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Anne Applebaum: „Viele Berliner waren nie in Polen – seltsam“

Sie las Nabokov, ging nach Leningrad und fand: Brot, Essig und ängstliche Menschen. Später traf Anne Applebaum auf dem Weg zu Helmut Kohl ihre große Liebe.

Mrs. Applebaum oder Frau Sikorska?

Egal. Je nach Situation benutze ich mal den einen, mal den anderen Namen.

Vor Kurzem haben Sie die polnische Staatsbürgerschaft angenommen.

Ja, das fühlte sich richtig an. Ich lebe mit Unterbrechungen nun schon 20 Jahre hier. Meine Söhne Alexander und Tadeusz sind Polen. Aber meinen amerikanischen Pass habe ich auch noch.

Ich möchte mit Ihnen über Osteuropa sprechen …

… wenn Sie damit Polen oder Tschechien meinen, reden wir ja eigentlich von Mitteleuropa. Früher wurden Länder wie Polen, Ungarn oder Albanien nicht als eine Region betrachtet. Sie haben unterschiedliche Sprachen und Religionen, waren vor dem Zweiten Weltkrieg nie Teil eines gemeinsamen Reichs. Sie alle als Osteuropa zu bezeichnen, ist nur sinnvoll für die Zeit von 1945 bis 1989.

Der Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher ist von Berlin nach Moskau gelaufen. Wo er auch hinkam, sahen sich die Leute gerade noch als Teil des Westens. Der Osten, das sind immer die anderen.

Dass der Begiff negativ klingt, liegt sicher auch am Kommunismus. Die Polen betrachten sich neuerdings gern als Teil von Nordeuropa. Denn ihre stärksten ökonomischen und politischen Verbindungen bestehen zu Deutschland und Skandinavien. Einer der engsten Freunde meines Mannes ist der schwedische Außenminister Carl Bildt. Vielleicht hat Polen derzeit mehr gemein mit seinem Land als mit Ungarn. Jedenfalls sollten wir aufhören, vom post-kommunistischen Europa zu reden. Der Mauerfall liegt fast 25 Jahre zurück. Österreich nennen wir auch nicht Post-Habsburg.

Sie sind in Washington groß geworden. Was für ein Bild hatten Sie vom Ostblock?

Für mich begann Sibirien direkt hinter dem Checkpoint Charlie. Ein weites Land, in dem nur Bauern und Arbeiter leben. Als Jugendliche wusste ich nicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen Ungarn und Russland.

Wann waren Sie das erste Mal dort?

Ich habe an der Uni Russisch gelernt, weil ich russische Literatur mochte. Mein Lieblingsschriftsteller war Nabokov, dessen Frühwerk wollte ich im Original lesen. Mitte der 80er Jahre machte ich einen zweimonatigen Sprachkurs in Leningrad. Die Perestroika hatte noch nicht oder gerade erst begonnen. In der Luft lag der Geruch maroder Abflussrohre, die Gebäude verfielen, in den Geschäften gab es bloß Essig und Brot. Ich erinnere mich, wie ich den Newski-Prospekt entlanglief, und die Leute Angst hatten, wenn ich sie ansprach. Lernte ich jemanden kennen, durfte ich den aus Sicherheitsgründen nicht aus dem Wohnheim anrufen.

Klingt gruselig.

Es war das Gegenteil von dem, wie ich aufgewachsen war. Mich hat gereizt, hinter die Fassade zu blicken, zu erfahren, was die Menschen dachten.

Ende 1988 wurden Sie Korrespondentin des Magazins „Economist“ in Warschau. War es dort anders?

Die Leute waren nicht nur extrem freundlich, sie führten auch ein normaleres Leben. Ich mietete mich bei einem Paar ein, er Maler, sie Architektin, die in einer bezaubernden Dachgeschosswohnung in der Altstadt wohnten. Als Ausländerin, die bei Polen unterkam, hätte ich bei der Polizei registriert werden müssen. Aber die beiden sagten: Nein, das machen wir nicht, wir glauben nicht an dieses Gesetz, und wenn sich keiner daran hält, kann es nicht durchgesetzt werden. Diese Atmosphäre herrschte überall, das hat mir gefallen.

