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Amalie Dietrich

© privat

Als Sammlerin in Australien: Das dunkle Geheimnis der Amalie Dietrich

1863 reist eine Deutsche nach Australien, um einem Hamburger Reeder exotische Funde zu schicken – auch Skelette von Aborigines. Der Verdacht: Hat sie diese ermorden lassen?

Das Sammeln bereite ihr viel Freude, schreibt sie. „Was kommt einem hier auch alles entgegen! Nur zuzugreifen braucht man.“ Wie interessant allein die Tierwelt sei: die Schwäne schwarz, einige Säugetiere mit Schnäbeln, die Bienen dagegen stachellos. „Alles ungefähr umgekehrt wie bei uns.“

In den Briefen an ihre Tochter berichtet die 42-jährige Naturaliensammlerin begeistert von einer fremden Welt. Australiens Fauna und Flora ist in Europa zu dieser Zeit wenig bekannt. Aber die Neugier der Wissenschaft ist groß; nicht zuletzt an den dortigen Bewohnern.

Dies ist die Geschichte der unbescholtenen Pflanzensammlerin Amalie Dietrich, die im Auftrag eines Hamburger Kaufmanns eine abgelegene Erdregion entdecken hilft, dann aber nach mehr als einem Jahrhundert als „angel of black death“, als Todesengel der Aborigines, verschrien wird. Es ist zugleich die Geschichte vom Schicksal der Ureinwohner und vom dunklen Geheimnis einer ganzen Wissenschaft, das bis heute nicht aufgeklärt ist. Kriminalisten nennen so etwas einen „cold case“ – einen Fall, der ihnen keine Ruhe lässt.

Als Amalie Dietrich im August 1863 Australien erreicht, staunt sie über die Architektur: „Die Häuser sehen aus, als hätten sie Beine und wollten davonlaufen. Als ich das sagte, lachte man und erklärte mir, man baue die Häuser auf Pfähle, der weißen Ameisen oder Termiten wegen, die hier eine große Plage sind. Ich dachte: Na, da gibt’s ja gleich was zu sammeln.“ Die britische Ansiedlung Moreton Bay, das heutige Brisbane, ist nur wenige Jahre zuvor zur Hauptstadt des neu gegründeten Bundesstaates Queensland erklärt worden. Dabei besteht sie überwiegend aus verstreut am Fluss stehenden Häusern; die meisten Menschen leben als Rinder- und Schafzüchter in Holzhütten im fruchtbaren Hinterland.

Die Deutsche ist im Auftrag des Hamburgers Johan Cesar Godeffroy unterwegs, eines der reichsten hanseatischen Kaufleute. Weitgespannte Überseegeschäfte haben ihn zum größten Segelschiffreeder seiner Zeit gemacht. Zugleich ist Godeffroy ein Mäzen der Naturwissenschaften, der in seinem Hamburger Hafen-Kontor ein weltweit einzigartiges Privatmuseum unterhält. Darin sammelt er Naturalien aller Art: Tiere und Pflanzen, zudem Waffen, Geräte und Masken der Eingeborenen – alles, was ihm seine Handelsagenten und Kapitäne aus der Ferne mitbringen.

Amalie Dietrich ist die einzige Frau unter den von Godeffroy beauftragten Sammlern. 1821 im Städtchen Siebenlehn in Sachsen als Kind eines Ledermachers geboren, besucht sie nur vier Jahre lang die Schule, lernt aber von ihrer kräuterkundigen Mutter die Wirkung und Kräfte heimischer Pflanzen. Sie heiratet einen Apotheker, der sie später betrügt, die gemeinsame Tochter Charitas vernachlässigt. Dietrich verlässt ihn und macht sich mit der Tochter nach Hamburg auf, um dort Godeffroy ihre Dienste als Naturaliensammlerin anzubieten.

Ihre Funde verschifft sie nach Hamburg

Anfangs sind es vor allem Pflanzen, die sie in der Umgebung von Moreton Bay zusammenträgt und nach Hamburg schickt. Mehr als 640 neue Arten aus der britischen Kolonie „Neu-Holland“ verzeichnen Godeffroys Kataloge. Bald sind auch immer mehr Tiere darunter: Vögel und Säuger, Reptilien und Amphibien, die von Dietrich eigenhändig ausgenommen, abgebalgt und skelettiert für den Transport vorbereitet werden.

Zwei Jahre später gelangt sie nach Rockhampton, einer der abgelegensten Außenposten der britischen Kolonie. Die anfangs nur wenigen hundert Siedler entlang der Ostküste sind meist Viehzüchter oder Glücksritter, die nach einem kurzen Goldrausch in der Nähe hängengeblieben sind. Für die Deutsche ist es das Paradies: „Welche Freiheit habe ich hier beim Sammeln“, schreibt sie an ihre Tochter. „Kein Mensch setzt meinem Sammeleifer irgendwelche Schranken.“ Sie präpariert und konserviert tausende Pflanzen und hunderte von Tieren, darunter zahllose für die Wissenschaft neue Arten. In Kisten und Fässern verfrachtet sie ihre Ausbeute auf die alle paar Monate zwischen Australien und Europa verkehrenden Schiffen Godeffroys.

