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Clara Immerwahr.

© public domain

Der Tod von Clara Immerwahr: Das Chemie-Unglück

Clara und Fritz Haber sind geniale Wissenschaftler. Sie gehört der Friedensbewegung an, er plant den Krieg mit. Sein Chlorgas tötet 1915 viele Franzosen in den Schützengräben. Seine Frau hält es nicht mehr aus.

An einem Sonntagmorgen, es ist der 2. Mai 1915, steht die Chemikerin Clara Haber im Garten einer prächtigen Villa in Berlin-Dahlem, Faradayweg 8. In der rechten Hand hält sie eine Militärpistole. Gewitter liegt in der Luft.

Am Vortag hat sie sich heftig mit ihrem Mann gestritten. Fritz Haber, ebenfalls Chemiker, weltberühmt dazu. Clara hat Fritz vorgeworfen, er betreibe eine „Perversion der Wissenschaft“. Er nannte sie eine Vaterlandsverräterin.

Grund ihres Streits ist die Frage, ob Chemie als Waffe eingesetzt werden darf. Fritz Haber leitet die Zentralstelle für Chemie im Kriegsministerium, er persönlich hat der Obersten Heeresleitung empfohlen, chemische Kampfmittel zu entwickeln und einzusetzen. Französische Truppen haben schon 1914 Hand- und Gewehrgranaten benutzt, die nichttödliche Reizstoffe enthielten. Damit lässt sich der eigene Einsatz von Gas begründen, glaubt Fritz Haber.

Seine Ehefrau ist anderer Meinung. Sie teilt die Kriegsbegeisterung ihrer Zeitgenossen nicht, fühlt sich der Friedensbewegung zugehörig, bewundert die Aktivistin Bertha von Suttner. Für Clara Haber sollen alle modernen Wissenschaften der Menschlichkeit dienen. Stattdessen muss sie erleben, wie sich der Fortschritt gegen den Menschen wendet.

Der erste militärisch erfolgreiche Gasangriff von deutscher Seite wird von Fritz Haber persönlich geleitet. Nach dessen Verfahren werden am 22. April 1915 bei Ypern in Flandern 150 Tonnen Chlorgas auf die ungeschützten gegnerischen Soldaten abgeblasen: Die Chemikalie ist in den eigenen Schützengräben in Stahlflaschen deponiert und wird, sobald der Wind günstig steht, durch Bleirohre geleitet und freigesetzt. Die Franzosen, die nicht im Gas umkommen, fliehen in Panik. Für Clara Haber ist das Ereignis eine Katastrophe, für ihren Mann ein Triumph: Auf Geheiß des Kaisers wird er zum Hauptmann der Reserve befördert und mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Endlich spürt er die Anerkennung, die ihm in Deutschland lange verwehrt blieb.

Clara Immerwahr, 45, und Fritz Haber, 47, stammen beide aus jüdischen Familien, beide sind zum protestantischen Glauben konvertiert. Kennengelernt haben sie sich zu Beginn ihres Chemiestudiums in einer Tanzschule. Bald macht er ihr einen Heiratsantrag, doch sie lehnt ab: Sie will mehr aus ihrem Leben machen als das, was die gesellschaftliche Norm einer bürgerlichen Ehefrau zubilligt. Nur Mutter sein, den Haushalt führen, dem Mann eine gute Gesellschafterin sein, das ist ihr zu wenig. „Eine kluge Frau versteckt ihre Klugheit“, besagt ein Sprichwort der Zeit. Genau das möchte Clara Immerwahr nicht. Sie will wirtschaftlich unabhängig sein, und sie will Bildung. Der Sinn des Lebens besteht für sie auch darin, die eigenen Fähigkeiten „zur Höhe zu entwickeln“. So hat sie es von ihrem Vater, einem Landwirt und ebenfalls Chemiker, gelernt.

Dass Clara überhaupt an die Hochschule darf, verdankt sie ihrem Talent und ihrer Durchsetzungskraft: Der höhere Bildungsweg ist Frauen vor 1900 noch vielerorts verschlossen. Seit 1896 ist ihnen in Preußen immerhin der Besuch einer Universität als Gasthörerin erlaubt, sofern sie eine entsprechende Qualifikation vorweisen können. Das kann Clara Immerwahr: Sie hat die höhere Töchterschule in Breslau besucht. Deren Direktorin, die der stärker werdenden Frauenrechtsbewegung nahesteht, hat schnell Claras Talent erkannt, ihren Ehrgeiz und ihr Interesse für die Naturwissenschaften. Sie sorgt dafür, dass Clara außerhalb des normalen Stundenplanes vom Chemielehrer der Schule unterrichtet wird.

An der Hochschule wird Clara gehänselt

Fritz Haber.
Fritz Haber.

