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Gesellschaft: Berlin hat mich ausgewählt

Kim Eustice, 58, Kabarettistin/Musikerin.

Wäre ich in Australien geblieben, wäre ich heute wohl eine gut bezahlte Lehrerin, die bald in Rente gehen darf. Als ich 1985 über Paris nach Berlin kam, wollte ich eigentlich nur ein Jahr Unterricht geben. Das Schuljahr verging viel zu schnell, und ich bin hier hängen geblieben – die Stadt hat mich ausgewählt. West-Berlin hatte alles, was ich mir im Leben erträumt hatte. Ich bin in die Philharmonie gepilgert und habe mich Hals über Kopf in die Kleinkunst-Szene gestürzt, weil ich fasziniert von der Kultur der Weimarer Republik war. Ich hatte viel mit der 68er-Generation zu tun, die im Gegensatz zu Australien keine Hippie-Bewegung war. Dazu noch die eigenartige Geschichte mit der Mauer und der geteilten Stadt, die damals wirklich niemanden kalt lassen konnte. Meine Generation hatte in ihrer Jugend dagegen kein ausgeprägtes australisches Nationalbewusstsein. Wir dachten nur: Wir sind am Arsch der Welt. Das hat sich geändert. Die Australier haben mittlerweile fast einen Nationalstolz wie die Amerikaner. Weil Kultur aber weniger als in Deutschland gefördert wird, sagt man unter Künstlern bis heute, dass man Australien erst einmal verlassen muss, wenn man es später in der Heimat überhaupt schaffen will. In Europa leiden viele Künstler dann unter der Zeitverschiebung, wenn sie nach Hause telefonieren, weil man nie im gleichen Moment miteinander sprechen kann. In Australien gibt es deshalb den feststehenden Begriff: die Tyrannei der Distanz.

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