Der bereut es nicht, auf Dietrich gesetzt zu haben, und instruiert sie, welche Objekte er von ihr besonders wünscht. Nachdem der Berliner Arzt und Anatom Rudolf Virchow ihn darum bittet, erteilt Godeffroy in einem der wenigen erhaltenen Briefe vom 20. Januar 1865 an Amalie Dietrich einen Auftrag von besonderer Brisanz: Sie soll nicht nur Skelette von „großen Säugetieren, sondern auch möglichst Skelette und Schädel von den Eingeborenen, sowie auch deren Waffen und Geräte“ senden. Diese seien „sehr wichtig für die Völkerkunde. Wir haben das gute Zutrauen zu Ihnen, daß Sie das alles machen werden“.

Wie aber soll sie sich Gebeine der Aborigines verschaffen? Es sind keine gewöhnlichen Naturalien wie von den Tieren, die sie sammelt oder von Siedlern, Viehtreibern oder Aborigines jagen lässt.

Durch einen später von Rudolf Virchow veröffentlichten Forschungsbericht lässt sich nachweisen, dass Amalie Dietrich 1865 oder 1866 die ersten beiden Schädel und einen halb durchbrochenen Unterkiefer australischer Ureinwohner aus der Region um Rockhampton an Godeffroy nach Hamburg schickt; später folgen acht weitere Skelette samt Schädel. Meist sind nur Geschlecht und Alter bekannt. Doch für zwei der Gebeine übermittelt Amalie Dietrich sogar die Namen: Mammi, eine etwa 40 Jahre alte Frau, und Wulure, ein etwa 35 Jahre alter Mann. Wie sie starben, ist unklar.

Was niemand in Australien heute gern hört: Zu jener Zeit behandeln die britischen Siedler, die den Ureinwohnern rücksichtslos das Land für ihre Viehweiden stehlen, die Aborigines kaum besser als Dingos, jene australischen Wildhunde, die erschossen werden, wo sie auftauchen, weil die Farmer um ihr Vieh fürchten. Nachweislich kommt es an Aborigines zu vielfachem Mord.

Was wir heute über die deutsche Sammlerin wissen, verdanken wir ihrer Tochter Charitas Bischoff. In deren 1909 erschienener Biografie „Amalie Dietrich – Ein Leben“ finden sich, ganz im Stil der Zeit, auch elf Briefe der Mutter. So erfahren wir, dass diese sich 1868 einem Ochsentreck ins Innere von Queensland anschließt. Er soll Lebensmittelvorräte in eine kleine, weit abgelegene Ansiedlung am Lake Elphinstone bringen, wo Dietrich beinahe ein ganzes Jahr verbringt und neben Pflanzen vor allem viele neue Vogelarten sammelt.

Lange glaubte man wegen dieser als authentisch geltenden Briefe, beinahe eine Autobiografie vor sich zu haben. Doch dann wies die australische Historikerin Ray Sumner nach, dass Dietrichs Tochter die Reise ihrer Mutter romanhaft verklärte. Sie hat sich der Berichte anderer Australienreisender bedient, die Briefe ihrer Mutter offenbar redigiert und retuschiert – und anschließend vernichtet; kein einziger findet sich im Original. So ist ihr Buch weniger objektive Lebensbeschreibung als vielmehr literarische Konstruktion. Da in den vermeintlichen Australienbriefen Fakten und Fiktion vermischt sind, taugen sie nicht als historische Dokumente. Zwar lassen sich anhand der Briefe wenigstens die wichtigsten Stationen der Reise entlang der australischen Ostküste rekonstruieren. Bei den Ermittlungen darüber, ob Amalie Dietrich in Morde an Aborigines verwickelt war, helfen sie nicht. Nirgends finden sich Hinweise darauf, unter welchen Umständen sie deren Gebeine einst erlangte.

Sicher ist nur: Wo immer sie während ihrer Australienexpedition hinkommt, stets ist sie an der Frontlinie eines lange verborgenen Krieges – in dem Aborigines von weißen Siedlern vertrieben und nach Belieben getötet werden, ohne Bestrafung der Schuldigen. Es ist ein Verbrechen an den australischen Ureinwohnern im großen Stil. Aberhunderte menschlicher Überreste gelangen so auf dunklen Wegen in die Museen vor allem in Großbritannien; 600 werden beispielsweise allein für die medizinische Sammlung der Universität im schottischen Edinburgh verschickt. Der Umgang britischer Siedler mit den Ureinwohnern Australiens gehört zu den trübsten Kapiteln bei der Kolonisierung des Kontinents.

