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Provisorisches Heim. Für mehrere Wochen zogen Bärbel Neumann (l.) und ihr Mann in diesen Wohnwagen.

© privat

Brandenburg nach der Flut: Der Anfang nach dem Ende

Schwarze Wände, aufgequollene Möbel: So sah es bei Familie Neumann nach der verheerenden Flut im Juni 2013 aus. Die Rückkehr in den Alltag war mühsam. Unsere Autorin hat sie begleitet.

(Anmerkung: Tagesspiegel-Reporterin Veronica Frenzel wurde für diesen Text im Oktober 2014 für den Deutschen Reporterpreis nominiert. Weitere nominierte Texte aus dem Tagesspiegel sind "Die Heimsuchung", ebenfalls von Veronica Frenzel, sowie "Ihr Block" und "Deutsche Vita", beide von Lucas Vogelsang.)

Es ist Anfang Dezember. In Breese, 1500 Einwohner, ein paar Kilometer von Wittenberge entfernt, westliches Brandenburg, beginnen für Familie Neumann hoffentlich Tage der Ruhe nach einem turbulenten, schicksalshaften Jahr. Im Wohnzimmer riecht es nach der Plastikverpackung, in der vor ein paar Tagen neue Möbel geliefert wurden. Er löst den strengen Geruch von Moder ab, der wochenlang durch die Räume wehte. Jetzt ist der Gestank weg, das vielleicht größte Geschenk dieser Tage. Die Neumanns können wieder in den eigenen vier Wänden leben, nachdem die Flut im Juni sie für Monate unbewohnbar gemacht hat.

An der Tischdecke baumelt noch der Plastikhaken, an dem das Preisschild hing. Bärbel Neumann, 72 Jahre alt, steht verloren zwischen ihren neuen Sachen. Ihre Schultern sind nach vorne gebeugt, die Arme eng vor der Brust verschränkt, als sollten sie Frau Neumann vor dem Unbekannten schützen, der Blick ist starr auf das Fenster gerichtet. „Wie fühlt es sich an?“, fragt die Schwiegertochter mit einem großen Lächeln. Bärbel Neumanns Blick wandert von den neuen hellgelben Tapeten über das braune Laminat hin zur neuen Sofagarnitur, zur neuen Schrankwand, zum neuen Esstisch. Sieht so das neue Leben aus?

Schließlich antwortet sie müde: „Fertig.“ Sie seufzt, schiebt „fast“ hinterher und erklärt: „Die beiden Küchenstühle fehlen noch und die Nachtischchen.“

Bärbel Neumann ist eine ernste Frau. „Lächeln kann ich nicht so gut“, gibt sie später an diesem Montag zu. Und ihre Schwiegertochter wird erklären, dass Bärbel Neumann seit diesem Sommer besonders ernst sei. Seit das verfluchte Elbe-Hochwasser ihr ebenerdiges Haus im Dörfchen Breese und alles, was darin war, einfach so geschluckt hat.

Das Drama beginnt Hunderte Kilometer weiter weg, an jenem Tag, als meteorologisch der Sommer anfängt. Am 1. Juni sorgt das Tief „Frederik“ für Dauerregen in Süddeutschland. Wetterstationen melden, innerhalb von 24 Stunden sei mehr als die Hälfte des durchschnittlichen Niederschlags für den gesamten Monat Mai heruntergeprasselt. Aus Polen zieht ein weiteres Tiedruckgebiet heran. In Bayern, Teilen Sachsens und Thüringens wird die höchste Alarmstufe ausgerufen.

Bärbel Neumann sieht die Bilder im Fernsehen. Beim Abendessen sagt sie zu ihrem Mann: „Wie furchtbar!“. Er antwortet: „Mach dir keine Sorgen.“ Sie schaut hinaus auf die Stepenitz, einen Bach, der 500 Meter vor ihrem Haus dahinplätschert. Der Zufluss der Elbe ist noch ruhig. Er fließt nicht weit entfernt von Breese in den Fluss, nur wenn die Elbe zu viel Wasser hat, ist es genau umgekehrt. Dann schiebt der Strom sein Wasser den kleinen Zufluss hinauf.

Der Schaden naht unaufhaltsam

So wie im August 2002. Die Stepenitz läuft dann über, auf die angrenzenden Wiesen, in die Keller der am Bach gelegenen Häuser und manchmal auch in die Wohnzimmer. Damals lag der Pegel der Elbe so hoch wie nie zuvor, bei 7,34 Metern. Jahrhunderthochwasser! Bundeskanzler Gerhard Schröder flog in die Krisengebiete, versprach rasche Hilfe und sicherte sich seine Wiederwahl.

