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Zugeparkt, und nun? Im sizilianischen Verkehr braucht man starke Nerven.

© Getty Images/iStockphoto

Autofahren in Süditalien: Das große Blechen

Wer auf Sizilien Auto fährt, sei lebensmüde, heißt es. Hupen in allen Tonlagen, keiner lässt einen vor, und dann – ein Unfall? Porca miseria!

Vor dem Fiat verschwimmt die Landstraße. Ft ft ft ziehen die Markierungsstreifen unter der Motorhaube durch. Am Himmel strahlt die sizilianische Sonne, am Horizont glitzert das Meer bei Aci Castello. Da schert der Wagen aus.

Er überholt vor einer Linkskurve, schießt auf die Gegenfahrbahn, hupt. Sizilianisches Gemüt, denkt man noch, da rast dem armen Kerl ein Auto entgegen, mitten in der Kurve, nach rechts kann er nicht mehr, dort ist der andere Wagen, links die Leitplanke. Es wird knallen, Blech auf Blech am Nachmittag. Porca miseria.

Das größte Abenteuer Siziliens ist nicht auf den Ätna zu klettern, da stehen sich Touristen in Dreiviertelhosen auf den Füßen rum. Es ist auch nicht das Städtchen Taormina zu besuchen, da war zwar Goethe, aber wo war Goethe nicht? Es ist das Autofahren.

Die Schreiber von Reiseblogs, Zeitungsartikeln und Fremdenführern sind sich einig: Wer auf Sizilien in ein Auto steigt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit lebensmüde. „Nie wieder im Auto!“, fasst eine Bloggerin ihre Erfahrungen zusammen. Der nächste ergänzt: „Was man bei uns in Deutschland Drängler nennt, nennt man in Sizilien einen ganz normalen Fahrer.“ Die meisten Unfälle im Ausland passieren deutschen Autofahrern in Italien, rund 17 Prozent, 2017 waren das 5519. Das Auswärtige Amt warnt lakonisch: „Die Regeln der Straßenverkehrsordnung werden nicht immer eingehalten.“

Alles übertrieben? Folgender Versuchsaufbau: Was lässt sich lernen über die Sizilianer, wenn man mitfährt, quer über die Insel, ein paar Tage lang?

Der 360°-Blick reicht lange nicht

Der Fiat wartet am Flughafen. Unbedingt Vollkasko wählen, hatte die Mitarbeiterin der Mietwagenfirma geraten. Eine kurze Prüfrunde ums Auto ergibt, dass der Mietwagen einen Kratzer am linken Kotflügel aufweist, der von der Firma nicht eingezeichnet war. Zurück zum Schalter, der Kratzer hier, Augenrollen. Zittriger Fuß auf dem Pedal, während der Fiat aus der Tiefgarage rollt. Erste Etappe: Trapani – Catania, quer über die Insel. Nach zwei Kilometern schießt ein Rollerfahrer mit 60 aus einer Einfahrt. Den Helm muss er vergessen haben, dafür fährt er einhändig, um mit der anderen Hand anzuzeigen, dass man sich besser gar nicht erst aufregen solle.

Fahrzeuge tauchen in Sizilien jederzeit und überall auf. Diese Erkenntnis animierte den bislang verkannten Reiseblogger Eberhard Opl zu einer Wutrede, nachlesbar im Netz. „Es reicht im sizilianischen Verkehr der stete 360°-Blick lange nicht“, schreibt Opl, „man muss einen Kugel-Blick haben, in alle drei Dimensionen.“

Auf Sizilien, notiert er weiter, treffe man autofahrend nicht nur auf Mopeds, Mofas, Fußgänger, Laster, Busse, Pferdefuhrwerke oder Rollstühle, nein: „Im sizilianischen Verkehr ist es nicht unwahrscheinlich, dass plötzlich ein U-Boot aus einem Gulli kommt, ein Panzer um die Ecke, ein UFO oder ein Engel vom Himmel fallen, die Rolling Stones auf der Straße ein Konzert geben, eine Horde Babykatzen oder Prostituierte in der dritten und vierten Reihe den Weg blockieren, die Straße ohne Ankündigung und ohne Umleitung komplett gesperrt, vielleicht sogar einfach weg ist, und nur noch ein nicht abgesichertes großes Loch prangt, wo einst Straße war.“

Süditalien, der „prollige Cousin“ des Nordens

Kaltherzig lesen sich diese Zeilen, wenn man im Sommer Nachrichten geschaut hat. Beim Brückenunglück in Genua starben 43 Menschen, noch ist nicht klar, warum die Brücke einstürzte. Auf Sizilien wurden vorsichtshalber zwei Brücken desselben Architekten gesperrt, einsturzgefährdet. Bröselnde Bauwerke kennt man auf der Insel. 2015 brach bei Palermo ein Viadukt in sich zusammen, er war gerade zehn Tage geöffnet. Die Baufälligkeit süditalienischer Straßen als Chiffre: für das Chaos der Region, für Korruption, Vetternwirtschaft, Mafia. Dass das Brückenunglück nun ausgerechnet in Genua passierte, im Norden, ist dabei ironisch.

