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Massenproteste vor den Wahlen 2014 in Bosnien.

© AFP

Die Folgen des Krieges: Wie junge Bosnier um Normalität ringen

Sie wurden groß mit dem Anblick von Toten. Heute sind Amra, Belma und Neno erwachsen, aber Bosnien hat noch immer keinen Frieden gefunden.

Amra ist acht, als sie ansehen muss, wie eine Granate ihre beste Freundin in Stücke reißt. Es ist der Spätsommer 1992 in Sarajevo. Die Granate schlägt vor der eigenen Haustür ein, während die Kinder spielen. Die Freundin stirbt vor Amras Augen, so wie drei weitere Menschen, 24 werden verletzt – die meisten von ihnen Kinder.

Ganz und gar farblos ist das Gesicht von Amras Mutter, als sie ihre blutüberströmte Tochter zwischen den Leichen und Verletzten auf der Straße findet. Das Mädchen versucht noch, die Wunde am Bein mit dem Rockzipfel zu überdecken, aus Scham. Irgendwie glaubt Amra, der kaputte Rock und die Wunde seien ihre Schuld.

Fast vier Jahre dauert die Belagerung Sarajevos durch die serbische Armee. Sterbende Menschen sieht Amra nun ständig, erschossen auf offener Straße von serbischem Militär, das sich in den Bergen verschanzt. Die malerische Lage im Tal des Dinarischen Gebirges wird der Stadt während des Bosnien-Kriegs zum Verhängnis. Die Scharfschützen feuern von den steilen Hängen.

Jeder Tag kann dein letzter sein oder der letzte deiner Lieben – das brennt sich damals in Amras Bewusstsein ein.

Eine Versöhnung gibt es bis heute nicht

Heute ist das Mädchen von einst 34 Jahre alt. Eine schöne, strahlende Frau. Ihre braunen Locken umrahmen das Gesicht mit den geschwungenen Augenbrauen und den sorgsam getuschten Wimpern. Amra hat zwei Kinder, sieben und drei Jahre alt, einen Mann, eine Wohnung im Herzen der Stadt. Das macht sie glücklich. Mit ihrem Mann betreibt sie eine kleine Marketingagentur. Es ist ein ruhiges, unaufgeregtes Leben. Von dem Hügel, auf dem sie lebt, hat man freie Sicht auf die Baščaršija, das alte Basar-Viertel, die Miljacka schlängelt sich am frisch renovierten Rathaus vorbei. Idyllisch wirkt dieser Ort, der Amras Zuhause ist. Vergessen aber kann sie nicht.

Seit mehr als 20 Jahren leben die Menschen in Frieden. Doch Frieden bedeutet in Bosnien und Herzegowina vor allem die Abwesenheit von Krieg. Eine Versöhnung zwischen den Ethnien gibt es bis heute nicht. Das merkt man bei Amra auch an den kleinen Formulierungen. Wenn sie über ihre Volksgruppe, die muslimischen Bosnier spricht, sagt Amra nicht Bosniaken, wie es der politische Duktus vorsieht, sondern Bosnier – das empfinden serbische und kroatische Bosnier als Affront. „Ich bin eine Patriotin. Und stolz darauf, dass wir als Familien Sarajevo verteidigt haben.“ Verzeihen kann sie auch nicht.

Amra leidet wie viele junge Bosnier unter der weitverbreiteten Lethargie.
Amra leidet wie viele junge Bosnier unter der weitverbreiteten Lethargie.

© Jim Marshall

1425 Tage dauerte die Belagerung. Dann beendete das Abkommen von Dayton den Krieg und schuf gleichzeitig eines der kompliziertesten Staatengebilde der Welt. Drei Präsidenten vertreten jeweils die Belange der serbischen, kroatischen und muslimischen Bosnier. Nationalismus, Korruption und Vetternwirtschaft sind dem politischen System eingeschrieben. Jeder versucht, sich und seinen Leuten möglichst viel zuzuschanzen. Im Oktober wählt das Land ein neues Parlament. Hoffnung auf Veränderung haben die Bosnier kaum, aber Sorge, dass die Wahlen den Nationalismus im Land und die Spaltung verstärken.