Bärbel Neumann denkt an jenen August, als sie aus dem Fenster sieht. Wie die Flut das Haus der Nachbarn zerstörte, wie sie tagelang mit der Angst einschlief und aufwachte, das Wasser könnte auch ihr Haus schlucken. Diese Anspannung möchte sie nicht noch einmal erleben. Bange fragt sie sich: „Was wäre, wenn?“ Zu ihrem Mann sagt sie: „Wird schon nichts passieren.“ Vor elf Jahren blieb das Wasser ja auch vor ihrem Haus stehen.

Bärbel Neumann und ihr Mann Werner können sich nicht vorstellen, dass der Fluss noch einmal so stark steigt. Niemand in Breese kann das. Die Nachrichten in diesen ersten Junitagen sind zwar Katastrophenmeldungen, aber sie kommen aus Orten, die weit weg liegen. Im bayrischen Deggendorf holen Soldaten Menschen mit Hubschraubern aus ihren überfluteten Häusern, die Straßen in Passau sind reißende Flüsse. Die „Passauer Neueste Nachrichten“ schreibt: „Wie im Krieg“. Der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer sagt: „Das übersteigt alle Dimensionen.“

Am 2. Juni sieht Bärbel Neumann, dass in Dresden die Elbe auf acht Meter steigt, in Bitterfeld werden Zehntausende evakuiert. Jetzt ist es klar: Auch in Brandenburg wird das Hochwasser Schaden anrichten. 5. Juni, Halle an der Saale, das Wasser steigt über acht Meter – höchster Stand seit 400 Jahren. Die Elbe liegt bei 7,30 Meter, vier Zentimeter unter der Marke von 2002, und bei Bärbel Neumann klingelt das Telefon. Ihr Sohn Jens aus München. „Soll ich kommen?“, fragt er. „Der Bach wird vor unserem Haus halt machen“, beruhigt ihn Bärbel Neumann. Der Sohn ruft beim Katastrophenschutz an. „Fahren Sie zu ihren Eltern!“, rät der Mann am anderen Ende der Leitung. Einen Tag später holt der Sohn Sand in Breese ab und schippt ihn in Säcke.

6. Juni, Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht Bitterfeld, 160 Kilometer von Breese entfernt, und verspricht mehr als 100 Millionen Euro Soforthilfe. Die Neumanns helfen sich selbst. Der Pegel steigt auf 7,40 Meter, der 19-jährige Enkel, der im Nachbarort als Elektriker arbeitet, nimmt Urlaub. Zwei Tage lang schnüren Sohn und Enkel Sandsäcke, die sie dann quer durch den kleinen Garten der alten Neumanns stapeln. Pausenlos. Der Wall ist fertig, der Pegelstand der Elbe liegt bei 7,50 Metern, das Wasser reicht fast bis zum oberen Rand des obersten Sandsacks. Manchmal schwappt ein wenig auf die falsche Seite, dorthin, wo das Haus steht. Der Garten jenseits des Sandsackwalls ist schon ein großer See.

Die Hoffnung: Passiert schon nichts

Die alten Neumanns sehen zu, wie erst die Goldfische aus dem Teich schwimmen, dann die beiden Karpfen, in Richtung Fluss, nun beginnen sie sich doch zu sorgen. Bärbel Neumann räumt die Kleiderschränke aus, stopft Pullover, Hosen, Bettwäsche in riesige Plastiksäcke und stellt sie auf den Dachboden. Sie schiebt einen Holzbalken unter das Sofa, für alle Fälle. Zu ihrem Sohn sagt sie: „Passiert schon nichts.“

Zwei Tage später passiert es dann. Am 9. Juni rast eine große Welle auf Breese zu und fließt einfach über die Sandsäcke hinweg ins Haus der Neumanns. Der Druck reißt das Sofa vom Balken. Das Wasser strömt in den ehemaligen Stall nebenan, wo die alten Neumanns Küche, Bad und Schlafzimmer eingebaut haben, für den Sommer, wenn die Kinder und Enkel zu Besuch kommen. Zwei Kaninchen können sie nicht mehr retten.

