.“ Ausnahme: Das gemeinsame Foto. Dafür darf man die Schulter anfassen und die Hand um die Hüfte legen. „Hier“, sagt Nagl. „Und hier.“

Rupert Nagl ist stolz darauf, dass sie keinen Türsteher brauchen. In drei Jahren riefen sie zur Durchsetzung dieser Regeln nur einmal die Polizei, es gebe überhaupt nur zwei Rausschmisse pro Jahr. Dabei handle es sich zu 99 Prozent um den Maulhelden eines Junggesellenabschieds, der „ausziehen, ausziehen“, schreit. „Man muss sich den Anführer greifen und die gelbe Karte ziehen: Wenn ihr das noch einmal macht, gehst nicht nur du, sondern geht die ganze Gruppe.“ Dann sei meist Ruhe.

Geschäftsmodelle aus Amerika, sagt Nagl, könne man nie eins zu eins nach Deutschland übertragen. Völlig unterschiedliche Bedürfnisse gebe es da. Hierher, sagt er, kommen die Leute zum Beispiel wegen der Burger. Ach, und warum besuchen die Leute in Amerika ein „Hooters“? „Wegen der Chicken-Wings!“

Herzblut, sagt er, habe er für dieses Modell, wo nur die Bildschirme flach sind. Dass diese Filiale, die er führt, die einzige noch verbliebene in Deutschland ist, liege nicht etwa an der Wandlung des Frauenbildes, sondern an der Tatsache, dass die Deutschland-Chefs unter unklaren Umständen insolvent gingen und rechtlich einiges durcheinanderlief. Ein gutes Hooters-Girl, sagt er, sei offen, zugewandt und „eine kleine Rampensau“, die damit leben kann, dass sie im Mittelpunkt steht. Bei vielen steigere diese Arbeit sogar das Selbstbewusstsein.

Das Franchisemodell findet er „geil“ und meint damit keinesfalls „erregend“. „Warte mal.“ Nagl zieht sich den Schal aus, fingert an seinem Hemdknopf und zieht sein rot kariertes Hemd auseinander. Da, über dem Herzen auf der nackten Brust: „Hooters“. Eintätowiert. In Orange. Für immer. Rupert Nagl, Geschäftsführer, Österreicher, ausgebildeter Koch, 45, wird der Einzige bleiben, der an diesem Abend seine nackte Brust zeigt.

Der Laden ist gut besucht, das Ambiente hölzern, die Hemden kariert, die Gäste ruhig, es gibt Ältere, Ehepaare, auch Frauen und Amerikaner mit Heimweh. Eine Gruppe Jungs feiert in einen 28. Geburtstag hinein. Sie sind wirklich zum Essen da. Zwei Männer sitzen sich vor einem Pitcher gegenüber und starren schweigend aneinander vorbei auf gegenüberliegende Bildschirme, wo Basketball übertragen wird.

Wenn die Frauen sich nach der Bestellung wieder vom Tisch schwingen, haften die Blicke der Männer an ihnen wie Magnete an einer Kühlschranktür. Zuverlässig, aber indifferent. Die drei Jungs am Nebentisch stülpen sich jetzt Einmalhandschuhe über die Hände. Sie haben Spare Ribs bestellt und wollen sich nicht die Hände schmutzig machen.

„Das ist das Tolle“, sagt Nagl. Die klaren Regeln. In dieser Hinsicht ist es halt ein vollkommen amerikanisches Unternehmen. Vielleicht, auf einem anderen Level, so durchgeregelt, wie das bald alle Unternehmen sein werden. „Wir sind ein Restaurant, keine Tittenbar“, sagt Nagl.

Und Jule? Jule ist keine Rampensau. Jule ist 18, macht gerade Abitur und hat einen Freund in Amerika. Sie braucht das Geld für Flugtickets, sagt sie, und hibbelt nervös mit den Knien. Noch nie sei sie hier am Arbeitsplatz angefasst worden. Weil sie aber „als Frau“ nicht im Dunkeln von der S-Bahn nach Hause laufen will, holt ihre Mutter sie nach der Schicht mit dem Auto vom Bahnhof ab.

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