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das Tor zum Konzentrationslager, wie es heute erhalten ist

© AFP

Gesellschaft: Als Spion in Auschwitz

Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz befreit. Vom dortigen Grauen wusste die Welt bereits. Nicht zuletzt dank eines polnischen Offiziers, der freiwillig ins Lager ging – und wieder ausbrach.

Was soll man über einen Mann sagen, der freiwillig nach Auschwitz ging? Der sich als einziger Mensch in ein Lager bringen lässt, in das über eine Million Menschen deportiert wurden und das nur jeder sechste mehr oder weniger lebend verließ?

Es ist patriotisch, sagen polnische Diplomaten. Es ist heroisch, sagt der Oberrabbiner von Polen. Es ist Wahnsinn, sagt die Vernunft.

Witold Pilecki jedoch ist bei völlig klarem Verstand, als er sich am 19. September 1940 in Warschau auf die „Allee der Polnischen Armee“ begibt. Die deutsche SS hat wieder eine Razzia begonnen, nun sammelt sie ihre Opfer. Mit Papieren ausgestellt auf „Tomasz Serafínski“, mischt sich Pilecki unter die Gefangenen.

Seit einem Jahr ist Polen da schon besetzt. Als Deutschland seinen Nachbarn überfiel, prallte waffentechnisch der Zweite auf den Ersten Weltkrieg. Blutig und kurz waren die Kämpfe. Doch im Untergrund leisten polnische Soldaten weiter Widerstand. Pilecki, geboren 1901, hatte schon als Jugendlicher im Ersten Weltkrieg für sein Land gekämpft. Nun gründet der Kavallerie-Offizier die Polnische Geheimarmee.

Im Sommer 1940 erfährt diese Geheimarmee von einem Lager. Polen nennen die nächstliegende Stadt Oswiecim; unter den Deutschen heißt sie Auschwitz. Dort, so munkelte man, sollen polnische Lehrer, Priester, Ingenieure hingebracht werden, vielleicht sogar getötet. Die Geheimarmee entscheidet, Pilecki in das Lager zu schicken, damit er – unter falschem Namen – spioniert.

Der Plan scheint an jenem Sommerabend 1940 zu funktionieren. Pilecki muss mit Hunderten anderer im Scheinwerferlicht einer Reitbahn auf dem Boden übernachten. Zwei Tage später werden sie weggebracht, erst auf Lastwagen, dann im Güterwaggon, bis der Zug am Abend hält. Türen werden aufgerissen, Hunde bellen, gleißende Lampen blenden die Insassen. Pilecki hört, wie Wachsoldaten einen Passagier anbrüllen, er solle loslaufen. Er wird erschossen, genau wie zehn weitere – als Strafe für den „Ausbruchsversuch“. An einem Stacheldrahtzaun angekommen, führen die SS-Männer die Gefangenen durch ein Tor. „Arbeit macht frei“ steht darauf.

947 Tage wird Pilecki in Auschwitz verbringen. Als er in das Lager hineinging, war es ein Konzentrationslager für polnische politische Gefangene, als er daraus flieht, ein Brandmal der Menschheit.

Was wir über Pileckis Odyssee wissen, entstammt vor allem den Berichten, die er während und nach seiner Lagerzeit schrieb. Über die ersten Stunden im KZ vermerkt er darin: „Im unheimlichen Lichtschein, den die Scheinwerfer von allen Seiten warfen, erkannten wir Wesen, die wie Menschen aussahen, deren Verhalten aber dem wilder Tiere glich.“

Pilecki blickt in einen Abgrund, sieht kaum vorstellbaren Sadismus. Er berichtet von dem Häftling Ernst Krankemann, einem verurteilten Mörder, der als Kapo das Straßenbaukommando leitet, dabei die Planierwalze nutzt, um Gefangene zu überrollen. Der SS-Sanitäter Klehr rammt Häftlingen Phenolspritzen ins Herz, er „mordete mit der Nadel mit gewaltigem Eifer, mit irrem Blick und sadistischem Lächeln“. Pilecki fährt fort: „Nach jeder Tötung eines Opfers machte er einen Strich an die Wand. Die Liste der von ihm Getöteten umfasste zu meinen Zeiten gegen vierzehntausend, und dafür rühmte er sich täglich mit großer Zufriedenheit.“