Acht Milliarden Euro, diese Summe will ein Sonderfonds von Bund und Ländern Flutopfern zur Verfügung stellen. Im dreistelligen Millionenbereich beziffert die Deutsche Bahn die Schäden durch das Hochwasser und sperrt Gleise zwischen Berlin und Hannover. Und bei Neumanns? Braun und übel riechend steht das Wasser in allen Zimmern. Es fließt nicht ab, der gesamte Garten steht unter Wasser.

Aus der Vogelperspektive sieht Breese in jenen Tagen so aus: Eine lange Linie verläuft quer durch den Ort und trennt ihn. Das Grundstück der Neumanns und zwölf weitere Häuser liegen isoliert und überflutet auf der einen Seite, der übrige Ort liegt trocken auf der anderen. Die Trennlinie ist ein vier Kilometer langer Deich. Den hat die Gemeinde errichtet, während Sohn und Enkel die Sandsäcke im Garten stapelten, und zwar direkt auf der Straße, die der Stepenitz am nächsten ist, direkt vor dem Haus der Neumanns. Die Flusswiesen, wo der Deich hätte stehen müssen, um das ganze Dorf zu retten, waren in den ersten Junitagen schon zu feucht. Sie wären unter dem Gewicht des Damms eingesackt.

Am 9. Juni verlassen die Neumanns das überflutete Haus, sie müssen über den zwei Meter hohen Deich klettern. In den Gärten auf der anderen Seite der Straße rotieren die Rasensprenger. Schließlich hat es seit Tagen nicht mehr geregnet, und die Sonne scheint.

Drei Tage später spuckt das Wasser das Häuschen und den Garten der Neumanns wieder aus. Nichts ist wie vorher. Der hellbraune Teppichboden im Schlafzimmer ist schwarz, das Laminat im Wohnzimmer hat sich aufgebäumt, die Möbel – alle aus Pressspan – sind aufgequollen, die Wände schwarz an den Stellen, wo das Wasser gestanden hat. Der Garten ist zerstört. Der Rasen ist grau, in den Beeten wächst nichts mehr, der Teich ist voller Schlamm.

Schwiegertochter und Sohn raten den Eltern, erst mal nach München zu fahren. Ein wenig Abstand von Breese und dem überschwemmten Haus täten ihnen gut. Bärbel Neumann fährt, Werner Neumann will sein Haus nicht im Stich lassen. Es ist 260 Jahre alt, auf Balken und mit Feldsteinen und Lehm erbaut. Seit 55 Jahren lebt er hier. Er legt eine alte trockene Matratze, die er von Bekannten bekommen hat, auf den Dachboden, der nicht ausgebaut ist. Jeden Abend klettert er über eine Leiter nach oben und legt sich direkt neben die Kleidersäcke, die seine Frau in den Tagen vor der Flut gerettet hat.

Der Sohn bleibt bei ihm in Breese. Er bestellt einen Baucontainer vor das Haus. Da hinein wirft er die Überreste der alten Möbel, das Laminat, den Teppichboden, die alten Dielen darunter und den Teil der Lehmwände, der ihm entgegenkommt, als er auf die Wände klopft. Nach wenigen Tagen hält es Bärbel Neumann nicht mehr in München aus. Sie kehrt nach Hause zurück. Der Sohn holt von Freunden einen alten Wohnwagen, er dient den Eltern als Schlafplatz. Zwei Matratzen haben gerade mal Platz darin.

„Es ist, als hätten wir Krieg gehabt“, sagt Bärbel Neumann Ende Juni. Sie läuft durch das schlammgraue Gras im Garten, vorbei an den überlebenden Kaninchen in den Käfigen, zu ihrem Wohnwagen. Davor bleibt sie stehen, flüstert, „schrecklich … schrecklich“.

Wenn noch ein Hochwasser kommt, ziehen wir weg

Es ist warm und trocken, ein schöner Sommertag. Normalerweise würde es nach Blumen und Heu riechen – und nicht so, als wäre gleich nebenan eine Kläranlage. Normalerweise wäre die Luft nicht voller Mückenschwärme. Sie kommen aus den noch feuchten Flusswiesen, die jetzt eine riesige Brutstätte für die Insekten sind. Frau Neumann hat aufgehört, von ihnen Notiz zu nehmen. Als sich eine Mücke auf ihren Unterarm setzt, reagiert sie nicht. „Merk nicht mal mehr, wenn die zustechen“, sagt sie.

Dann geht sie in die winzige Küche im ehemaligen Stall, um Kaffee zu kochen für ihren Sohn und ihren Mann. Der Herd funktioniert noch, weil der Raum ein wenig höher liegt als das übrige Haus, das Wasser stand dort nur wenige Zentimeter hoch. Alles ist gefliest. In den Fugen schimmert weiß der Schimmel.

