zum Hauptinhalt

Panorama: Sonnenbrand um Mitternacht

Heißhungerattacken nachts um drei. Dienstreisende werden schwach und plündern nun doch den Kühlschrank im Hotelzimmer, obwohl sie bis dahin versucht haben, mit einem Krimi über die schlaflose Nacht hinwegzukommen.

Heißhungerattacken nachts um drei. Dienstreisende werden schwach und plündern nun doch den Kühlschrank im Hotelzimmer, obwohl sie bis dahin versucht haben, mit einem Krimi über die schlaflose Nacht hinwegzukommen. Dafür sind Lider und Beine schon vor dem Mittagessen vor Müdigkeit bleischwer. Jedenfalls dann, wenn sie Moskowitern gehören, die es an den Pazifik verschlagen hat. Nach Wladiwostok zum Beispiel, wo die Ortszeit der hauptstädtischen um sieben Stunden voraus ist, oder gar auf die Tschuktschen-Halbinsel, wo der Zeitunterschied sage und schreibe zehn Stunden beträgt.

Hat sich der Biorhythmus endlich mit den neuen Realitäten abgefunden – nach drei Tagen, bei manchen auch erst nach einer Woche –, ist es Zeit für die Rückreise. Dann kommt wieder alles durcheinander. Eine Horrorvorstellung, über die sich Iwan Normalverbraucher damit hinwegtröstet, dass der Körper eine Reise durch die elf Zeitzonen, die gegenwärtig in Russland gelten, von Ost nach West besser verkraftet als in umgekehrter Richtung. Laut und heftig stöhnt die Nation aber auch, wenn die Uhren von Normal- auf Sommerzeit umgestellt werden. Denn die Beschwerden sind – wenn auch in geringerem Ausmaß – die gleichen.

Fünf der mehr als achtzig russischen Regionen bleibt die Tortur diesmal erspart. Sie werden die Uhren in der Nacht zum Sonntag nicht vorstellen. Ende Oktober aber, bei der Rückkehr zur Normalzeit, werden sie ihre Uhren dennoch um eine Stunde zurückstellen. So werden sie jene Zeit übernehmen, die in der jeweils im Westen angrenzenden Zone gilt. In Samara an der Wolga und der Teilrepublik Udmurtien, die Moskau derzeit um eine Stunde voraus sind, ticken die Uhren daher vom Herbst an wie in der Hauptstadt Moskau.

Glücklich sind die Betroffenen dennoch nicht. Es gab bereits Massenproteste, und weitere sind geplant. Doch Präsident Dmitri Medwedew, der schon im November in seiner Jahresbotschaft an das Parlament ankündigte, die Anzahl der Zeitzonen würde Stück für Stück auf die Hälfte reduziert, ist unerbittlich. Irgendwie und irgendwann muss der Mann seine Reformversprechen aus dem Wahlkampf ja auch einlösen. Und Zeitreformen hat Russland in der Vergangenheit schon einige verkraftet.

Im Zarenreich galt bis weit ins 19. Jahrhundert die sogenannte wahre oder örtliche Sonnenzeit. Sie umfasste nur den Lichttag, der sich in zwölf Stunden teilte. Die wiederum fielen – je nach Breitengrad – unterschiedlich aus. Im Sommer war eine Stunde deutlich länger als 60 Minuten, im Winter erheblich kürzer. Dass die Nacht dabei unter den Tisch fiel, störte niemanden: Anständige Menschen legten sich schlafen, sobald es dunkelte.

Das System wankte bereits, als mechanische Uhren in Mode kamen, die das Vergehen von Zeit nur in immer gleich bleibenden Intervallen messen können. Mit dem Vordringen der Eisenbahn gab es definitiv den Geist auf: Sonnenstunden taugten nicht für präzise Fahrpläne. Offen blieb dabei weiter, wie das Riesenland in Zeitzonen unterteilt werden könnte. Als 1892 der Bau der transsibirischen Eisenbahn begann, zeigten daher alle Uhren auf den Bahnhöfen der mehr als 9000 Kilometer langen Strecke zwischen Moskau nach Wladiwostok die Zeit von St. Petersburg an – damals war das die Hauptstadt.

Die Weltzeit, auf die sich die Mehrheit der Staaten schon 1884 einigte – sie richtet sich nach dem Nullmeridian, der durch das britische Greenwich verläuft –, wurde in Russland erst 1919 und auf dem Gebiet der gesamten UdSSR erst 1924 eingeführt. Damals wurden auch die Zeitzonen festgelegt und danach mehrfach verschoben. Ihre heutige Konfiguration geht auf 1957 zurück und ist eine willkürliche, mit der die Sowjetunion sich auch zeitlich gegen den Rest der Welt abschotten wollte. Im Südkaukasus und in Zentralasien gingen die Uhren daher nicht nach der Sonne, sondern nach der Suppe. Wenn es in Teheran 12 Uhr 30 war – eine halbe Stunde später als in Moskau –, war es im turkmenischen Aschgabat, das nur wenige Kilometer weiter östlich liegt, aber bereits 15 Uhr.

Mitte der 90er Jahre raffte Moskau sich erstmals auf, die Zeitunterschiede im asiatischen Teil Russlands zu nivellieren. Statt vier sind die meisten Regionen Westsibiriens Moskau seither nur noch um drei Stunden voraus. Und auf der Tschuktschen-Halbinsel im nordöstlichen Eismeer, wo Russland und Alaska sich fast berühren, werden die Uhren von Sonntag an wie in Magadan ticken. Der Zeitunterschied zu Moskau verringert sich dadurch von neun auf „nur“ noch acht Stunden.

Endziel der Reform sind vier, höchstens fünf Zeitzonen. Dadurch sollen das Zentrum mit den Regionen und diese untereinander besser kommunizieren können und Russland in seinen heutigen Grenzen bestehen bleiben. Geballter Widerstand ist programmiert: Hunderttausenden droht dann nämlich selbst im Hochsommer ein Erwachen in Dunkelheit. Und um Mitternacht ein Sonnenbrand.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false