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Danach wird Clara selbst Lehrerin für die höhere Töchterschule und nimmt schließlich an der Prüfung zur Mittleren Reife an einem Realgymnasium als Externe teil. Die besteht sie glänzend und erhält 1896, zusammen mit 35 anderen Frauen, den Status einer Gasthörerin an der Universität Breslau. Allerdings muss sie jeden Dozenten um Zustimmung bitten, bevor sie an dessen Veranstaltung teilnehmen darf. Nicht alle sind begeistert. Einige lehnen die „geistigen Amazonen“ offen ab, andere dulden, nur wenige akzeptieren sie.

Von den männlichen Kommilitonen wird Clara Immerwahr an der Hochschule gehänselt, im chemischen Labor nicht selten mit Verachtung behandelt. Zu ihrem Glück ist Richard Abegg, der Leiter des Chemischen Instituts, einem modernen Frauenbild gegenüber aufgeschlossen. Er wird Clara Immerwahrs wichtigster Unterstützer. Nachdem sie ihre Dissertation über die „Löslichkeitsbestimmung schwerlöslicher Salze des Quecksilbers, Kupfers, Bleis, Cadmiums und Zinks“ erfolgreich verteidigt hat, erhält sie am 22. Dezember 1900 den Doktortitel mit magna cum laude – als eine der ersten Frauen überhaupt in Deutschland, als Erste an der Breslauer Universität.

Kurz darauf taucht plötzlich Fritz Haber wieder in ihrem Leben auf, der seinerseits im Begriff ist, Karriere zu machen. Erneut hält er um ihre Hand an. Nach ein paar Tagen Bedenkzeit willigt Clara diesmal ein. Ihr Förderer Richard Abegg wird bald die Universität wechseln, sie würde ihre wichtige Stütze verlieren. Ihre Zukunft in der Forschung, die ihr so wichtig ist, steht damit infrage. Fritz Haber macht Clara Hoffnung, mit ihm als Ehemann gemeinsam zu forschen, und nimmt ihr damit die Angst, in einer Ehe auf die Mutterschaft reduziert zu werden. Neben der Liebe soll die Wissenschaft das Band sein, das beide miteinander verbindet. Sie heiraten 1901.

Fritz Haber hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine Professur für technische Chemie in Karlsruhe inne, Clara zieht zu ihm. Anfangs scheinen sich ihre Hoffnungen zu erfüllen: Sie kann im Labor der Hochschule forschen und arbeitet ihrem Mann zu. Im Sommer 1902 wird Sohn Hermann geboren. Er ist ein sehr kränkliches Kind und bedarf gesteigerter Fürsorge. Für Clara wird es nun immer schwieriger, im Labor zu arbeiten. Auch bringt Fritz Haber kaum noch Verständnis für ihre Wünsche auf. Eine viermonatige Studienreise durch die USA tritt er allein an. Clara wird in die Rolle der Gattin an der Seite des genialen Wissenschaftlers gedrängt. Fritz dagegen arbeitet unablässig, an der Kindeserziehung zeigt er wenig Interesse. Seine vielen Tätigkeiten lassen Fritz Haber zuweilen „vergessen, dass er Vater ist“, klagt Clara in einem Brief.

Wie sehr hat sie sich ein Zusammenleben gewünscht, wie es das Ehepaar Marie und Pierre Curie in Frankreich führt, als gleichberechtigte Wissenschaftler an gemeinsamen Projekten. 1903 erhalten die Curies den Nobelpreis. In Karlsruhe dagegen verweist Fritz Haber eines Tages seine Frau des Arbeitszimmers an der Hochschule. Sie sei an seinem Institut „nicht gerade willkommen“, brüskiert er sie. Was ihr bleibt, sind Vorträge, die sie im Rahmen des Volksbildungsvereins Karlsruhe zum Thema „Chemie im Haushalt“ hält. Die Kurse sind sehr gut besucht, und sie ist stolz auf das selbst verdiente Honorar.

Der Erste Weltkrieg entzweit sie weiter

Clara Immerwahr.
Clara Immerwahr.

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Je erfolgreicher Fritz Haber wird, desto weiter entfernen sich beide voneinander. Irgendwann benutzt Clara nicht mehr das Briefpapier ihres Mannes, sondern ein eigenes. Auch ein Zimmer richtet sie für sich allein ein. Fritz Haber sieht Clara dagegen als „schwerlebige Ehefrau“, die ihm den Alltag nicht erleichtere, sondern von der er sich seinerseits ablenken müsse. In einem Brief an ihren alten Mentor Abegg schreibt Clara: „Was Fritz in diesen Jahren gewonnen hat, das – und mehr – habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit.“ Die menschlichen Qualitäten ihres Mannes seien „außer dieser einen (des genialen Forschers) nahe am Einschrumpfen. Er ist nicht gerecht genug, um den Grund in sich zu suchen, sondern schiebt ihn hauptsächlich auf mich.“

Als Fritz Haber 1911 zum Gründungsdirektor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin berufen wird, keimt nochmals Hoffnung in Clara auf, nun auch selbst wieder wissenschaftlich tätig werden zu können. Doch mehr als Übersetzungen, Korrektur- und theoretische Zuarbeit für die Projekte ihres Mannes wird es auch hier nicht. Clara Haber resigniert und beschließt, von der Wissenschaft abzulassen. Sie will sich von nun an auf die Rolle der Mutter beschränken.