Beim Kaffee sagt der Sohn: „Die haben meine Eltern einfach absaufen lassen.“ Bärbel Neumann und ihr Mann schweigen, sie trinken hastig, in großen Zügen, ihre Blicke wandern vom Grund der Tasse zur Wachstischdecke und zurück. Als Werner Neumann einen letzten großen Schluck schwarzen Kaffees getrunken hat, brummt er „wenn noch ein Hochwasser kommt, ziehen wir hier weg, sofort“, geht hinaus und räumt weiter die Abstellkammer aus. „Vater ist wütend“, sagt sein Sohn.

Die Wut hat eine Vorgeschichte. Seit elf Jahren, seit dem Hochwasser im Jahr 2002, fordern Werner Neumann und die Bewohner der anderen zwölf Häuser einen Deich in den Wiesen – zwischen dem Bach und ihren Grundstücken. Immer wieder hat der Bürgermeister versprochen, den Deich zu bauen. „Passiert ist nichts, nur das schlimmste Hochwasser in der Geschichte des Ortes“, sagt der Sohn. „Und jetzt sagen sie, dieses Jahr sollte der Deich eigentlich kommen. Pah!“ Er verschwindet im Zimmer nebenan, wo er gerade die Wand verputzt und Laminat verlegt, damit die Eltern vorübergehend hier einziehen und den Wohnwagen verlassen können.

Bärbel Neumann bleibt allein in der Küche zurück. Sie umklammert ihre Kaffeetasse und schweigt. Dann zündet sie sich eine Zigarette an, inhaliert tief und sagt: „In meinem Leben sind bisher zwei schlimme Dinge passiert. Das Erste war die Wende.“ 1990 schloss die staatliche Ölmühle in Wittenberge, in der sie als Sekretärin und ihr Mann als Lokführer arbeitete. Das Ehepaar fand nie wieder Arbeit. Zehn Jahre lang hangelten sie sich von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu Umschulung zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Bis im Jahr 2000 die Hartz-IV-Reform kam. Die Neumanns sollten von nun an Arbeitslosengeld II bekommen, gemeinsam weniger als 500 Euro. Bärbel Neumann war 60, ihr Mann 62. Beide gingen frühzeitig in Rente, um ein bisschen mehr zu haben.

An diesem Sonntag Ende Juni findet sie, „die Flut war noch schlimmer als die Wende“. Wäre sie eine emotionale Frau, würden jetzt Tränen über ihr Gesicht fließen. Sie aber wischt sich nur schnell mit der Faust über die Augen und zündet sich noch eine Zigarette an, um erst einmal nichts mehr sagen zu müssen.

Ein paar Tage darauf liegen alle Möbel, Teppichreste und Laminatteile im Container, der Sohn stellt riesige Heizlüfter in alle Räume. Sie laufen Tag und Nacht. Im Wohnwagen hören die Neumanns das Brummen der Motoren.

Anfang Juli, die Versicherungsgesellschaft Munich Re veranschlagt den Schaden der Flut auf zwölf Milliarden Euro. In der „Süddeutschen Zeitung“ sagt einer ihrer Experten: „Es ist gut möglich, dass es die teuerste Naturkatastrophe in der deutschen Geschichte wird.“ Ende Juni kommt auch in Breese ein Gutachter der Versicherung vorbei. Erst wenn das Gutachten da ist, kann mit der Sanierung begonnen werden. Der Gutachter erklärt den Neumanns, es würden nur jene Sachen bezahlt, die wirklich vom Hochwasser zerstört wurden. Folgeschäden würden nicht übernommen. Der Kamin zum Beispiel, der zusammengebrochen ist, als das Wasser schon wieder draußen war – die Feuchtigkeit hatte den Lehm zersetzt – und den Bärbel Neumann im Winter so geliebt hat, werde nicht bezahlt. Und das Bad müsse auch nicht neu gemacht werden, findet der Gutachter. Sehe doch alles noch ganz gut aus.

Für die Neumanns geht es ans Eingemachte – an das Sterbegeld. Das haben sie zurückgelegt, um den Kindern nach dem Tod nicht zur Last zu fallen. Nun geben sie es für einige Folgeschäden aus, für einen neuen Kamin reicht es nicht.