Pilecki entgeht den Torturen, auch dem „Blutigen Alois“ und dem „Würger“. Doch mit anzusehen, wie Menschen derart sterben, schürt den Hass in ihm. „Ich spürte, dass wir alle endlich durch dieselbe Wut vereinigt waren, in einem Durst nach Rache“, schreibt Pilecki über sich und seine Mitgefangenen.

Pilecki soll spionieren und Berichte nach außen schleusen. Vor allem aber soll er eine Untergrundorganisation aufbauen. Im Falle eines Aufstandes oder eines Angriffs von außen könnte die den Widerstand organisieren. Nach und nach rekrutiert er ein dichtes Netz aus je fünf Männern, hauptsächlich Polen. Er spricht sie bei der Zwangsarbeit an, zieht sie ins Vertrauen. Um die Organisation nicht zu gefährden, verrät er den Fünfergruppen nur wenig voneinander.

Nach einigen Wochen orchestriert Pilecki so Hilfen im Lager. Wer schwach ist, erhält eine zweite Ration, wer krank ist, einen Arbeitsplatz mit einem Dach über dem Kopf. Doch bis die erhofften Partisanen außerhalb des Lagers stark genug sind, können die Insassen den täglichen Erschießungen und Folterungen nur tatenlos zusehen.

Wie der erste Bericht nach draußen gelangt

das Tor zum Konzentrationslager, wie es heute erhalten ist
Das Tor zum Konzentrationslager, wie es heute erhalten ist.

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Ein Häftling, der im November 1940 entlassen wird, schmuggelt seinen ersten Bericht nach draußen. Über Warschau und Stockholm erreicht der Report London, den Sitz der polnischen Exilregierung. Die leitet ihn im März 1941 an die britische Regierung weiter. Doch was die nun zum ersten Mal zu lesen bekommt, wird für unzuverlässig und übertrieben gehalten. Dabei steht das Schlimmste noch bevor.

Im September 1941, ein Jahr nach Pileckis Ankunft, kann das Stammlager die ankommenden Menschenmassen kaum noch bewältigen. Von der Front treffen tausende sowjetische Kriegsgefangene ein. Die Russen gehören zu den ersten, an denen man Zyklon B ausprobiert. Ein zweites Lager wird nun drei Kilometer entfernt errichtet: Birkenau. Kaum jemand kehrt aus Auschwitz-Birkenau zurück. Es ist das Vernichtungslager.

Pilecki darf im Stammlager bleiben. Hier arbeiten sich die Gefangenen zu Tode, sie erfrieren in der Kälte oder man stellt sie an die „Todesmauer“, besonders gern an polnischen Feiertagen. Zehntausende Menschen gehen im Stammlager zugrunde.

Auch ein Lager des Grauens braucht eine Infrastruktur, braucht Bäcker, Klempner, Schuster, Maurer. Wer überleben will, sollte backen und klempnern, schustern und mauern können. Oder jedenfalls so tun als ob.

„Du bist nicht vielleicht Ofensetzer?“, wird Pilecki eines Tages von einem Kapo gefragt. „Jawoll, ich bin Ofensetzer“, erwidert Pilecki, ohne zu überlegen. Pilecki soll einen Arbeitstrupp zusammenstellen, er wählt vier Mithäftlinge. Dann bringen die Wachen sie in die Wohnung eines SS-Mannes. Pilecki und seine Kameraden sollen den Kachelofen von einem Raum in den nächsten umsetzen. Der SS-Mann erklärt, was zu tun ist, und geht. Im lakonischen Ton, den sein ganzer Bericht durchzieht, schreibt Pilecki: „Ich fragte in die Runde, ob irgendjemand eine Ahnung vom Ofensetzen habe. Das war nicht der Fall.“ Da stehen also fünf Häftlinge, keiner vom Fach, und schauen sich gegenseitig an.