Welche Geschichte hinter Applebaums Haus steckt

Stimmt es, dass Sie Ihren Mann beim Mauerfall in Berlin kennengelernt haben?

Nicht ganz. Radek verließ Polen 1981. Er lebte in Großbritannien im Exil, studierte dort …

In Ihrem Bad hängt ein Foto, das ihn in Oxford zeigt, neben Boris Johnson, heute Londons Bürgermeister.

… und wurde Journalist. Er hat aus Angola und Afghanistan berichtet. Ende 1989 kam er zurück in die Heimat, als Korrespondent einer britischen Zeitung. Als die Mauer fiel, war Helmut Kohl gerade auf Staatsbesuch in Warschau. Am Morgen des 10. November bin ich ins Pressezentrum – wo es außer Radek und mir niemanden gab. Kohl war natürlich längst zurück in Deutschland. Radek, ich und ein weiterer Kollege beschlossen, nach Berlin zu fahren. Neun Stunden auf schlechten Straßen in meinem unglaublich kleinen Daihatsu.

Wir treffen uns in Ihrem Landhaus im Dörfchen Chobielin, in der Nähe von Thorn, im Norden Polens. Die Familie Ihres Mannes hat es 1988 gekauft, und ...

… warten Sie, ich zeige Ihnen unser Fotoalbum. Dieses Bild wurde 1990 aufgenommen. Sehen Sie: Die Fenster waren kaputt, der Rest total heruntergekommen. Das Dach mussten wir abnehmen, weil es zusammenfiel. Die Mühle nebenan stammt aus dem Mittelalter, das Haus selbst vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Es hat 15 Jahre gedauert, es Schritt für Schritt wiederherzurichten. In dem Raum, wo wir jetzt auf dem Sofa sitzen, sind meine Kinder noch Roller gefahren.

In seinem Buch „Das polnische Haus“ schreibt Ihr Mann, dass solche Herrenhäuser – mit einem Park drumherum und einem weißen Eingangsportal mit Säulen – eine große Bedeutung für Polen haben.

Als das Land im 19. Jahrhundert von der Europakarte verschwunden war, wurde in ihnen die nationale Kultur am Leben gehalten. Nach 1945 verfielen sie. Mein Mann, und er war nicht der Einzige mit so einer Idee, wollte das Haus aussehen lassen, als habe es den Kommunismus nie gegeben. Mein Job war hauptsächlich die Dekoration.

Hier stehen Biedermeier-Möbel, ein altes Telefon, ein Radioempfänger aus den 50er Jahren.

Es ist eine britisch-polnische Mischung. Die Schwerter an der Wand sind ein Geschenk, das Radek erhalten hat, als er Verteidigungsminister war. Das ist so eine polnische Tradition, die wohl aus der Türkei stammt: dass man sich einen Teppich an die Wand hängt und Schwerter.

Und neben uns, ist das eine Orgel?

Ein Schreiner hat sie gebaut. Ich kann sie leider nicht spielen. Manchmal veranstalten wir Konzerte, zum Beispiel als Ihr Außenminister Steinmeier bei uns übernachtet hat.

Nach „Der Gulag“ haben Sie mit „Der Eiserne Vorhang“ nun ein Buch über die sowjetische Unterdrückung Osteuropas von 1944 bis 1956 geschrieben. Was fasziniert Sie so am Stalinismus?

Es ist eine der seltsamsten Phasen der Geschichte. Ich war dabei, als der Kommunismus zusammenbrach und habe mich gefragt, wie es überhaupt zu diesem System kommen konnte. 1989 glaubte keiner mehr an die Parolen, doch man musste sie respektieren. Eine gigantische Scharade. In Wroclaw gab es eine wunderbare Oppositionsgruppe aus Studenten. Die behandelten den Kommunismus als Kunstwerk, demonstrierten mit Stalin-Bildern. Die Polizei wusste nicht, was sie tun sollte.

Im Buch konzentrieren Sie sich auf die DDR, Ungarn und Polen. Lief die Machtübernahme durch die Kommunisten überall ähnlich ab?