Die Jungen verlassen in Scharen das Land

Die Kriegskinder von damals kommen in dieser Gesellschaft nicht zum Zug. Eigentlich sollten sie es sein, die heute in verantwortlichen Positionen Politik, Wirtschaft und Kultur gestalten. Und das Land zusammen in den Wohlstand führen, auch mit dem Geld der internationalen Gemeinschaft, das seit mehr als 20 Jahren fließt. Stattdessen sind viele ohne Job. Bosnien und Herzegowina hat eine der höchsten Jugendarbeitslosigkeiten der Welt. Laut Weltbank liegt sie sogar bei 67,5 Prozent, insgesamt ist jeder Vierte ohne Arbeit. Die Jungen verlassen in Scharen das Land. Seit 2013 waren es rund 150 000 Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von 3,5 Millionen.

Wer bleibt, muss sich fragen lassen, warum.

„Man wäre ja verrückt, wenn man nicht überlegen würde zu gehen“, sagt Belma Rizvanović. Seit Jahren verändere sich überhaupt nichts. „Es ist unerträglich.“

Belma sitzt im „Kimono“, einem Restaurant im Einkaufszentrum im Stadtteil Marijin Dvor, das mit arabischem Geld finanziert wurde und auf dessen vier Etagen sich an Wochenenden halb Bosnien trifft. Aus den Boxen dröhnt lauter 80er-Jahre-Pop. Belma kommt gerade von der Arbeit bei einer Hilfsorganisation. Dort entscheidet sie, welche Geschäftsideen Kredite bekommen. Mit einem Latte macchiato hat sie es sich auf den tiefen Sofabänken mit dicken Kissen bequem gemacht. Ein Luxus, den sich nur eine Elite im Land leisten kann. Durch die Fensterfront blickt sie auf das Hotel Holiday mit seiner markant gelben Fassade, das während des Krieges noch Holiday Inn hieß und Journalisten aus aller Welt Unterschlupf bot.

Scharfschützen schossen wahllos auf Passanten

1992 brannte nach einem serbischen Angriff das ehemalige Parlamentsgebäude.
1992 brannte nach einem serbischen Angriff das ehemalige Parlamentsgebäude.

© AFP

Belma, 30 Jahre alt, Röhrenjeans, taillierter Blazer, baumelnder Pferdeschwanz, spricht über ihre Kindheit im Krieg. Dort unten auf dem Platz vor dem Hotel habe sie im Frühjahr 1992 an der Hand ihrer Eltern gestanden und demonstriert. Sarajevo – so ihr Wunsch – sollte das „Jerusalem Europas“ bleiben, eine Stadt, in der Moscheen, Kirchen und Synagogen friedlich nebeneinander existieren. Dann fielen die Schüsse, abgefeuert aus dem Holiday Inn, das damals auch das Hauptquartier von Radovan Karadžics Serbischer Demokratischer Partei war. Zwei junge Frauen starben. Heute ist eine Brücke nach ihnen benannt. „Most Suade i Olge“ heißt sie. An dieser Brücke begann der Krieg – und für Belma das Ende ihrer Kindheit. Da war sie fünf Jahre alt.

„Wir haben alle PTBS. Aber was soll man machen?“, sagt Belma, zuckt die Achseln und lacht, wie sie es noch häufiger in dem Gespräch machen wird. Ein ganzes Land mit posttraumatischen Belastungsstörungen?

Draußen quälen sich scheinbar endlos viele Autos über die Zmaja od Bosne stadteinwärts. „Sniper Alley“ nannten die Menschen die Straße im Krieg, Scharfschützen schossen von den Plattenbauten ringsum wahllos auf Passanten. Noch immer sind die Fassaden der Häuser übersät von Einschusslöchern.

