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Wohin mit Hassan? Er will in Freiburg bleiben, hat keinen Pass, und kein Land will ihn aufnehmen.

© Nadine Zeller

Abschiebung aus Deutschland: Ein Retter muss gehen

Hassan lebt seit elf Jahren in Deutschland, ein Dasein zwischen Untätigkeit und Knast. Kürzlich hat er die Tötung einer Frau verhindert. Nun soll er abgeschoben werden.

Es ist ein trüber Nachmittag im November, als Hassan Y., 26, sein eigenes Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Ein Mann hat einer Frau an der Straßenbahnhaltestelle Lindenwäldle in Freiburg ein Springmesser in den Bauch gerammt. Sie sinkt auf die Schienen – die Menschen an der Haltestelle rennen davon. Hassan stürmt auf den Täter zu. Schlägt dem Mann auf den Kehlkopf, tritt ihm mit einem Fuß zwischen die Beine, presst ein Knie in seinen Rücken und fixiert ihn.

Er weiß, wie das geht mit dem Fixieren, weil er es selbst schon erlebt hat. Drei Haftstrafen hat der 1,90 Meter große Mann – ausrasierte Frisur, Lederjacke, selbstbewusster Blick – bereits hinter sich. Seine Delikte: Diebstähle, Schwarzfahren, Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht, gefährliche Körperverletzung. 63 Monate hat er im Gefängnis verbracht. Zwei Monate U-Haft in Passau. 29 Monate Jugendstrafe und Erwachsenenstrafe in verschiedenen bayerischen Gefängnissen. Laufen-Lebenau, Ebrach, München-Stadelheim. Vier Jahre Ruhe. Dann noch mal 32 Monate in Freiburg. Entlassen am 19. August 2014. Drei Monate, bevor er der Frau das Leben rettet.

Hassan hat keine Papiere. Er komme aus Palästina, sagt er. Sein Herkunftsort ist nicht eindeutig belegt. Er ist in Deutschland nur geduldet. Und straffällig geworden. Da fordern viele schnell die Abschiebung.

Für kurze Zeit im Spätherbst verstummen diese Stimmen. Hassan ist plötzlich ein Held. Die Menschen interessieren sich für ihn, jeder will wissen, wie er den Täter, der mittlerweile im Verdacht steht, einen Mann im Elsass getötet zu haben, überwältigt hat. Nur die Behörden sagen, er soll aus Deutschland verschwinden, so will es das deutsche Gesetz. Seit elf Jahren lebt Hassan in diesem Land, es sei seine Heimat geworden, sagt er. Es gibt keinen Passus im Asylrecht, der den Aufenthalt wegen Zivilcourage erlaubt. Gleiches Recht für alle. Oder soll man jetzt einen Retterbonus fordern?

Im Winter sieht es kurze Zeit so aus, als könnte sich für Hassan alles zum Guten wenden. Oberbürgermeister Dieter Salomon lädt ihn zum Neujahrsempfang ein und dankt ihm in einer Rede für sein mutiges Einschreiten. Sein Engagement sei Beleg für eine funktionierende Bürgergesellschaft, in der die Menschen nicht wegschauten. Danach lässt sich Salomon lächelnd mit Hassan fotografieren. Die Familie des Opfers schreibt ihm einen Dankesbrief.

Vier Monate später steht Hassan wieder an jener Straßenbahnhaltestelle in Freiburg. Er setzt sich auf eine Parkbank. „Ich will keine Belohnung, ich will ein Leben“, sagt er und schiebt mit seinen Schuhen Kieselsteine hin und her. Er versteht das nicht: dass erst alle zu ihm kommen und sagen, wie mutig er war, und dann wollen, dass er abhaut. Kurz nach der Bluttat händigt ihm ein Sachbearbeiter der Ausländerbehörde ein Schreiben aus, in dem er sich bereit erklären soll, zu seiner Ausreise beizutragen. Er zerreißt es spontan, oft handelt er aus dem Impuls heraus. Sein Temperament handelt ihm ständig Ärger ein.

Wie vor ein paar Jahren, als Hassan vor einer Richterin steht und sie fragt, ob er das mit dem Klauen künftig sein lasse. Er antwortet: „Geben Sie mir eine Arbeitserlaubnis, dann hör’ ich auf.“ Mangelnde Einsicht. Das steht nachher in den Akten. Hassan sagt: „Ist mir doch egal. Die wollen mich sowieso nicht hier haben.“ Es klingt verletzt. Seit seiner Ankunft in Deutschland ist vieles schiefgelaufen. Sein Leben hier begann mit einem Fehler, einem Fehler der Behörden.

