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Wie ein Kind sah die Schriftstellerin (hier 23) fast ihr Leben lang aus. Carson McCullers starb mit 50, nach dem vierten Schlaganfall.

© imago/United Archives International

Carson McCullers 100. Geburtstag: Die Ballade vom traurigen Leben

Sie lebte in New Yorks extravagantester WG, soff und liebte heftig. Ihre Romane: so einfühlsam wie gnadenlos.

Sie wusste genau, wo sie hinwollte: nach New York. Dabei war sie noch nie richtig aus Columbus, Georgia, rausgekommen. Aber wozu hatte sie denn Fantasie? Der traute sie ohnehin mehr Wahrhaftigkeit zu als der Wirklichkeit. Und ihre Mutter hatte sie schließlich zum Genie erklärt, noch bevor die Tochter geboren war. Also verkaufte die Familie einen Diamantring, ein Erbstück, damit die frühreife 17-Jährige 1934 nach New York ziehen konnte, um Künstlerin zu werden, reich und berühmt.

Sie hat es geschafft. Nicht im ersten Anlauf – da verlor sie zunächst ihr ganzes Geld, übernachtete aus Versehen im Bordell und ging nochmal in den Süden zurück, wo sie Reeves McCullers heiratete. Aber ziemlich bald. Mit 23 veröffentlichte Carson McCullers ihren Debütroman „The Heart is a Lonely Hunter“ („Das Herz ist ein einsamer Jäger“), über eine Gruppe von Außenseitern in einem Südstaatenstädtchen, das von der Kritik und den Hochglanzzeitschriften als menschliches und literarisches Meisterwerk gefeiert wurde. Ein Wunderkind war geboren. Bis zu ihrem frühen Tod, mit 50, sah sie aus wie ein Kind, benahm sich auch oft so.

Als sie auszog, die Welt zu erobern, hatte sie von dieser zwar noch nicht viel gesehen, aber umso mehr gelesen. Als Teenager verschlang sie Nietzsche und James Joyce, Faulkner und Flaubert, Eugene O’Neill und D.H. Lawrence, wie andere in dem Alter „Hanni und Nanni“ und Eiskrem. Ihre Hausgötter hießen Tschechow und Dostojewski. Bei den Russen fand sie das, was ihr eigenes Werk auszeichnen sollte: „scheinbar herzloses Nebeneinander des Tragischen mit dem Humorvollen, des Gewaltigen mit dem Trivialen, des Heiligen mit dem Unzüchtigen, die ganze Seele eines Menschen in einem gegenständlichen Detail“.

Eigentlich wollte sie Pianistin werden

Damals war sie Einzelgängerin. Groß und klapperig, mehr Junge als Mädchen, passte sie nicht zu den herausgeputzten Südstaatenschönheiten um sie herum. So wie Frankie, die zwölfjährige Hauptfigur in ihrem vielleicht besten Roman, „The Member of the Wedding“ (deutsch: „Frankie“, 1946), sehnte sie sich zwar danach, irgendwo dazuzugehören – und lehnte es zugleich ab. Sie bestand darauf, etwas Besonderes zu sein. Anders.

Eigentlich wollte sie Pianistin werden, ihre vergötterte Klavierlehrerin förderte den Plan. Dass Carson ihn verwarf, hatte mehrere Gründe. Sie fühlte sich verlassen von der Lehrerin, die wegzog, als ihr Mann von der Armee woanders stationiert wurde; ein traumatisches Erlebnis, für das Carson sich mit dem Karrierewechsel gewissermaßen rächte. Dazu kamen ihre angeschlagene Gesundheit und ihre Doppelbegabung: Schon als Kind hatte sie angefangen zu schreiben, eigene Theaterstücke für die Familie selbst inszeniert. Ihre Musikalität blieb, prägte ihre Texte. Geschichten komponierte sie zuweilen wie Fugen.

Engel und Biest konnte sie sein, großzügig und eifersüchtig, scheu und forsch, sanft und egoman. Carson McCullers strotzte vor Ambivalenzen, angefangen bei ihrem Geschlecht. Zu ihren Hosenanzügen trug sie Herrenhemden. Truman Capote hat es gleich in ihrem Gesicht gesehen, als er sie das erste Mal traf, diese Mischung aus Melancholie und Humor, die auch ihre grotesken Tragödien durchzieht. Ihren Figuren begegnete sie mal einfühlsam, mal gnadenlos. Allegorisch und märchenhaft, sind ihre Werke zugleich hyperrealistisch.

