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Eine lange Nacht. Der Schauspieler Kari Väänänen, bekannt aus Filmen des Regisseurs Aki Kaurismäki, und Jazz-Pianist Iiro Rantala im Zug durch Finnland.

© Anke Myrrhe

Sonnenwende: Die Nacht, die keine ist

Überall im Norden Europas feiern die Menschen durch, weil die Sonne nicht untergeht – eine Fahrt im Mittsommerexpress zum Polarkreis.

Eine kleine Rauchwolke steigt über dem Sitz von Kari Väänänen auf. „Psst“, zischt er und versucht sie wegzuwedeln. Väänänen zieht entschuldigend die Schultern hoch und deutet auf seine Zigarette: eine elektronische, man riecht nichts, immerhin. Nur der zarte Rauch über seinem kurzrasierten Schädel verrät Väänänens heimliches Laster. „Wie soll ich das sonst aushalten in diesem Zug?“, fragt er. Es ist kurz vor ein Uhr morgens, der Zug befindet sich irgendwo zwischen Seinäjoki und Kokkola im Westen Finnlands. Knapp zwei Stunden lang gibt es keinen Bahnhof, an dem Kari Väänänen austreten und seiner Sucht nachgeben könnte. Der Schauspieler ist einer der knapp 50 Menschen, die sich in der Nacht zum Sonnabend auf eine Reise quer durch Finnland begeben haben, von Helsinki bis zum Polarkreis. 13 Stunden und 950 Kilometer fuhr der „Mittsommerexpress“ durch eine Nacht, die keine war.

Es ist der dunkelste Moment, nicht nur für die Sucht des Schauspielers. Nicht ganz die Hälfte der Strecke hat die reisende Gesellschaft hinter sich gebracht, für etwa eine Stunde sieht es so aus, als könne sich die Sonne doch noch verabschieden. Als der Zug um zwei Uhr morgens Kokkola erreicht, ist es jedoch schon wieder so hell, dass der Bahnhof das Licht ausschalten kann. Hunderte Menschen bejubeln in der Hafenstadt die Ankunft, als könne der Zug ihr Leben verändern. In jeder der zehn Städte auf der Strecke das gleiche Bild – und das obwohl die Städte an „Juhannus“, dem finnischen Mittsommer-Volksfest, normalerweise zu Geisterstädten werden, da die Menschen lieber auf dem Land und an den Stränden um die ausdauernste Party wetteifern.

Kari Väänänen ist ein großer Freund von Feiern, vor allem der alkoholische Teil daran scheint ihm zu liegen. Der 58-Jährige gehört zu den Schauspielern, mit denen Regisseur Aki Kaurismäki bevorzugt dreht. In Finnland ist er eine Berühmtheit, wegen seiner Charakterrollen und seines scharfen Witzes. Gerade dreht er in Hamburg mit Jan Fedder („Großstadtrevier“) einen Film, den Heimweg nach Lappland lässt er sich nun vom finnischen Fernsehsender Yle finanzieren.

Yle ist für dieses Zug-Spektakel verantwortlich. Zum 150. Jubiläum der finnischen Eisenbahn sollte das besonders groß werden. Das Bordrestaurant hat der Produktionsleiter zur Bühne umgebaut, mitten im Zug steht ein Konzertflügel, der ohne Beine gerade so durch die schmalen Zugtüren gepasst hat. Jazz-Pianist Iiro Rantala weiß, wie man ihn bedient, mit einer Kollegin führt er durch eine wahnsinnige 14-StundenLive-Sendung, die auch der deutschfranzösische Sender Arte in großen Teilen übertragen hat. Um den Flügel tanzen 30 nicht-prominente Finnen, die für die Fahrt ausgewählt wurden. Von der Wahrsagerin bis zum Graffity-Künstler ist alles dabei. Jusu, eine Mischung aus Clown und Master of Ceremonies erklärt den Gästen die nächsten Programmpunkte. Gemeinsam schmettern sie Juhannus-Volkslieder, streiten sich um den letzten Wein, einer vergießt sein Bier über den Konzertflügel.

