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Panorama: Sklavenhandel mit jungen Dieben

Immer mehr Kinder in der Türkei stehlen, weil ihre Familien hungern. Wer es besonders gut kann wird verkauft – Bandenchefs nutzen Gesetzeslücke

Ab und zu bekommt Makbule Orakci einen Anruf von ihrem zwölfjährigen Sohn Tugay. Mal kommt der Anruf aus Istanbul, mal aus Antalya – wo immer Tugay von seiner Bande gerade eingesetzt wird. Der kleine Junge aus dem südostanatolischen Diyarbakir ist Taschendieb – und er stellt sich dabei so geschickt an, dass die Bandenchefs ihn nicht mehr hergeben wollen. „Jedes Mal, wenn er heimkommt, wird er gleich wieder verschleppt“, sagt seine Mutter, die sich nun in der türkischen Presse an die Öffentlichkeit wandte. Mehrfach habe sie schon Anzeige gegen die Entführer erstattet, die ihr bekannt seien, doch unter dem Druck der Bande habe sie die Anzeigen stets wieder zurückziehen müssen. Ihr Sohn werde von den Bandenchefs geschlagen und zum Diebstahl gezwungen, doch sie könne nichts dagegen tun.

Der Polizeichef von Diyarbakir ist skeptisch. Die meisten jugendlichen Taschendiebe würden von ihren Eltern an die Banden vermietet, um im relativ reichen Istanbul das Familieneinkommen aufzubessern, sagt Orhan Okur. „Nur wenn sie von den Banden nicht genug Geld bekommen, erstatten sie Anzeige, um Druck zu machen – und ziehen die Beschwerde wieder zurück, wenn sie das Geld bekommen.“ Ob der kleine Tugay nun verschleppt wurde oder verkauft: In jedem Fall teilt er das Schicksal vieler Jugendlicher aus dem armen und kinderreichen Südosten der Türkei, das in den letzten zwei Jahren zum Marktplatz für kriminelle Sklavenhändler aus der türkischen Unterwelt geworden ist. Aus Diyarbakir und anderen südostanatolischen Städten holen diese Banden die Kinder nach Istanbul, um sie dort als Taschendiebe einzusetzen.

Rund zehntausend Kinder treiben sich alleine in Diyarbakir auf den Straßen herum, weil ihre Familien sie nicht ernähren können. In der kurdisch besiedelten Region sind bis zu zehn Kinder pro Familie keine Seltenheit, Brot und Arbeit dagegen schwer zu finden. Umgerechnet knapp 35 Euro im Monat kann ein zwölf- oder 14-jähriger Junge zum Familieneinkommen beisteuern, wenn er Arbeit als Laufbursche findet. Bis zu 600 Euro im Monat schicken aber die Banden den Familien eines guten Taschendiebes, nachdem sie dessen Unterhaltskosten in Istanbul und ihre eigenen Profite abgezogen haben.

Die Nachfrage nach minderjährigen Taschendieben in der türkischen Unterwelt entspringt einer Gesetzeslücke. Als Reaktion auf einen explosionsartigen Anstieg der Taschendiebstähle in Istanbul nach dem Einbruch der türkischen Wirtschaft vor drei Jahren waren die Strafen drastisch angehoben worden, indem der Taschendiebstahl zum Raubdelikt erklärt wurde. Die neuen Strafandrohungen wirkten zunächst auch – bis den Verbrecherbanden auffiel, dass Minderjährige, ähnlich wie in Deutschland, nicht wegen Raubes verurteilt werden können. Seither lassen die Banden ihre kriminellen Geschäfte von Kindern und Jugendlichen besorgen, die von der Polizei höchstens zu ihren Familien nach Diyarbakir zurückgebracht werden können, wenn sie einmal geschnappt werden – von wo die Banden sie meist sofort wieder abholen. Im Kampf gegen diesen Sklavenhandel erzielen die türkischen Behörden inzwischen erste Erfolge. So wurden am Busbahnhof von Diyarbakir schon mehrfach Bandenmitglieder festgenommen, die mit Kindern nach Istanbul fahren wollten.

Um eine erneute Vermietung durch die Familie zu verhindern, werden die Kinder in ein Heim in Diyarbakir eingewiesen. Nicht nur wegen der Mitwirkung der Familien haben die Behörden es schwer, gegen den kriminellen Kinderhandel vorzugehen. Als die Istanbuler Polizei vor einigen Woche eine berüchtigte Bande hochgehen ließ und die Anführer wegen der Entführung von vier Jungen aus Diyarbakir festnahm, da waren die Opfer schon von einer anderen Bande aufgespürt und mit Schlägen gefügig gemacht worden, bevor die Polizisten sie finden konnten. Als sie schließlich gefunden und der Staatsanwaltschaft zur Befragung vorgeführt werden konnten, erschien der 14-jährige Murat A. auf Krücken.

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