Italien ist noch immer zweigeteilt. Der Norden, das kostümtragende Mailand als sein Symbol, gilt als eine der reichsten Gegenden Europas. Armani, Fiat, Barilla. Süditalien, der Mezzogiorno, als eine der ärmsten. Das Bruttoinlandsprodukt des Südens ist bis zu 40 Prozent niedriger als das des Nordens, die Arbeitslosigkeit ist unten doppelt so hoch wie oben. Ein Reporter bezeichnete den Süden neulich als „prolligen Cousin“ des Nordens – „zu laut, zu faul, zu bunt angezogen, ständig pleite und immer mit einem Bein im Knast.“ Sizilien, durch die Straße von Messina vom Festland getrennt, ist sein Inbegriff.

Gemütlich windet sich die strada provinciale durch verdorrte Wiesen, hin und wieder mischt sich ein Felshang in die Szenerie. Hinter der Leitplanke rattern Kakteen vorbei, im Radio singt ein Coversänger Ramazottis „Un emozione per sempre“. Die Luft riecht nach Pinien. Oder sind das Akazien?

„Cretino, stronzo, vaffanculo“

Düüüüüüt Düüüüüüüt Düüüüüüt Düüüüüüüüüt. So klingt es, wenn sich Sizilianer richtig aufregen.
Düüüüüüt Düüüüüüüt Düüüüüüt Düüüüüüüüüt. So klingt es, wenn sich Sizilianer richtig aufregen.

© Getty Images/iStockphoto

In den Ortschaften der Charme der Straßencafés. Irgendwer blättert immer in einer Gazetta dello Sport, rosafarben, auf wackligen Tischchen stehen silbrige Plastikserviettenspender. Der Espresso läuft aus ausgeblichenen Siebträgermaschinen, weißhaarige Nonni nutzen die Tässchen, um damit vorbeirasenden Puntos zuzuprosten. Als Antwort ein Hupton.

Sizilianische Fahrer, das lernt man schnell, können in den unterschiedlichsten Tonlagen hupen, hoch, tief, brummig, grell. Jede Note hat ihre Bedeutung. Ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem, als würden Fiats und Alfa Romeos miteinander sprechen.

Düüt: „Buona sera, ich bin’s“.

Düüüüüüt: „Hey, pass mal auf, das könnte eng werden bei dir.“

Dütdüt: „Arrivederci, Grüße an Giorgio!“

Düüt Düüt Düüt: „Ich überhole.“

Düüüüüüt Düüüüüüüt Düüüüüüt Düüüüüüüüüt: „Cretino, stronzo, vaffanculo.“

Fabriken, die Wohlstand bringen sollten, zerfallen

Kurz vor Catania. In der Ferne das glitzernde Meer, dieser arme Kerl auf der Gegenfahrbahn. Unfall? Nicht ganz. Der Fahrer steuert seinen Fiat in die Mitte der Fahrbahn, rechts neben ihm rutscht das andere Auto dicht an die Leitplanke, sodass links eine Lücke entsteht. Dort rauscht das entgegenkommende Auto hindurch, für einen Moment rasen drei Wagen nebeneinander, auf einer Straße, die in Stuttgart eine Dreißigerzone wäre. Porca miseria!

Bei Campofelice di Roccella zerfällt zwischen Kakteen und Zedern eine Fabrik. Staubig liegt die Ruine im Morgendunst. Einst baute der Energieversorger Enel hier Kabel und Isolatoren, heute kreist ein Schwarzmilan über den Mauern. Cattedrali nel deserto nennen die Italiener Bauten wie diese, Kathedralen der Wüste.

Kathedralen, weil mit den Fabriken für Chemie, Stahl, Beton – dutzendfach errichtet in den 50er Jahren – einmal die Hoffnung verknüpft war, endlich zum starken Norden aufzuschließen. Milliarden investierten die EU und Italiens Regierung, aus der sogenannten „Cassa del Mezzogiorno“ sollte der Aufbruch des Südens in die Zukunft bezahlt, die Abwanderung gestoppt werden. Wüste, weil nichts davon gelang.

„Wir proben hier die Anarchie!“

In Maletto, einem Dorf am Westhang des Ätna, sitzt ein Ober beim Nachmittagsespresso. Man hätte ihn hier auch auf einen Vormittags- oder einen Mittags- oder einen Frühnachmittags-Espresso treffen können, er sitze hier heute den ganzen Tag, wenig los, sagt er. Gestreiftes Hemd, Strohhut auf dem Kopf. Er schmeißt eine Runde Limoncello und stellt ein Schüsselchen mit Pistazien auf den Tisch. Die baue er selbst an, sagt der Ober, der Claudio heißt. Der Vulkanboden mache sie aromatisch. Ob man nicht gleich noch ein cornetto con crema di pistacchio probieren wolle?

