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Sozialer Klebstoff. In den Biergarten darf jeder seine Brotzeit mitbringen – Getränke kauft man beim Wirt.

© bayern.by/ Jens Schwarz

Bayern: Die Standlgesellschaft

A gä, das Herz Münchens schlägt halt auf dem Viktualienmarkt. Ein Rundgang mit Lokalprominenz.

Ja mei, s’ Wetter. „Ist halt noch so kalt“, sagte die Verkäuferin vorletzte Woche, als alle vom Maivember sprachen. Bis eben hatte sie an ihrem Standl jede Stange Spargel einzeln drapiert, so sorgfältig, als wären es Schmuckstücke in der eleganten Maximilianstraße. Und wegen der Temperaturen zogen sie dieses Jahr in Schrobenhausen nur wenige Stangen aus den sandigen Auen der Paar. Darum war der Spargel teuer.

Die alte Dame, beige in beige, sagte nichts. Sie schaute bloß, als wär’ sie wirklich in der Maximilianstraße. Sie hätte nach links gekonnt. Da sind weitere Verkäufer. Oder nach rechts, noch ein paar Standl, ebenfalls mit Schrobenhausener und Abensberger Spargel. Sie wartete ein paar taktische Sekunden. Es half nichts. Der Preis blieb der gleiche, 9,90 das Pfund. Sie zückte ihr Portemonnaie. „Brauchen Sie noch Kartoffeln?“

Typisch Spargelstrich! So nennen die Standlbesitzer wie Elke Fett das Schauspiel, das im Frühling in der Abteilung I des Viktualienmarkts, dem Obstfreimarkt, für zwei Monate gegeben wird. „Da werden die Preise im Vorbeigehen gemacht.“ Die Spargelzeit mag Elke Fett besonders, da läuft der Viktualienmarkt langsam zur Hochform auf. Der Maibaum steht, die Kastanien blühen, auf den Ständen türmt sich die frische Ware aus dem Umland, und im Biergarten, der in der Mitte des Marktes liegt, füllen sich die Tische schon am späten Vormittag.

Der Markt ist ein Ort der Selbstvergewisserung

Elke Fett schiebt sich ihre schwarze Sonnenbrille auf die Nase. Sie ist an der Seite mit kleinen Strass-Steinchen besetzt und könnte gut aus dem Nachlass von George Michael stammen. Tatsächlich gehört Elke Fett zur Lokalprominenz. Das liegt weniger an ihrem Stand. Hier verkauft sie Duftschmankerl, wie sie es nennt. Duftöle und -säckchen, Kränze, Ketten. Aber sie ist Marktsprecherin. Sie kann dem Viktualienmarkt den Puls fühlen. Und der schoss in den vergangenen Jahren recht oft hoch. Denn er soll modernisiert werden. Doch wie, wann und wo das passiert, und was das für die Händler bedeutet, das bewegt nicht nur den Viktualienmarkt, sondern ganz München.

Die 22 000 Quadratmeter hinter dem Marienplatz, die seit 1807 als Markt genutzt werden, sind ein Ort der Selbstvergewisserung. Um die Viktualien, so wurden die Lebensmittel früher bezeichnet, geht es dabei längst nicht nur. Der Markt ist ein sozialer Klebstoff, der die Stadt beisammenhält. Nicht so geleckt wie andere Ecken Münchens, dafür lebendig, gewachsen, ein bisschen chaotisch. Das angelaufene Grün der Standl, die fleckigen Kupferdächer, die Farbe, die von den Rollos blättert. Eben nicht jenes München, das der SZ-Journalist Max Scharnigg neulich in einem viel beachteten Text eine Theaterkulisse auf den Schultern von sechs DAX-30-Konzernen geschimpft hat.

Das andere München. Ein Marktbesuch muss was Besonderes sein.
Das andere München. Ein Marktbesuch muss was Besonderes sein.