Es gab ein klares Muster. Überrascht hat mich, dass die Priorität nicht die Umgestaltung der Wirtschaft war, wie man das von Marxisten erwarten würde. Stattdessen bauten sie den Geheimdienst auf, brachten den Rundfunk unter ihre Kontrolle – und alles, was wir heute als Zivilgesellschaft bezeichnen: Verbände, Kirchen- und Jugendgruppen.

Sie haben mit Zeitzeugen gesprochen, in Deutschland zum Beispiel mit dem SPD-Politiker Egon Bahr und dem Schriftsteller Erich Loest. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?

Hans Modrow.

Ausgerechnet ein früherer SED-Funktionär?

Ich wollte mit ihm sprechen, weil er eine wichtige Rolle in der FDJ gespielt hat. Modrow hat sich nicht nur viel Zeit für mich genommen, er war auch sehr ehrlich, hat nichts gerechtfertigt oder entschuldigt. Er sprach darüber, dass er als Jugendlicher ein glühender Nazi gewesen war und wie sehr es ihn erschütterte, als er nach dem Krieg lernen musste, dass alles, was man ihm erzählt hatte, falsch war. So kam er zum Kommunismus.

Wie Applebaum das heutige Russland sieht

Auch die Vertreibungen am Ende des Kriegs halfen Ihrer Meinung nach dabei, die kommunistische Herrschaft zu errichten. Warum?

Nehmen Sie das Sudetenland. Die Kommunisten vertrieben die Deutschen, das verschaffte ihnen Grundbesitz, den sie behalten oder verteilen konnten. Es machte sie zumindest zeitweise populär. Denn die tschechische Bevölkerung wollte Rache. Außerdem: Was passiert, wenn man Menschen umsiedelt, so wie es mit hunderttausenden Polen und Ukrainern passierte? Die Leute werden abhängig vom Staat. Ihre sozialen Beziehungen sind zerstört, Widerstand wird unwahrscheinlicher.

Hier in der Region wurden nach 1945 ebenfalls Deutsche vertrieben.

Auch da ging es um Rache. Als die Wehrmacht die Gegend einnahm, begrüßte die große deutsche Minderheit die Nazis freudig. Die Leute warfen Polen aus ihren Häusern, brachten sie sogar um. Dadurch entstand viel Feindseligkeit.

Die Bevölkerung war jahrhundertelang gemischt. Polen und Deutsche haben sich immer wieder furchtbare Dinge angetan.

Im 19. Jahrhundert war die Region ein Teil Preußens beziehungsweise Deutschlands. Als nach dem Ersten Weltkrieg wieder ein Staat Polen entstand, wurde sie polnisch. Unser Haus gehörte erst Deutschen, dann Polen, und unter den Nazis bekam es eine Familie von Deutschbalten aus Estland, die 1945 wieder von hier fliehen musste. Die Tochter ist heute eine alte Dame und lebt in Kassel, sie hat uns einen netten Brief geschrieben.

Gab es nicht auch deutsch-polnische Familien?

Viele. Als wir das Haus hergerichtet haben, half uns dieser ältere Mann, Herr Ehrlich, ein lokaler Handwerker. Er kam aus einer solchen Familie. Sein Vater hatte unter den Nazis erklärt, er sei Pole. Das war gefährlich, doch er überlebte. Der Onkel dagegen sagte, er sei Deutscher. Er kämpfte in der Wehrmacht – und fiel an der Ostfront.

Sie schreiben, die Staaten, in denen es während des Kommunismus noch eine aktive Zivilgesellschaft gab, hätten den Systemwechsel am besten gemeistert. An welche Länder denken Sie?

Polen ist ein offensichtliches Beispiel. Mit der Solidarnosc gab es hier eine unabhängige Gewerkschaft mit Millionen Mitgliedern. Zum Teil liegt es daran, dass die Polen so lange unter Fremdherrschaft gelebt haben. Sie waren es gewohnt, gegen den Staat zu kämpfen. Umgekehrt glaube ich, dass die fehlende Tradition einer Zivilgesellschaft eines von Russlands größten Problemen ist.

Erinnert Sie Putins Herrschaft an die Sowjetunion?