Mit 30 hatte sie schon drei Schlaganfälle hinter sich

Gern wird sie als zarter Spatz beschrieben – Suzanne Vega hat sie als „eisernen Schmetterling“ besungen. So kränklich sie schon in jungen Jahren war, so sportlich war Carson McCullers damals auch – unter allen Jobs, mit denen sie sich in New York durchschlug, war ihr der des Dog Walkers der liebste. In jungen Jahren legte ein rheumatisches Fieber sie lahm, das falsch diagnostiziert und behandelt wurde, mit 30 hatte sie schon drei Schlaganfälle hinter sich.

Phasenweise war sie halbseitig gelähmt, konnte den rechten Arm nicht bewegen, das Blickfeld war eingeschränkt, unzählige Operationen ließ sie im Laufe der Jahre über Arm, Ellbogen, Hüfte und Hand ergehen, litt unter großen Schmerzen. Einmal versuchte sie, sich aus Verzweiflung das Leben zu nehmen. Aber als ihr Mann, den sie zweimal heiratete, vorschlug, zusammen aus dem Leben zu scheiden, lehnte sie dankend ab. Er tat es allein, mit Erfolg, 1953 in Paris.

Nein, der Schmetterling ließ sich nicht unterkriegen, in seiner Lebenslust nicht bremsen. Als sie nicht mehr schreiben konnte, diktierte sie eben ihre Autobiographie. Als sie nicht mehr laufen konnte, ließ sie sich mit dem Krankenwagen von ihrem Wohnsitz am Hudson nach Manhattan bringen, um an ihrem 50. Geburtstag im feinen Plaza Hotel liegend Hof zu halten und Champagner zu trinken. Sie freute sich auf die bevorstehende Amputation ihres Beines, erhoffte sich davon mehr Bewegungsfreiheit. Vorher flog sie noch schnell nach Irland, zu Regisseur John Huston, der gerade ihren Roman „Spiegelbild im Goldenen Auge“ mit Marlon Brando und Liz Taylor verfilmte.

Sie wollte immer lieber die Liebende als die Geliebte sein

Wilde Liebe: John Huston verfilmte den verstörenden Roman "Spiegelbild im Goldenen Auge" mit Liz Taylor und Marlon Brando.
Wilde Liebe: John Huston verfilmte den verstörenden Roman "Spiegelbild im Goldenen Auge" mit Liz Taylor und Marlon Brando.

© mauritius images

Es gibt ein Foto von diesem Besuch, wie sie, eine greise Kindfrau, wie ein Klammeräffchen den Arm um Huston schlingt, als fürchte sie zu ertrinken. Als „Napfschnecke“ hat sie sich selbst einmal bezeichnet. Südstaatlerin durch und durch, hat die hochemotionale Carson McCullers ständig jemanden umarmt und geküsst. Einige ergriffen die Flucht. „Eine Stunde beim Zahnarzt ohne Novocain war wie eine Minute mit Carson McCullers“, meinte der Schriftsteller Gore Vidal.

Die Einsamkeit und die Liebe, das waren ihre Themen. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, mit dem poetischen Titel ihres ersten Romans hatte sie schon alles gesagt. Immer wieder wird das Herz zerrissen, so wie das der riesigen Miss Amelia in der „Ballade vom traurigen Café“, die es einem Buckligen schenkt. Geliebt wird kreuz und quer, über alle Geschlechtergrenzen hinweg.

Aber nirgends so wild wie in ihrem verstörendsten Werk, dem zweiten Roman „Spiegelbild im Goldenen Auge“ (1940) – halb so dick wie der erste und doppelt so gut, fand ein Kritiker, während andere ihn verrissen. In einer langweiligen Garnisonsstadt passiert ein Mord. „An dieser Tragödie waren beteiligt: zwei Offiziere, ein Soldat, zwei Frauen, ein Filipino und ein Pferd.“

In ihrem Haus bewirtete McCullers (2. v. rechts) Arthur Miller, Marilyn Monroe und Tania Blixen.
In ihrem Haus bewirtete McCullers (2. v. rechts) Arthur Miller, Marilyn Monroe und Tania Blixen.

© picture alliance / akg-images

Der eine Offizier hat eine Affäre mit der Frau des anderen, während seine eigene Gattin krank ist vor Trauer um ihr gestorbenes Baby, sich von einem eunuchenhaften Filipino umhegen lässt und aus Kummer mit der Gartenschere die Brustwarzen abschneidet. Der andere Offizier, gewohnt, sich in die Liebhaber seiner Frau zu verlieben, verzehrt sich nach einem Soldaten, der wiederum nachts ins Haus des Offiziers steigt, um sich als Voyeur nackt neben das Bett der Hausherrin zu setzen. Am Ende bringt einer den anderen um. Eine lakonische Erzählung.

