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Alex Capus auf seinem Balkon.

© Christoph Dorner

Alex Capus: Unter Nachbarn

Alex Capus ist eine wichtige literarische Stimme der Schweiz, er lebt in der Provinz. Durch lokale Kolumnen hat er eine Katze berühmt gemacht. Ein Hausbesuch.

Jeder Schweizer kennt Olten, sagt Alex Capus vergnügt. Er weiß ja um die Pointe, die gleich kommt. „Wirklich jeder Schweizer kennt Olten.“ Kunstpause. Beziehungsweise den Bahnhof der Stadt. Denn hier kreuzen sich die zwei wichtigsten Linien der Schweizerischen Bundesbahnen. Nur durch Zürich rauschen täglich mehr Züge. Wer in Olten aussteigt, muss umsteigen oder kurz eine Zigarette rauchen. Man will dann bitte schön weiter, in eine der vier Himmelsrichtungen: nach Zürich, Luzern, Bern, Basel. Deshalb brummt Capus mit gespielter Borniertheit: „Olten ist ein Schweizer Unort. Was soll man da? Man hat dort nichts verloren.“

Ein Zyniker ist der Schriftsteller Alex Capus ganz bestimmt nicht, aber auch kein dumpfer Lokalpatriot. Olten, knapp 17 000 Einwohner, ist seine Heimat. Mit ihr verbindet Capus eine Hassliebe, seit er als Kleinkind mit der Schweizer Mutter aus Paris ankam. Kinder können sich nicht aussuchen, wo sie leben. Doch auch als Student stand Capus täglich am Gleis 3 des Bahnhofs, um in einer halben Stunde nach Basel zu fahren, wo er Geschichte, Ethnologie und Philosophie studierte. Als er später Journalist bei der Schweizerischen Depeschenagentur in Bern wurde, blieb er in Olten wohnen.

Dem Ort verdankt er, dass er regelmäßig zur Hochform aufläuft: in seinen Kolumnen für den „Oltener Stadtanzeiger“, die nun gesammelt in dem Band „Mein Nachbar Urs“ (Hanser Verlag) vorliegen. Seit sieben Jahren schreibt Capus für das amtliche Mitteilungsblatt der Stadt. Eine ziemlich biedere Zeitung mit Grußworten, Terminen, Stellenausschreibungen. Sie liegt jeden Donnerstag im Briefkasten, ob man sie nun haben möchte oder nicht. Wegen der Kolumnen haben die Oltener den Stadtanzeiger irgendwann nicht mehr ungelesen in die Altpapiertonne geworfen, erzählt Capus. Das hat ihn bestärkt weiterzuschreiben.

Als Schriftsteller muss er sich bis heute die Frage gefallen lassen, warum er eigentlich nicht längst in Zürich, Wien oder Berlin lebt, wie es sich für einen Bestsellerautor gehört. Seine Antwort ist mehr als eine Absage an ein anonymisiertes Leben in der Großstadt. Sie sagt auch viel über den Geschichtenerzähler Capus, der detektivische Neugier mit einem geerdeten, ja fast schon lakonischen Schreibstil verbindet: „Ich mag es einfach, wenn ich über die Dinge genau Bescheid weiß, die vor meiner Haustür passieren. Ich könnte überall leben. Nur habe ich in Olten mittlerweile eine 40-jährige Feldstudie hinter mir. Ich glaube, ich habe jedes Haus dieser Stadt schon einmal von innen gesehen.“

Alex Capus, 52 Jahre alt, blonde Locken, ein Baum von einem Mann, empfängt den Gast in seinem Zuhause in der Bleichmattstraße am bürgerlichen Ortsrand. Vor 14 Jahren hat er das grau verputzte Reihenhaus mit den weißen Fenstern und den mintgrün gestrichenen Fensterläden gekauft. Weil der gesamte Block in den Hang gemauert ist, offenbart das Haus seine stolzen vier Etagen erst, wenn man auf die Terrasse hinaustritt. Unten im Garten steht eine Laube aus Lärchenholz, in der sich der Familienvater früher zum Schreiben vor seinen Kindern versteckte.

Auf der Terrasse zeigt Capus kurz, wo denn die fünf Urse in seiner Nachbarschaft wohnen, die sich in seinem neuen Buch schrullige Streitgespräche mit ihm liefern. Er deutet nach links zu einem grünen Reihenhaus in der Elsastraße, macht eine weit ausholende Wurfbewegung nach rechts, wo ein gelbes Stadthaus mit Balkon steht. Dort hinten also auch.

Bei den drei weiteren Namensvettern hat der Schriftsteller geflunkert. Sie sind nicht seine Nachbarn, sondern wohnen über das Stadtgebiet verteilt. Geehrt fühlen sie sich trotzdem, wenn sie in seinen Kurzgeschichten vorkommen, obgleich er ihnen bisweilen Quatsch in den Mund legt und damit der Kleinstadt einen Spiegel vorhält. Der Schriftsteller hat schon in seinen Erzählungen gern Fakten und Fiktion vermischt. In seinen Romanen wie „Eine Frage der Zeit“, wo er im Jahr 1913 drei norddeutsche Werftarbeiter nach Afrika begleitet. Oder in „Léon und Louise“, eine Liebesgeschichte in den Wirren der Weltkriege.