Ober Claudio sagt, dass man das alles nicht so eng sehen solle mit dem Süden. Der sei vielleicht wirtschaftlich schwach, dafür schlage hier das kulturelle Herz Italiens. „Die Tomaten sind hier röter und die Pistazien grüner.“ Und das mit dem Autofahren? „Ich habe nie Philosophie studiert“, sagt er, „aber Sizilien ist gewissermaßen ein philosophisches Experiment. Wir proben hier die Anarchie!“ Wo keine Regeln gelten, mache man die eben selbst, zumindest auf der Straße. Claudio zwinkert. Unfälle? Mit ein paar Schrammen müsse man rechnen.

Man holt sich diese auf dem Weg in den Nordosten, nach Messina. Eine enge Kurve, zu schneller Gegenverkehr in der Mitte der Straße, zack, Leitplanke gestreift. Vollkasko.

Palermo ist ein Höllenschlund

Sizilianische Fahrer können in den unterschiedlichsten Tonlagen hupen.
Sizilianische Fahrer können in den unterschiedlichsten Tonlagen hupen.

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Im Dunst hinter Messina ist das italienische Festland zu erkennen, nur drei Kilometer trennen die Ufer. Seit 40 Jahren versuchen italienische Politiker eine Hängebrücke zu bewilligen, die Sizilien endlich ans Festland koppeln würde. Näher an Rom, näher an Mitteleuropa, Arbeitsplätze beim Brückenbau. Doch die Brücke stünde im Erdbebengebiet, soll Milliarden kosten und hat überhaupt viele Feinde. Ein Politiker der Linken klagte: „Was bringt denn eine Vorzeigehängebrücke, wenn man von ihr herab auf einen Feldweg fährt?“

Die Straße von Messina nach Palermo ist zwar kein Feldweg, weist dafür ein paar knietiefe Schlaglöcher auf. Die Sizilianer fahren Slalom bei 130. Sehnsucht nach Stuttgarts reguliertem Stadtverkehr.

Einfahrt in Palermo. Bei Spotify schnell nach Rainhard Fendrich gesucht. Wie ging nochmal dieser Song, dieser eine mit dem Italien-Gefühl? Ach ja.

„Ich steh in der Hitz’, an der Strada del Sole. Mei Freindin is oposcht mit an Italiano. Des Göld hams ma g’stessn, jetzt stehr i allan do, und hab kane Lire. I hab’ kane Lire…“

Die Kunst sei, zu gucken, ohne zu gucken

Palermo ist ein Höllenschlund, vor allem abends im Berufsverkehr. Man wartet minutenlang an Kreuzungen, weil die Italiener fahren und nicht dran denken, armen deutschen Mietwagenfahrern eine Lücke zu lassen. Lieber das Auto abstellen, auf einen Spritz rausgehen mit der Vermieterin der Ferienwohnung und drei weiteren Palermitanern. Ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. Alle studiert, alle in Norditalien. Veronica, die Vermieterin, versucht jetzt über eine Agentur grünen Tourismus zu fördern. Sie liebt ihre Heimat, darum ist sie hier geblieben. „Wenn ich schlau wäre, wäre ich in Mailand oder Turin.“

Noch ein Spritz? Man will jetzt endlich etwas klären. Ob die ragazzi einem wohl das Geheimnis des Verkehrs erläutern können, der Anarchie? Lachen am Tisch. Rechts vor links? „Wer fährt, hat recht“, sagt Veronica. Die Kunst, erläutert sie, sei es, zu gucken, ohne zu gucken. Also so zu tun, als würde man den anderen nicht sehen, dann halte der schon.

Am Morgen tost wieder der Berufsverkehr. Die nächste vermaledeite Kreuzung. Den Blick jetzt also starr nach vorn richten, den Kopf nicht nach rechts drehen. Vor einem tuckert ein VW auf der Landstraße. Am Kofferraum der Aufkleber einer Mietwagenfirma. Touristen.

Düüt Düüt Düüt.

Reisetipps für Sizilien

Hinkommen

Von Berlin mit Easyjet nach Catania ab 90 Euro. Bis Palermo ab 50 Euro.

Unterkommen

Über Airbnb für 18 Euro die Nacht bei Veronica und Alberto in der Casa Olivuzza buchen, nettestes Ehepaar Palermos. Oder für 160 Euro im Palazzo Natoli einchecken. In Catania ab 70 Euro im kleinen Hotel Centrum am Rand der Altstadt.

Rumkommen

Chinotti und Arancine pflücken im Giardino della Kolymbetra bei Agrigento. In Noto das angeblich beste Eis der Welt probieren im Café Sicilia. In Cefalù die zerfallene Villa des Okkultisten und Bergsteigers Aleister Crowley suchen, der dort eine Religion gründete, zu der das Katzenbluttrinken gehörte. Zur Vorbereitung Christian Krachts Reportage nachlesen: juniperhills.net/cefalu.pdf.

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