Dreiecksbeziehungen waren ihre Spezialität

Sie selber wollte, das hat Carson McCullers klar gesagt, immer lieber die Liebende als die Geliebte sein. Ihre große Liebe galt der Schweizer Schriftstellerin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach, die aber mit einer anderen liiert war. Dreiecksbeziehungen und -freundschaften waren McCullers’ Spezialität, im Leben wie in der Literatur. Ein einziges Mal nur haben die beiden Frauen sich geküsst, flüchtig, nachdem die morphiumsüchtige Schwarzenbach sich gerade mal wieder die Pulsadern aufgeschnitten hatte.

Abgesehen von ihrer Ehe hatte McCullers nie eine Beziehung. Aber die Napfschnecke suchte an unerwarteten Orten Halt. Als 17-Jährige, allein in New York, kauerte sie sich mit ihren Büchern in die Telefonzellen im Edel-Kaufhaus Macy’s. Als Tennessee Williams ihr einen Fanbrief schickte, den ersten seines Lebens, fuhr sie ihn gleich in Nantucket besuchen, wo die beiden Seelenverwandten gemeinsam am Tisch saßen und schrieben. Der Dramatiker hatte sie ermuntert, aus ihrem Roman „Frankie“ ein Theaterstück zu machen, das ein riesiger Erfolg bei Kritikern und Publikum wurde und mit derselben Besetzung verfilmt wurde. Ihr zweites Stück wurde 1957 ein ebenso großer Flop. Ihre besten Werke lagen da schon hinter ihr.

Sie gründete in Brooklyn eine legendäre Künstler-WG

Um der zerstörerischen Ehe mit Reeves zu entkommen, gründete Carson McCullers mit ihrem schwulen, nicht minder extravaganten Freund George Davis, 1940 die sagenhafteste Künstler-WG, die New York je erlebt hat. In Brooklyn, Jahrzehnte bevor der Stadtteil zum Zentrum der US-amerikanischen Literaten wurde. Zu den Urbewohnern gehörten der Lyriker W. H. Auden, der Komponist Benjamin Britten mit seinem Partner, die Burleske-Schauspielerin Gypsie Rose Lee, an deren Busen sich Carson manchmal wärmte.

Bald zog das bisexuelle Schriftstellerpaar Paul und Jane Bowles ein, Klaus und Erika Mann gingen ein und aus, Diana Vreeland stiftete den Flügel. Es wurde so exzessiv gefeiert wie gearbeitet (letzteres allerdings erst, nachdem W.H. Auden als Herbergsvater für mehr Ruhe und Ordnung gesorgt hatte). „February House“ wurde es genannt, weil die meisten Bewohner im Februar Geburtstag hatten – so wie McCullers, die am 19.2.1917 zur Welt kam.

Sie war an ihrem Ziel angekommen, war anerkanntes Mitglied der New Yorker Bohème. Und floh doch zwischendrin immer wieder, um sich päppeln zu lassen, zu ihrer Familie in Georgia (später zog sie mit Mutter und Schwester in ein Haus am Hudson), in die legendäre Künstlerkolonie Yaddo.

Richard Wright hielt es dort nicht lange aus

Einer, der wegen seiner Verehrung für die Autorin ins February House einzog, war der schwarze Schriftsteller Richard Wright. Er hatte McCullers gelobt, nicht nur, weil sie den Rassismus zum Thema machte, sondern weil sie für ihn die erste weiße Südstaatenautorin war, die über Schwarze mit derselben Unbefangenheit schrieb wie über Weiße. Der Ku-Klux-Klan beschimpfte sie als „Negerliebchen“.

Allerdings hielt Wright es nicht lange aus im Haus. Er mochte der Selbstzerstörung der Verehrten nicht zugucken. Denn das Wunderkind hatte sich früh zur Trinkerin entwickelt, die am Morgen mit Bier begann, mit reichlich Sherry weitermachte und spätabends mit Bourbon aufhörte.

„Krass“ würden Jugendliche von heute Carson McCullers wohl nennen, in deren Werk Teenager eine so wichtige Rolle spielen. Es wäre wohl als Kompliment zu verstehen, als Anerkennung der radikalen Modernität ihres Stils und ihrer existenziellen Themen. Suzanne Vega hat ihr gerade eine CD gewidmet: „Lover, Beloved“, das auf einem Theaterstück der Sängerin beruht, genauer gesagt einer lebenslangen Auseinandersetzung mit McCullers, die sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Menschlichkeit portraitiert. Man kann sich keine bessere Einführung als das Album wünschen.

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