© bayern.by/ Jens Schwarz

Solche Orte gibt es in München nicht viele. Die Stadt leidet unter Wachstumsschmerzen, allein der Verkehr und die Mieten sind eine Zumutung. Damit steigt auch der Druck auf den Einzelhandel. In der Sendlinger Straße etwa, einer der Haupteinkaufsstraßen, gleich fünf Minuten weiter, haben sich in den letzten zehn Jahren fast drei Viertel aller Geschäfte verändert. Gerade kleine Läden ringen ums Überleben, während sich große Marken ausbreiten.

Was sie hier nicht kriegt, isst sie nicht

Das sei doch keine Konkurrenz, sagt Elke Fett. „Man merkt, wenn man vom Marienplatz um die Ecke kommt zur Metzgerzeile, wo der Viktualienmarkt anfängt, da sind die Menschen gleich anders drauf, grinsen. Geht man weiter, die Neuhauser Straße, in die Fußgängerzone – alle ernst, alle hektisch.“

Gut, der Umsatz entwickelte sich auch auf dem Viktualienmarkt in den letzten zehn Jahren leicht negativ, aber von einem hohen Niveau ausgehend. „So ist das auf dem Markt, da gibt es sieben gute und sieben schlechte Jahre.“ Elke Fett lebt nicht nur vom Viktualienmarkt, sie lebt quasi auf ihm. „Von meinem Küchenfenster kann ich bis auf meine Kasse schauen“, sagt sie und zeigt auf das Haus schräg hinter ihr. Wenn einer in Trainingshose daherkommt, schimpft sie schon mal. Ein Marktbesuch, das muss doch was Besonderes sein. Sonst könnte man ja gleich in den Supermarkt. Da war sie schon seit 20 Jahren nicht mehr. „Was ich hier nicht krieg, ess’ ich nicht. Gibt ja alles in bester Qualität.“

So ziemlich alle guten und sehr guten Münchner Köche schauen regelmäßig auf dem Viktualienmarkt vorbei. Holger Stromberg, der zehn Jahre für die Deutsche Fußballnationalmannschaft kochte und heute als Coach und Caterer arbeitet, bietet sogar einen Kurs an, bei dem die Teilnehmer erst auf dem Viktualienmarkt einkaufen und dann daraus drei Gänge kochen. Dabei lernt man nicht nur Küchentricks, sondern eine Menge Warenkunde.

Die Japaner kaufen keinen Käse

Farbe bröckelt von den Rollos, die Kupferdächer haben Patina – chaotisch, aber lebendig.
Farbe bröckelt von den Rollos, die Kupferdächer haben Patina – chaotisch, aber lebendig.

© bayern.by/ Jens Schwarz

Eine feste Station des Einkaufsbummels ist etwa „Leo’s Obst und Gemüsestand“. Da verkaufen sie Tomaten aus einem Kloster in Österreich. „Dort werden 2000 Sorten angebaut, das gibt es in der Menge vermutlich sonst nirgends“, sagt Stromberg. Wenn er schon mal da ist, geht er gleich zum Exoten-Müller, dessen Schriftzug an China-Restaurants der 1970er-Jahre erinnert. Dort holt er sich kandierte Kokosstücke. Danach noch zum „Gut zum Leben“ für die Apfelchips und das Brot: „Das hält 13 Tage und schmeckt bis zum letzten Scherzerl so gut wie am Anfang.“

Manchmal läuft’s auch andersrum. Da kommen die Köche und wollen gar nicht mehr weg. Hans Hollweck ist so einer. Der war mal ein Hoffnungsträger der oberbayerischen Küche. Am Tegernsee erkochte er als junger Mann in den 1980er-Jahren einen Stern. Den ersten in der Gegend. Dann stieg er aus – und beim Rottlerhans ein, einem Marmeladenstandl, das schon seit 1968 hier ansässig ist. Mittlerweile betreibt er es allein und hat das Portfolio erweitert. Neben 60 Sorten Fruchtaufstrich, Chutney und Gelees hat er Senf-, Meerrettich- und Würzsaucen im Sortiment. Und die wiederum kaufen heute Münchner Spitzenköche bei ihm. Hans Haas aus dem Tantris etwa, aktuell laut Guide Michelin und Gault-Millau Münchens bester Koch.