Als Teenager landete Hassan in Freiburg. Er ist allein. Sein Vater und seine Mutter seien früh gestorben, erzählt er. Es gebe keine Verwandten, keine Geschwister. Man kann ihm glauben oder nicht. Die Geschichte lässt sich nicht nachprüfen. Mit Lkw, Autos und Fähren sei er nach Europa gelangt – Italien, Frankreich, Deutschland. Irgendwann habe er am Freiburger Hauptbahnhof gestanden, erzählt Hassan. Dort hätten ihm Jugendliche geraten, zur Moschee zu gehen. Es gebe dort Erwachsene, die Arabisch sprächen und ihm helfen könnten.

Hassan erzählt, ein Paar habe ihn für einige Tage bei sich aufgenommen. Ein Zimmer für ihn geräumt und ihm zu essen gegeben. Vorübergehend habe er ein Dach über dem Kopf gehabt. Ein paar Tage später wird er von der Polizei bei einem Ladendiebstahl erwischt. Das steht in den Akten. Die Beamten bringen ihn bei einer Familie unter.

Silvia Sachse erinnert sich an den Abend. Es ist der 24. Juli 2004, um halb zehn klingelt das Bereitschaftstelefon. Die 53-jährige Jugenderzieherin und ihr Mann sind auf einem Geburtstag, der Nachtisch wird serviert, als die Polizei anruft. Eine Stunde später stehen die Beamten mit Hassan vor der Tür. Die Sachses nehmen seit Jahren jugendliche Flüchtlinge auf. Das Christophorus-Jugendwerk in Freiburg vermittelt sie ihnen. Silvia Sachse zeigt Hassan die Wohnung. „Er war sehr still, zurückhaltend“, sagt sie. Nachdem die Polizisten verschwunden sind, will Hassan kurz vor die Tür. Silvia Sachse denkt: Lass ihn eine rauchen. Hassan haut ab. Den Rucksack lässt er da.

Drei Tage darauf nimmt ihn eine Polizeistreife in einem Club fest. Er muss in die Landeserstaufnahmestelle Karlsruhe. Das belegt die Ausländerakte. Nun hätte man Hassan zurück nach Freiburg schicken müssen. Das dortige Jugendamt Freiburg wäre für ihn zuständig gewesen. Er gilt als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, muss also in jener Stadt bleiben, in der er von der Polizei zum ersten Mal aufgegriffen wird. In Freiburg hätte Hassan Anspruch auf einen Vormund gehabt, einen Schulplatz bekommen und einen Sprachkurs absolviert. Er hätte feste Ansprechpartner gehabt. Hätte.

Doch es kommt anders: Karlsruhe schickt Hassan nach Bayern und behandelt den 15-Jährigen wie einen erwachsenen Flüchtling. In Bayern, Bezirksstelle Zirndorf, entscheidet sich seine Zukunft. Eine Anhörung bestimmt über den Ausgang des Asylantrags. Hassan wird abgelehnt. Die Behörden zweifeln an seiner Geschichte. Sie glauben, dass er aus Algerien kommt. Hassan sagt, seine Mutter sei von dort gewesen. Erfindet er es? Die Behörden vermuten, dass er den Pass wie viele Jugendliche nicht nach Deutschland mitgenommen hat, damit ihn der Staat nicht abschieben kann.

In der Unterkunft im bayerischen Freyung teilen sich 30 Menschen eine Dusche. Keiner der Flüchtlinge spricht Arabisch, Hassan ist der einzige Jugendliche dort. Er kehrt nach Freiburg zurück. Dort hatten ihn Menschen bei sich aufgenommen, waren freundlich zu ihm, er hat erste Kontakte in der Stadt geknüpft. Doch er hat ein Problem: In Freiburg bekommt er kein Geld, Freyung ist für ihn zuständig. Er beginnt zu klauen. Ein Kaufhausdetektiv erwischt ihn, die Polizei nimmt ihn mit aufs Revier, schickt ihn zurück nach Bayern.

Im Februar vor zehn Jahren will eine Jugendsachbearbeiterin des Polizeipräsidiums Freiburg-Nord endlich klären, wo Hassan nun hingehört. In Freyung teilt man ihr mit, Freiburg sei zuständig. Dieser Vermerk ist in Hassans Ausländerakte dokumentiert. Aber in Freiburg will man von einer Zuständigkeit nichts wissen. Dass Hassan im Juli 2004 von der Polizei aufgegriffen worden ist, weiß das Jugendamt. Zuständig fühlt es sich nicht. Hassan soll zurück nach Bayern. Sie stellen ihm einen Fahrgutschein aus. Erledigt.