Russland fühlt sich für mich nicht wie eine unterdrückte Gesellschaft an, es ist in vielerlei Hinsicht sehr dynamisch. Ich glaube auch nicht, dass Putin ein Stalinist ist. Aber sein Weltbild ist sowjetisch geprägt. Die Perestroika-Zeit in Russland hat er verpasst, denn ab 1985 war er KGB-Mitarbeiter in Dresden. Besonders wichtig für ihn dürfte die Zeit davor, unter Juri Andropow gewesen sein ...

... der den Geheimdienst von 1967 bis 1982 leitete.

In den 50er Jahren war Andropow Botschafter in Budapest und erlebte dort den ungarischen Volksaufstand. Der begann unschuldig, mit Studentengruppen und Diskussionen, doch am Ende standen heftige Kämpfe. Die Lehre für Andropow: Was harmlos erscheint, kann sehr gefährlich werden. Schauen Sie sich an, wie Putin heute gegen die Zivilgesellschaft vorgeht. Er lässt selbst kleine Gruppen gängeln und einschüchtern. Und er kreiert Organisationen, die unabhängig aussehen, es aber nicht sind. Das sind Methoden, die mich an die in Osteuropa nach dem Krieg erinnern.

Sie schreiben eine außenpolitische Kolumne in der „Washington Post“. Können Sie sich als Frau des Außenministers kritisch über Polen äußern?

Ich schreibe dort gar nichts mehr über Polen.

Was stört Sie an Ihrer neuen Heimat?

Der Verkehr. Polens Infrastruktur hat mit dem Wachstum nicht Schritt gehalten. Es gibt zu viele Autos auf zu engen Straßen, zu wenige Stadtbusse, und die Züge sind dreckig und langsam.

Stimmt der Eindruck, dass sich Mitteleuropa eher in Richtung Großbritannien und Amerika orientiert?

Ja, allerdings weniger als noch vor zehn Jahren. Aufgrund der Geschichte misstraut man hier den traditionellen Mächten auf dem Kontinent. Außerdem erscheinen England oder die USA offener und internationaler. Die deutsche Politik hat viel zum Positiven verändert. Die Leute haben keine Angst mehr vor Deutschland.

Mrs. Applebaum, in Polen scheint sogar das Essen eine außenpolitische Angelegenheit zu sein.

Was meinen Sie?

Sie haben auf Englisch ein polnisches Kochbuch herausgebracht, in dem erfährt man, dass sich während des russisch-georgischen Kriegs 2008 die Speisekarten in Polen veränderten.

Ja, es gab plötzlich georgische Weine und Gerichte, und das berühmte georgische Mineralwasser „Borjomi“ wurde überall verkauft.

Das größte Vorurteil über die polnische Küche?

Dass sie zu fett und salzig ist. Ich habe selbst einen kleinen Garten hinterm Haus, da wachsen Bete, Kartoffeln, Dill, Rettich, Karotten, Kürbis, Pastinaken ... Es gibt hier längst eine Slow Food-Bewegung, die Köche kehren zu den Wurzeln zurück und modernisieren die Küche gleichzeitig. Das Beste sind die Suppen, besonders Zurek, die ist einfach und exotisch zugleich.

Ihr Lieblingsplatz hinterm Eisernen Vorhang?

Die polnische Küste, besonders Sopot und Gdansk. Die Halbinsel Hel hat wunderbare Strände und Kiefernwälder.

Sie waren zwei Mal als Stipendiatin an der American Academy am Wannsee. Was haben Sie in Berlin über den Blick der Deutschen gen Osten erfahren?

Ich habe einige Leute kennengelernt, die sich sehr gut mit Mittel- und Osteuropa auskennen. Überhaupt hat mich die Tiefe der intellektuellen Diskussion in der Stadt sehr beeindruckt. Allerdings ist mir aufgefallen, dass viele Berliner noch nie in Polen waren. Obwohl es nun wirklich nicht weit entfernt ist. Das finde ich seltsam.

Ihr Mann soll sich in einem Berliner Hotel mal sehr übers Fernsehprogramm geärgert haben.

Das war im Adlon. Es gab, ich weiß nicht wie viele Kanäle: aus Katar, aus der Türkei. Aber keine polnischen. Er hat sich dann beim Management beschwert. Ich glaube, jetzt gibt es welche.

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