Mitte Juli beginnen die Handwerker mit der Renovierung. Sie verlegen Estrich in allen Zimmern, gießen Beton darüber, verstärken die Wände. Gleichzeitig legt Werner Neumann seinen Garten neu an. Er zieht Kartoffeln, Bohnen und Zwiebeln. Alles gedeiht. Nur die Blumenzwiebeln verfaulen im Boden, für sie ist die Erde zu feucht.

Der Sohn hat nun die zwei winzigen Zimmer im ehemaligen Stall renoviert. Die alten Neumanns ziehen aus dem Wohnwagen aus. Das langbeinige Sofa, auf dem Bärbel Neumann jetzt schläft, hat als eines von zwei Möbelstücken die Flut überlebt. Das andere: die kleine Kommode, die in einer höher gelegenen Ecke stand. Es geht voran.

Das Leben von früher wieder ins Haus holen

Bis im August eine Badfliese auseinanderbricht. Übler Gestank schlägt Bärbel Neumann im Bad entgegen, dessen Renovierung die Versicherung nicht bezahlen will. „Riecht wie Silo“, sagt Frau Neumann. Die Handwerker zerschlagen die Fliesen, die Holzplatten darunter sind schwarz und verfault. Wenig später geht der Kirschbaum ein, der mitten im Garten stand. Er hat die feuchte Erde nicht vertragen. Es scheint, als würde die Flut nie aufhören.

Ende August rappelt sich Bärbel Neumann auf, sie fährt mit der Schwiegertochter in den nächsten Ort, um Möbel einzukaufen. Am liebsten möchte sie gebrauchte Schränke, Tische und Sofas, die so aussehen wie die Sachen, die sie in der Flut verloren hat. Aber im Zweite- Hand-Möbel-Geschäft gibt es nichts Passendes. Bärbel Neumann sagt nicht, dass sie lieber warten will auf alte Möbel. Also fährt die Schwiegertochter sie in ein modernes Möbelhaus. Gemeinsam kaufen sie Wohnzimmerschränke in Holz-Optik und Küchenschränke mit Edelstahlgriffen. Sie bestellen die Lieferung für Anfang November, dann sollte die Renovierung abgeschlossen sein.

„Ein paar Leute aus dem Ort sagen, ich hätte während des Hochwassers absichtlich die Haustür aufgemacht“, erzählt Bärbel Neumann an einem Mittwoch in der zweiten Septemberwoche. Sie sitzt im alten Stall, ihre Stimme bricht ab. Draußen nieselt es. Sie holt Luft. „Sie sagen, ich hätte die Flut hereingelassen, damit die Versicherung die Renovierung des alten Hauses bezahlt und neue Möbel.“ Sie zündet sich eine Zigarette an, raucht, drückt den Stummel aus und sagt: „Am liebsten will ich alles haben wie früher!“ Dann setzt sie Kaffee auf, geht hinaus in den Garten, um ihren Mann zu holen, der in Gummistiefeln und Regenmantel einen neuen Baum im Garten setzt.

Anfang November schließlich ist das alte Häuschen saniert, Laminat und Fliesen sind verlegt, die Wände tapeziert, die Möbel geliefert. Die Neumanns können umziehen. Es dauert ein paar Tage, bis die beiden sich das erste Mal in das neue Doppelbett legen. Auch an die neue Küche tastet sich Bärbel Neumann nur langsam heran. Im Dezember hat sie noch kein einziges Mal darin gekocht. Sie benutzt die alte Miniküche im ausgebauten Stall, wo der Schimmel in den Fugen wächst.

„Muss mich daran gewöhnen“, sagt sie in ihrem neuen Wohnzimmer. Sie sitzt ganz vorn auf der Kante des neuen Sofas. „Aber vielleicht muss ich das ja auch gar nicht?“ Bärbel Neumann erzählt, dass der Pegel der Elbe gerade wieder steige, dass er schon bei 2,40 Meter liege und fünf weitere Meter schnell ansteigen könne. Sie hält ihre Zigarettenschachtel hoch. „Ich geh eine rauchen.“ Draußen scheint die Sonne, es ist bitterkalt. Regenwolken sind nicht zu sehen.

Vor ein paar Tagen stand in der Zeitung, dass der Deich käme – 2017. „Wenn der da ist, mach ich mir keine Sorgen mehr“, sagt sie. „Aber ich glaub ja nicht mehr dran, dass der kommt.“ Sie zündet sich noch eine Zigarette an. „Die fliegen zum Mond, aber den Deich in Breese, den können sie nicht bauen.“

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