Hassan will arbeiten, darf aber nicht

Wohin mit Hassan? Er will in Freiburg bleiben, hat keinen Pass, und kein Land will ihn aufnehmen.
Wohin mit Hassan? Er will in Freiburg bleiben, hat keinen Pass, und kein Land will ihn aufnehmen.

© Nadine Zeller

Für Hassan hat das Folgen. Mit jedem Übertritt über die bayerische Landesgrenze zurück nach Freiburg macht er sich strafbar. Die Verstöße häufen sich. Und auch die Diebstähle. Ohne Pass können ihn die Behörden nicht abschieben. Also bleibt er geduldet und wird immer öfter straffällig.

Klauen, kiffen, Verstöße gegen die Residenzpflicht. Hassan kommt ins Gefängnis. München, Stadelheimer Straße. Dort macht er seinen Hauptschulabschluss und beginnt eine Schreinerlehre. Als er aus der Haft entlassen wird, soll er im Freistaat bleiben. Er will nach Freiburg. Und das hat einen Grund: ein Mädchen. Die Liebe und die Freundschaften. Sie bringen ihn immer wieder zurück.

Seine letzte Freundin sprach Hassan an der Haltestelle vor dem Stadttheater Freiburg an. Machte ihr ein Kompliment wegen ihrer schönen grünen Augen. Suzana Baric lacht, wenn sie daran zurückdenkt. Die grünen Augen glitzern. Dieser Kerl. Die beiden sitzen im Februar dieses Jahres im Büro von Hassans Anwalt Christian Fischer. Hassan ist ihm während eines Gefängnisaufenthaltes begegnet. Einige von Fischers Mandanten sind Häftlinge. Hassan kann ihm kein Geld zahlen. Fischer, 41, boxt durch, dass Hassan seinen Wohnsitz verlagern kann. Dass er zu seiner Freundin ziehen kann.

Vier Jahre ist das Paar zusammen. Hassan möchte arbeiten, seinen Teil zum Haushalt beitragen. Er darf nicht. Die Behörden werfen ihm vor, seine Abschiebung hinauszuzögern. Er soll bei diversen nordafrikanischen Konsulaten vorsprechen und darum bitten, dass die Länder ihn aufnehmen. Tut er es nicht, wird das als unkooperatives Verhalten gewertet. Beim algerischen Konsulat war er mehrmals, beim tunesischen einmal. Beide lehnen ab. Eine Arbeitserlaubnis bekommt er so nicht. Er soll sich mehr Mühe geben, findet die Ausländerbehörde.

Dass bei ihm schon viel im Vorfeld schief lief, interessiert niemanden. Das müsste seine Akte dokumentieren. Freiwillig gibt die Ausländerbehörde sie nicht heraus. Fischer bohrte monatelang nach, die Stadt teilte ihm mit, sie werde intern geprüft. Vor drei Wochen durfte der Anwalt schließlich einen Blick hineinwerfen. Die Orte, an denen Hassan gelebt hat, die Gefängnisaufenthalte, alles ist darin aufgeführt – nur Freiburg als die Stadt, in der er ankam, taucht nicht auf.

Im März trennt sich Hassans Freundin von ihm. Suzana sagt: „Er hat keine Perspektive. Das belastet unsere Beziehung schon seit Langem.“ Sie hat viel für ihn getan. Noch bringt sie seine Papiere zum Anwalt, weil sie hofft, dass dies etwas für Hassan ändert. Er hat keinen Briefkasten, wohnt bei einem Kumpel. Im April stellt das Sozialamt die Zahlungen ein. Sein Anwalt klagt. Die Behörden hätten einen Fehler gemacht. Das Sozialgericht gibt ihm recht. Hassan bekommt sein Geld. Fischer weiß, dass es sonst nur eine Frage der Zeit ist, bis sein Mandant straffällig wird. Hassan sagt: „Mein Akku ist alle.“

Am 4. Juni 2015 ist seine Duldung abgelaufen. Er kann nun jederzeit abgeschoben werden. Theoretisch. Sein Anwalt hat Ersatzpapiere beantragt. Hassan soll als Staatenloser gelten. Dann müsste er nicht mehr bei Konsulaten vorsprechen, er hätte eine Chance, endlich arbeiten zu dürfen. Nach elf Jahren in Deutschland.

Hassan hat einer Frau das Leben gerettet – hat das keinen Einfluss auf seine Aussichten, in Freiburg zu bleiben? Der Pressesprecher der Stadt erwidert auf eine Anfrage: „Eine Zusage auf dauerhaftes Aufenthaltsrecht hat der Oberbürgermeister nicht gegeben.“ Er hat ihm nur die Hand geschüttelt. Hassan hat nun die Wahl zwischen Abschiebung oder einem Leben in der Halbwelt.

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