„Seit sechs Wochen bin ich hier in Bowen“, schreibt Amalie Dietrich in einem Brief vom September 1869. „Schon lange hatten Godeffroys geschrieben, ich möchte ihnen doch Skelette der Eingeborenen besorgen, das war aber für mich allein gar nicht so einfach. Kinderskelette allerdings konnte ich leicht bekommen, denn die Leichen der Kinder werden meist nur in einen hohlen Baum gesteckt, der mit roter und weißer Farbe bestrichen wird.“ Krieger dagegen würden sehr feierlich bestattet: „Meist baut man auf zwei nahestehenden Bäumen oder auf einem eigens dafür hergerichteten, gabelförmigen Gestell ein breites Graslager, auf dem die Toten aufgebahrt werden und hier so lange liegen, bis die Sonne die Gebeine bleicht“. An anderer Stelle fährt sie fort: „… es hilft nichts, Godeffroys wollen es für die Sammlung haben, da darf ich mein Gefühl nicht fragen.“

In Bowen hat Amalie Dietrich den damals nördlichsten Pionierort bei der Kolonisierung des Kontinents erreicht. Die ersten Siedler sind 1861 hierher gekommen. Als Dietrich vor Ort ist, sind es bereits über tausend geworden. Sie dringt bei ihren Streifzügen in Gebiete vor, in denen kaum ein anderer Europäer war, bringt neue Arten und Naturobjekte mit, die keiner in Europa je gesehen hat. Und sie knüpft immer engere Kontakte zu den Aborigines, verbringt viel Zeit mit ihnen, weiß bald um deren Rituale. Unter den acht Skeletten samt Schädel, die Dietrich während dieser Zeit in Bowen in Kisten verpackt und nach Hamburg verschifft, finden sich fünf von 30 bis 35 Jahre alten Männern und drei von Frauen im Alter zwischen 25 und 40 Jahren; die von Mammi und Wulure sind die von den jeweils ältesten.

Im März 1873 kehrt Amalie Dietrich auf einem der Godeffroy’schen Segler aus Australien zurück, im Gepäck weitere Naturalien, die ihre Sammlung zu einer der größten machen, die jemals von dort nach Europa gelangt. Als Godeffroy sechs Jahre später Unternehmen und Vermögen verliert, muss er sein Privatmuseum verkaufen. Die wertvollen Naturalien und Artefakte vor allem aus Ozeanien werden über die Museen Europas verstreut. Die Gebeine der Aborigines landen im Leipziger Grassi-Museum für Völkerkunde. Als britische Bomber in den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1943 die Innenstadt von Leipzig in Flammen setzen und sich ein Feuersturm erhebt, wird auch das Museum von Brandbomben getroffen, große Teile der Sammlung verbrennen. Darunter sind auch die acht Skelette der Aborigines aus Bowen, die sich Amalie Dietrich beschaffte.

Das Geheimnis, wie Amalie Dietrich in den Besitz dieser Skelette und Schädel gelangte, nimmt sie mit ins Grab, als sie 1891 während eines Besuches bei ihrer Tochter in Rendsburg stirbt. Trotz aller Ermittlungen zu diesen vermeintlichen Mordfällen bleibt der Tathergang letztlich unklar.

Dass die Mordlegende um Dietrich einen wahren Kern haben könnte, legt einzig ein 1908 erschienenes Buch zur Naturforschung in Australien nahe. Darin schreibt – Jahrzehnte nach den Ereignissen – ein Henry Ling Roth: „Das berühmte Godeffroy Museum in Hamburg hatte in den Jahren 1863 bis 1873 eine Sammlerin an der Küste. Diese machte mehrfach ergebnislose Versuche, einheimische Siedler zur Ermordung von Aborigines zu überreden, damit sie das Skelett an das Museum senden könnte.“

Zwar ist hier ohne Zweifel Dietrich gemeint; allerdings berichtet Roth diese Episode aus der Region um Mackay. Erst nachträglich und Jahrzehnte später vermengt eine australische Historikerin den Vorfall mit der Geschichte einer weiter südlich bei Rockhampton ansässigen Siedlerfamilie zur Legende, die Amalie Dietrich in Australien dann zum Todesengel werden lässt. Die Gebeine der Aborigines für das Museum Godeffroy, darunter auch die der namentlich bekannten Aborigines Wulure und Mammi, stammen definitiv aus einer anderen Region.

Wir können nur mutmaßen, dass sich Dietrich in Grabplünderei und Diebstahl von sterblichen Überresten der Aborigines verstrickte. Fußnoten in den wissenschaftlichen Arbeiten sind bis heute die einzigen Zeugnisse ihrer Aufsammlungen in Australien – und natürlich jene Naturobjekte, die nach abenteuerlicher Odyssee heute oft unerkannt in vielen Museumssammlungen verwahrt werden.

Matthias Glaubrecht

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