Dann bricht Ende August 1914 der Erste Weltkrieg aus, und Fritz Haber will beweisen, dass er als gebürtiger Jude ebenfalls ein begeisterter und patriotischer Deutscher ist. Zu Kriegsbeginn meldet er sich freiwillig zu den Waffen. Schon als junger Mann hatte er ein Jahr lang gedient, die Laufbahn als Reserveoffizier war ihm wegen seiner jüdischen Herkunft verwehrt geblieben. Nun, als renommierter Wissenschaftler, ist sein Rat auch beim Militär gefragt. Im Kriegsministerium wird er mit Aufbau und Leitung der „Zentralstelle für Chemie“ beauftragt. Fritz Haber begreift es als patriotische Pflicht, sein Wissen in den Dienst des Krieges zu stellen: „Im Frieden für die Menschen und im Kriege für das Vaterland.“ Darin unterscheidet er sich nicht von der überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler in Deutschland und den anderen kriegführenden Staaten. Auch der Einsatz von Gas als Waffe findet allgemeine Zustimmung.

Ganz anders Clara. Sie ist entsetzt, erleben zu müssen, mit welcher Skrupellosigkeit ihr Mann den deutschen Gaskrieg organisiert. Ausführlich berichtet er ihr von seiner neuen Tätigkeit. Clara hält sich mit ihrer Meinung nicht zurück, redet ihm oft ins Gewissen. Sogar in aller Öffentlichkeit tritt sie ihrem Mann entgegen. Sie verfasst Artikel, in denen sie vor dem Einsatz von Giftgas warnt. Keine Zeitung wagt es, die Texte zu veröffentlichen.

Kurz vor dem Gasangriff bei Ypern begleitet Clara ihren Mann zu einem Truppenübungsplatz bei Köln. Die Wirkung von Chlorgas soll hier in einer größeren Übung getestet werden. Dazu hat man ein Stellungssystem nachgebaut und darin Hunde, Schafe und Ziegen festgebunden. Sie sollen die feindlichen Soldaten simulieren. Bei günstiger Windrichtung wird das Chlorgas aus Stahlflaschen abgeblasen. Es ist etwas schwerer als Luft, fällt in die Gräben hinein, kriecht in die Unterstände und erstickt alle Tiere. Clara ist außer sich. Zu ihrem Mann sagt sie: „Wenn du wirklich ein glücklicher Mensch wärst, dann könntest du das nicht machen“. Vor den anwesenden Offizieren, Vertretern der Industrie und im Beisein ihres Mannes hält sie eine leidenschaftliche Rede, appelliert an das Gewissen der Beteiligten. Ohne Erfolg.

Am 1. Mai lädt Fritz Haber zu einem Empfang in seine Dahlemer Dienstvilla. Er möchte seine Beförderung zum Hauptmann der Reserve feiern. Erneut kommt es zu einer Auseinandersetzung: Fritz ist überzeugt, dass sich der Krieg durch den Einsatz von Gas abkürzen lasse. Clara sagt, das Engagement ihres Mannes sei „ein Zeichen der Barbarei, jene Disziplin korrumpierend, die dem Leben neue Einsichten vermitteln sollte“. Das Zerwürfnis der beiden ist endgültig.

Am nächsten Morgen zieht Clara Haber die Dienstpistole ihres Mannes aus dem Holster, das an der Garderobe hängt, und geht in den Garten. Nach einem Probeschuss in die Luft setzt sie die Mündung der Waffe auf ihre linke Brust und drückt ab. Sie stirbt erst zwei Stunden später, nachdem ihr Sohn Hermann sie gefunden hat. Noch am selben Abend reist Fritz Haber in Richtung Ostfront, um dort einen weiteren Gasangriff vorzubereiten.

1918 erhält er den Nobelpreis für eine Leistung vom Anfang des Jahrhunderts: die Herstellung von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff aus der Luft. Ammoniak ist der Ausgangsstoff für Kunstdünger sowie für Sprengstoff. Auch Clara Haber hatte an dieser Erfindung einen Anteil, wurde aber nicht gewürdigt. 1919 leitet Fritz Haber die Degesch, die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, jene Firma, welche später das Gas für die Gaskammern der Nazis liefern wird.

Als Jude drangsaliert, emigriert Haber 1933 nach Großbritannien. 1934 stirbt er an Herzversagen. Die Villa, in deren Garten sich Clara Haber das Leben nahm, gehört heute zum Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft.

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