Wer immer kommt, sind die Touristen

Natürlich hat sich die Kundschaft verändert in den letzten Jahren, erzählt Thomas Lupper, der einen Feinkoststand für Wein und Käse betreibt. Wenn man wie er seit 24 Jahren auf dem Markt arbeitet, ist man nie mehr zu kalt angezogen. An kalten Tagen wie neulich trägt der 47-Jährige Wollmütze und Schal. Friert’s ihn doch mal, geht er rüber in den Kaufhof und wandert durch die warmen Gänge.

„Die Alten, die hier ihren gesamten Einkauf machen, kommen immer weniger.“ Dafür neue Leute. „Aus dem Glockenbachviertel oder aus Haidhausen, die kommen manchmal schon am Freitag, spätestens am Samstag. Die trinken ein Glas Wein und kaufen fürs Wochenende ein.“

Schickeria und P1 scheinen weit weg.
Schickeria und P1 scheinen weit weg.

© bayern.by/ Jens Schwarz

Und wer natürlich immer kommt, sind die Touristen. Die Japaner kaufen keinen Käse, aber gerne einen Riesling, am liebsten Spätlese. „Sweet, Sweet“, sagen die immer. Die Russen decken sich mit Käse ein. Den kriegen sie zu Hause nicht mehr, wegen der Sanktionen. Die Italiener wiederum probieren meist den Bergkäs’, bei aller italienischer Käsetradition, so einen würzigen Hartkäse aus Kuhmilch, das findet man südlich der Alpen selten. Die deutschen Touristen ordern den Obazda, was bei der Bestellung dialektologische Verrenkungen mit sich bringt.

Spätestens im Biergarten am Platz ist München ganz bei sich

Am besten isst man den gleich im Biergarten am Platz. So will es das eherne Biergartengesetz, das seit 1812 festlegt: In den Biergarten darf jeder seine Brotzeit mitbringen! Natürlich nur die Brotzeit, die Getränke muss man schon dem Wirt abkaufen. Mit 7,60 Euro für die Maß trinkt man hier eher günstiger als in anderen Münchner Biergärten.

Spätestens an diesem Ort ist München ganz bei sich. Der Haferlschuhträger mit Lodenhut redet auf den Rucksackträger ein, die Frau in der Pfauenleggings trägt ihren Hund spazieren, die Italiener spülen ihren Schock, dass 125 Gramm Walderdbeeren 14,95 Euro kosten, mit einer Halben runter, ein paar Teenager gruseln sich vor dem Pferdemetzger. Auf dem Zeitungskasten steht die Schlagzeile „Nach 33 Jahren: Käfer verkauft das P1“.

Auf dem Viktualienmarkt geht’s wohl weiter wie gehabt. Es werde sanft saniert, hat Oberbürgermeister Dieter Reiter jüngst öffentlich versprochen, als er am Faschingsdienstag auf dem Viktualienmarkt war. Ein Standl nach dem anderen. Kein Komplettabriss, den so viele befürchteten. Elke Fett ist zufrieden.

Reisetipps für München

ANREISE

Von Berlin dauert die Zugfahrt gut sechs Stunden und kostet ohne Bahncard etwa 130 Euro. Flüge gibt es mit Transavia oder Airberlin für weniger als 100 Euro.

RUND UM DEN MARKT

Auch im Schlaraffenland ist nicht immer Biergartenwetter. Wenn es nach dem Einkaufsbummel ein Wirtshaus sein soll, gleich ins Schneider Bräuhaus (Tal 7). Erstens: wegen des Weißbiers, acht Sorten vom Fass. Zweitens: wegen der traditionellen Innereien-Gerichte wie dem Münchner Kronfleisch. Im Stadtmuseum, nur ein paar Schritte entfernt, sorgt die Dauerausstellung Schaustellerei mit alten Fahrgeschäften des Oktoberfests für wohlige Nostalgie. Das schickste Hotel am Platz ist ohne Zweifel das Louis (Viktualienmarkt 6). Doppelzimmer ab 249 Euro, das Frühstück kommt natürlich auch vom Markt.

Weitere Infos: bayern.by

Felix Denk

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