„Wer um sein Leben kämpft, bringt Dinge fertig, die er nie für möglich gehalten hätte.“ Stück für Stück baut Pilecki den Ofen ab, merkt sich jedes Teil und setzt ihn wieder zusammen. Vier Tage Zeit für einen Ofen, vier Tage Zeit, um ein Leben außerhalb des Stromzauns zu sehen, wo Menschen ihren Nachbarn helfen, Ehemänner ihre Frauen küssen, gemeinsam frühstücken. „Als ich dann am fünften Tag den neuerrichteten Ofen das erste Mal versuchsweise befeuern sollte, schaffte ich es, im Lager so gründlich verloren zu gehen, dass ich unentdeckt blieb.“

Wenn es in dieser Geschichte nicht um Leben und Tod ginge, um Auschwitz und industrielles Morden, könnte man Pilecki für eine Art Hauptmann von Köpenick halten. Er gibt sich auch als Gerber aus, als Schreibhilfe und Bäcker, Schreiner und Kartograf. Aber Pilecki narrt nicht eine bornierte preußische Obrigkeit. Er düpiert Wachmannschaften mit Totenkopf auf den Kragenspiegeln.

Witold Pilecki mag sportlich gewesen sein, robust, trickreich und intelligent. Vor allem aber hatte er unfassbar viel Glück.

Er überlebt schwere Krankheiten

das Tor zum Konzentrationslager, wie es heute erhalten ist
Das Tor zum Konzentrationslager, wie es heute erhalten ist.

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„Ich bin eine ziemlich merkwürdige Natur, wie ich mehr als einmal bemerkt habe. Andere Menschen verlieren den Appetit, wenn sie Fieber haben; ich dagegen fresse wie ein Scheunendrescher.“ Er erkrankt an Typhus, holt sich eine Lungenentzündung – und überlebt beides, wiewohl nur knapp, dank der Hilfe seiner Vertrauten. Von der Küche bis zur Gerberei, vom Postamt bis zum Stall besetzen seine Kameraden wichtige Posten. An besonders verhassten Aufsehern rächen sich Pileckis Leute. Sie sammeln Läuse, die auf Typhus-Infizierten saßen, und spucken sie mit Blasrohren auf Wachmänner – einige erkranken, sterben sogar. Sie locken Kapos in einen Hinterhalt. Die Erschlagenen werden von Pileckis Kameraden im Krematorium verbrannt, um keine Spuren zu hinterlassen.

Und doch kommt die SS der Untergrundbewegung auf die Schliche. Rund 50 Gefangene werden exekutiert. Immer mehr werden in andere Lager verlegt, nach Buchenwald, Sachsenhausen oder Neuengamme.

Im Frühjahr 1943, nachdem er drei Winter in Auschwitz überlebt hat, beschließt Pilecki zu fliehen. Als Fluchtort wählen er und zwei seiner Mitgefangenen die Bäckerei. Sie liegt außerhalb des Lagers. Kein Zaun trennt sie vom Umland. „Jasiek“, ein Freund, der dort arbeitet, nimmt mit frischem Brot Abdrücke eines Schlüssels und einer Schraubenmutter, die die Außentür versperren. Ein befreundeter Schlosser fertigt die nötigen Werkzeuge. Kameraden arbeiten zu, versorgen sie mit Essen, Kleidung, aber auch Tabak, um die Spürhunde zu verwirren.

Derart bepackt, warten Pilecki und seine Kumpanen auf die Osternacht 1943. Als beide Wachposten in der Bäckerei nicht aufpassen, werfen sich die drei gegen die Außentür, bis sie schließlich aufschwingt. Dann rennen sie los. Obwohl er von einer Wache angeschossen wird, schafft es Pilecki schließlich bis nach Warschau.

Doch die Geschichte des Witold Pilecki ist damit nicht zu Ende.