Capus hat einen extrastarken Kaffee gekocht und bittet an den Katzentisch im stilvoll eingerichteten Wohnzimmer, an dem sonst vier seiner fünf Söhne sitzen können. Um die Mittagszeit sind heute nur die Haushälterin und der jüngste Sohn anwesend, der wegen Fasnacht in einem orange-schwarzen Tigerkostüm steckt und in der Spielecke vor dem stattlichen Bücherregal mit all den Frischs und Dürrenmatts braven Lärm veranstaltet. Die übrigen Geschwister sind in der Schule, Capus’ Ehefrau Nadja forscht an diesem Tag als Staatsrechtsprofessorin an der Universität Basel.

Am Katzentisch erzählt Capus von seinem vielleicht größten Trick. Denn es ist sein Verdienst, dass eines Tages sogar Touristen wegen seiner Kolumnen nach Olten kamen. Sie wollten einen König sehen. Keinen richtigen Monarchen, den hätten die Schweizer Direktdemokraten niemals geduldet, sondern einen schwarzweißen Straßenkater. In seinen Kolumnen hatte Capus von den freigeistigen Streifzügen des Katers berichtet und ihn zum König von Olten ausgerufen. Einmal beispielsweise ließ sich Toulouse, so der Name des Katers, in die Stadtbibliothek einschließen. Als er um vier Uhr genug gesehen hatte, löste er den Alarm aus, wartete an der Tür auf die Polizei und entschwand in die Nacht.

Als die Kolumnen vor Jahren erstmals als Buch erschienen, geschah etwas Merkwürdiges: „Der König von Olten“ mit dem Kater Toulouse auf dem Cover wurde zum Verkaufsschlager. Wochenlang stand die Kleinstadt-Hommage auf Platz eins der Schweizer Bestsellerliste. Capus weiß bis heute nicht so recht, warum.

Vielleicht, weil in der Schweiz tausende Unorte wie Olten existieren, denen Capus mit seinen Kolumnen stellvertretend ein bisschen Glanz verleiht? Oder weil all die Provinzkinder aus dem Schweizer Mittelland, die heute in einer Züricher Bank, in der Basler Chemie-Industrie oder der Berner Bundesverwaltung arbeiten, sich insgeheim ein weniger hektisches Leben zurückwünschen?

Dass seine Kolumnen für Olten zu einem touristischen Faktor werden würden, hat ihn am meisten überrascht, sagt Capus. Noch heute kommen Touristen in die Buchhandlung Klosterplatz in der Altstadt und fragen nach dem Kater, erzählt Buchhändlerin Anita Meyer. Sie schickt die Leute dann zum Ildefonsplatz, wo es am wahrscheinlichsten ist, dass Toulouse mittags vorbeistolziert.

Etwa 300 Kolumnen hat Capus für den Stadtanzeiger geschrieben: Gartenzaungespräche, Heimatlegenden, Räuberpistolen. Er hat dem Establishment „systematisch ans Bein gepinkelt“, wie er sagt. Eine Geschichte aus „Mein Nachbar Urs“ ist unlängst von der politischen Wirklichkeit eingeholt worden. In „Räuber und Poulet“ setzt sich Capus ironisch mit der Fremdenfeindlichkeit seiner Mitbürger auseinander. Er schreibt: „Zum Glück sind noch wir Schweizer da, die Ausländerfeindlichkeit der Ausländer zu korrigieren. Wir leisten uns an der Urne zwar auch die ein oder andere xenophobe Dummheit, aber nur wenn’s nicht allzu sehr schadet.“ Wie erklärt er dann den knappen Abstimmungserfolg der SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung, wegen der sich derzeit halb Europa über das Wesen des Schweizers wundert?

„Es ist eine Schande. Ein Misstrauensvotum gegen einen Großteil der Menschen, die hier leben. Ich baue aber auf die Lethargie des politischen Systems. In den nächsten Jahren wird man zum Glück feststellen, dass man das Volksbegehren nicht buchstabengetreu umsetzen kann.“ Perspektivisch hofft er sogar auf einen Beitritt der Schweiz zur EU.

Wollte er denn wirklich nie weg aus Olten? Der Sohn eines Franzosen und einer Schweizerin schüttelt den Kopf: „Migrantenkinder wie ich haben ein Bedürfnis nach Sesshaftigkeit.“ Er hat seine fünf Söhne, die Kolumne und arbeitet bereits am nächsten Buch. Nebenbei betreibt der Schriftsteller Standortpolitik. Er hat das Restaurant „Flügelrad“ eröffnet und mittlerweile verpachtet. Seit drei Monaten betreibt er die „Galicia-Bar“, in der Lesungen und Konzerte stattfinden – aber bitte keine Provinzkultur. Nicht Toulouse, Capus ist der heimliche König von Olten. Und wenn es dem zu viel in seiner Kleinstadt wird, gibt es ja noch den Bahnhof.

Christoph Dorner

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