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Wegen seines Fleisches beliebt: der Hirscheber.

© Illustration: Andree Volkmann

Berliner Schnauzen (54): Der Hirscheber

Zwei Paar Hauer, das ist nicht immer von Vorteil für die Männchen. Wenn es schief läuft, wachsen diese ins Gehirn hinein.

Von Julia Prosinger

Indonesische Schweine haben das Piercing erfunden. Wer es nicht glaubt, kann sie im Zoo besuchen. Neben ihren verlängerten Eckzähnen – Hauer, wie man sie von Wildschweinen kennt – besitzen Hirscheber ein zweites Paar. Das wächst nicht aus dem Mund heraus, sondern durch Kiefer und Haut hindurch gen Himmel. Dieses absonderliche Geweih biegt sich zum Halbmond, kringelt sich manchmal sogar wieder zurück in den Kiefer hinein. 30 Zentimeter lang können sie werden. Das Erstaunlichste: Dabei fließt kein Tropfen Blut, nichts entzündet sich. Piercingstudios warten nur darauf, dass Forscher endlich entdecken, was diese Unempfindlichkeit verursacht.

Gehen wir davon aus, dass die Hirscheber mit ihren durchstochenen Lippen (kein anderes Tier tut so etwas) nicht gegen ihre Eltern rebellieren wollen. Wozu brauchen sie die Zusatzzähne dann? Zum Kampf wohl kaum, obwohl es in der Paarungszeit zu heftigen Duellen zwischen den Männchen kommt. Die spröden Zähne würden sofort zerbröckeln. Deshalb können Hirscheber auch nicht im Boden nach Futter wühlen, wie für Schweine üblich. Sie müssen warten, bis Laub und Früchte vom Baum fallen, Nüsse knacken sie mit ihren starken Kiefern. Manchmal strecken sie sich – wie echte Hirsche – auf den Hinterbeinen zu tiefhängenden Blättern hinauf. Möglicherweise, sagen Wissenschaftler, dienen die Doppelhauer den Schweinen allerdings als eine Art Helm. Demnach schützen Hirscheber ihr Gesicht während eines Duells wie Spieler beim American Football.

In ihrer Heimat Indonesien, wo die Hybridtiere inzwischen nur noch zu wenigen Tausenden herumrennen, heißt es, die Schweine baumelten nachts mit den Zähnen von den Bäumen und warteten in dieser Stellung auf vorbeispazierende Hirscheberinnen (Sau sagt man nicht).

Nächste indonesische Theorie: Die Hirscheber, Einzelgänger und heimisch im Unterholz und Sumpf des Regenwaldes, biegen mit den Zusatzhauern Dickicht beiseite, um einen Blick auf die Weibchen an den Schlammlöchern zu erhaschen: ungepiercte Gestalten, die im Gesicht allesamt wie Alf, der Außerirdische, ausschauen; ihre borstenlose, faltige Haut erinnert an Elefanten.

Hirscheber können auf diese Weise eine Menge sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Im Zoo zieht sich das Ehepaar in Stroh- und Laubhaufen zurück. Nur Stammgäste wissen, wie man es hervorlockt: Hirscheber lieben es, hinter den Ohren gekrault zu werden. In freier Natur traben sie erstaunlich schnell auf ihren Trampelpfaden zurück in den Dschungel, wenn sie jemand entdeckt. Recht haben sie, denn die Indonesier schätzen ihr saftiges Fleisch am Spieß und schenken Besuchern gern den ein oder anderen Hirscheber zur Begrüßung.

Wozu nun also diese gewaltigen Zähne? Forscher wissen es nicht. Und die Natur ist sadistisch: Die schicken Piercings sind eine wahre Selbsttötungsmaschine. Hirscheber sind unfreiwillige Selbstmörder. Manchmal, bei alten Tieren mit intakten Hauern, wachsen sie im Halbkreis mitten ins Gehirn ihres Trägers hinein. In Museen gibt es solche Exemplare zu besichtigen.

Im Zoo setzen die Pfleger die Drahtsäge an, sobald sich die Zähne dem Schweinehirn nähern.

HIRSCHEBER IM ZOO

Lebenserwartung: bis 24 Jahre

Fütterungszeiten:  täglich etwa 15.30 Uhr

Interessanter Nachbar: Visayas-Pustelschwein, Weißbartpekari

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