Der Zweite Weltkrieg wütete noch zwei weitere Jahre. Im Dienste der polnischen Heimatarmee kämpfte Pilecki 1944 beim Warschauer Aufstand mit. Er sinniert bis zur Befreiung von Auschwitz darüber, wie man das Lager hätte erobern können, erst von innen, dann von außen. Doch die polnische Heimatarmee zögert. Sie hält einen Angriff ohne alliierte Hilfe für aussichtslos.

Pileckis Report von 1940 gilt als erster Bericht aus Auschwitz, und spätestens ab 1942 war bekannt, was in den Vernichtungslagern vor sich ging. Allein: das Lager im Süden Polens war für britische Bomber praktisch nicht zu erreichen. Auch deshalb wurde das KZ nie von außen angegriffen. Am 27. Januar 1945 befreiten schließlich Soldaten der Roten Armee die letzten Gefangenen. Erst dann wurde die Welt endgültig gewahr, dass Pilecki nicht übertrieben hatte.

So unglaublich klingt selbst für heutige Leser die Geschichte, dass man sich fragt, ob sie wahr sein kann. „Die Originale der ersten Reporte sind zwar verloren gegangen“, sagt Piotr Setkiewicz, Leiter der Forschungsabteilung im Auschwitz-Museum. „Aber es besteht kein Zweifel, dass Pilecki die Quelle der allerersten Berichte aus Auschwitz ist, die im März 1941 in London eintrafen.“ Dass Pileckis Geschichte in der Öffentlichkeit lange unbekannt blieb, hat einen anderen Grund.

Polen fiel 1945 unter kommunistische Herrschaft. Die Rote Armee installierte ein Moskau-treues Regime. Doch das war nicht das Polen, das Pilecki erkämpfen wollte. Und so spionierte er weiter für die antikommunistische Opposition. Das wurde ihm zum Verhängnis.

Im Jahr 1947 nahmen ihn Agenten des Regimes fest. Sie beschuldigten ihn der „westlichen Spionage“, folterten ihn, rissen ihm die Nägel aus. Pilecki, der für sein Heimatland ins KZ gegangen war und daraus floh, der Hauptmann der polnischen Kavallerie, der im Warschauer Aufstand kämpfte, wurde vor Gericht gestellt, wegen Landesverrats verurteilt und 1948 erschossen. Einen „Feind des Volkes“ nannte man Pilecki damals.

65 Jahre später, im Januar 2013, steht Ryszard Schnepf auf einem Podium in Washington. Der Botschafter Polens spricht zu den Besuchern, die wegen Pilecki ins Holocaust Memorial Museum gekommen sind. Schnepf nennt ihn einen „Diamanten unter den polnischen Helden“. Längst ist das polnische Staatsräson. Nach dem Fall des alten Regimes 1989 wurde Pilecki voll rehabilitiert, postum ehrte ihn der Staat mit den höchsten Orden des Landes. Michael Schudrich, der Oberrabbiner von Polen, nennt Pilecki einen „Helden für die Juden von Polen“.

Lange hatten polnisch-jüdische Gruppen dafür geworben, Pilecki auch als Kämpfer gegen den Holocaust wahrzunehmen. In keinem Land starben mehr Juden als im deutsch besetzten Polen. Aber aus keinem Land stammen auch mehr „Gerechte unter den Völkern“. Über 6000 Menschen haben sich nachweislich unter Einsatz ihres Lebens für Juden eingesetzt, indem sie sie versteckten, versorgten oder außer Landes brachten.

Doch nach seiner Verurteilung 1948 versuchten die damaligen Machthaber jede Spur und jede Erinnerung an Pileckis Taten zu tilgen. Sie ließen sein Haus zerstören, sein Grab schänden. Das wirkt nach. In der Abteilung der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, die für die „Gerechten unter den Völkern“ zuständig ist, ist Pileckis Hauptbericht bis heute unbekannt. Man verspricht jedoch, seinen Fall zu prüfen, falls die nötigen Dokumente noch vorgebracht werden.

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Orell Füssli erschienen (256 Seiten, 19,95 Euro).

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