Dill im Haar soll gegen Trunkenheit schützen

Jemand verteilt Thymian. Darauf steht: Frauen binden sich das wohlriechende Kraut ins Haar, dann werden sie zu Mittsommer unwiderstehlich sein. Dill wäre vielleicht passender, denn da steht drauf: Durch Dill wird man zu Juhannus weniger betrunken – natürlich muss der auch ins Haar. „Wir duzen uns doch, oder?“ Roman Schatz sagt es mehr, als dass er fragt. In Finnland reden sich alle mit Vornamen an, gesiezt wird höchstens der Staatspräsident. Schatz wohnt seit fast 26 Jahren hier, er hat sich daran gewöhnt. Er ist der brühmteste Deutsche Finnlands. Auf jedem Bahnhof wird er herzlich umarmt, die Menschen wollen Autogramme. Mitte der Achtziger verliebte er sich in Berlin-Wedding in eine Finnin und zog nach Helsinki. „Hormonelle Migration“, nennt er das. Seither erklärt er den Finnen Deutschland und andersherum. Er hatte seine eigene Fernsehshow, zahlreiche Bücher hat er auf Finnisch geschrieben und einige auf Deutsch.

Je weiter sich der Zug durch die saftgrünen Kiefernwälder gen Norden schlängelt, desto heller wird es. Je heller es wird, desto lauter werden die Lieder. „Die Leute werden ein bisschen verrückt, wenn es immer hell ist“, sagt Kari Väänänen, der irgendwo zwischen Ylivieska und Oulu vergessen hat, seine E-Zigarette zu verstecken. Schamlos nuckelt er nun neben Iiro Rantala am Flügel daran herum, es stört niemanden mehr. Väänänen wohnt in Kemijärvi noch nördlich von Rovaniemi, wo der Zug morgens um kurz vor acht sein Ziel finden wird. Dort oben am Polarkreis geht die Sonne im Sommer acht Wochen lang nicht unter. „Die Leute schlafen einfach nicht, weil es nie dunkel wird“, sagt Väänänen. „Das macht irgendwas mit den Menschen.“

Es gibt mit Lakritz gefüllte Schokolade und kleine Brocken von getrocknetem Rentier. Zwei Sportler fahren im Zug die ganze Strecke mit dem Fahrrad mit, 285 Kilometer werden es am Ende sein.

Um vier Uhr morgens steht die Sonne schon wieder so weit über den nicht enden wollenden Kiefern, dass an Schlafen nicht mehr zu denken ist. „Frag ihn, warum er immer den Weihnachtsmann spielen muss“, ruft Roman Schatz grinsend herüber und flüstert: „wahrscheinlich wegen der Wampe“. So ein Quatsch, entgegnet Kari Väänänen, er spiele gar nicht so oft den Weihnachtsmann. Dann fällt ihm etwas ein. 2007, ein Jahr nachdem der Gruselrocker „Lordi“ den Eurovision Song Contest gewonnen hatte und den Gesangswettbewerb nach Finnland holte, stand Kari Väänänen mit auf der Bühne – als Weihnachtsmann. Tja sagt er, so sei das eben in Finnland. Übrigens wohne der Weihnachtsmann gar nicht in Rovaniemi, wie häufig behauptet werde, sagt Kari Väänänen, dort habe er lediglich sein Büro. „In Wahrheit wohnt er auf einem geheimen Hügel namens Korvatunturi.“

Dann blickt Kari Väänänen aus dem Fenster und winkt einem kleinen Jungen zu, der fast umfällt vor Begeisterung, als der Zug um kurz nach sieben Uhr morgens endlich an ihm vorbeirauscht. „Ich dachte, dieser Zug sei nur eine praktische Fügung, um billig nach Hause zu kommen“, sagt Väänänen dann. „Aber dieser Zug verbindet ganz Finnland. Mittsommer verbindet ganz Finnland.“ Dann setzt er seine Sonnenbrille auf und schläft ein.

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