Belma will nicht, dass ihre Vergangenheit ihre Zukunft dominiert. Für ihren Job reist sie nach Asien, Amerika und quer durch Europa, manchmal vergisst sie dabei all das Schwere. Doch Bosnien und Herzegowina gehört nicht zur EU. Eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, ist nicht einfach. Wer in die USA will, für den kann es unter Umständen schon sehr schwierig werden, ein Urlaubsvisum zu beantragen.

Belma spricht oft von Solidarität

Viele von Belmas Freunden und Bekannten arbeiten in Österreich, der Schweiz, in Deutschland und Schweden. Sie sind Ärzte, Manager, IT-Experten. „Bosniens bester Export.“ Will sie ihren Freunden folgen und das Land verlassen, wenn sich die Gelegenheit ergibt?

Die Realistin sagt: „Ich will nicht, dass meine Kinder sich einmal so abkämpfen müssen.“ Die Idealistin träumt auf den bequemen Sofakissen des „Kimono“ von einer anderen Gesellschaftsordnung – von einer linken Revolution. Belma spricht oft von Solidarität, wenn sie sich ausmalt, wie es mit ihrem Land weitergehen könnte. Als die Granaten explodierten, sei man in den Kellern der Hochhäuser füreinander da gewesen, solidarisch eben. „Die Menschen hier wissen, wie man überlebt. Das ist unser Potenzial.“

Belma träumte lange von einer linken Revolution in ihrem Land. Heute lebt sie in Portugal.
Belma träumte lange von einer linken Revolution in ihrem Land. Heute lebt sie in Portugal.

© Jim Marshall

Auf der Agenda der europäischen Politik hat Bosnien auch wegen Brexit, Trump und Co seit einigen Jahren kaum einen Platz. Viele im Land denken: So lange es hier keinen Krieg gibt, reicht das dem Westen schon. Eines der größten Probleme ist die Korruption. Das „Center for Investigative Reporting“, ein in Bosnien einzigartiges Projekt, berichtet regelmäßig über Fälle von Bestechung, mal trifft es kleine Unternehmer, vor einiger Zeit deckten die Journalisten auf, wie sich Dutzende Parlamentarier bereichert hatten.

Konflikte zwischen Volksgruppen stärken das System

Viele Menschen – auch viele von denen, die bleiben – sind frustriert. Und das weiß die politische Klasse. Sie sorgt sich trotz der Lethargie, die das Land in vielen Teilen ergriffen hat, vor einem Ereignis, dass so etwas wie einen bosnischen Frühling auslösen könnte. So geschah es vor den Parlamentswahlen 2014. Damals erschien tatsächlich für einen kurzen Moment vieles von dem möglich, was Belma und ihre Freunde fordern, ein Wandel, eine Revolution oder irgendetwas dazwischen. Es war das erste Mal seit dem Krieg, dass die Volksgruppen sich gemeinsam für ein Ziel engagierten. Die Konflikte zwischen den Gruppen, sie stärken das System. Auch aus diesem Grund ist der Nationalismus vor Wahlen immer besonders ausgeprägt. Die Propagandamaschinen der nationalistischen Parteien laufen schneller und lauter als sonst schon.

Der Protest von 2014 verpuffte. So war es auch im Vorjahr, als in der Kleinstadt Jajce Schüler gegen die ethnische Trennung an Schulen protestierten. Die Politik machte Zugeständnisse, die Bewegung blieb lokal. So ist es auch jetzt, wo viele Menschen gegen Korruption und Polizeigewalt auf die Straßen der größeren Städte gehen.

Ein tragischer Todesfall löst Proteste aus

Der Auslöser für die aktuellen Proteste ist der Tod des 21-jährigen David Dragicevic, der im März tot in einem Fluss in Banja Luka im Norden des Landes gefunden wurde. Die Polizei gab an, er sei dort unter Drogeneinfluss ertrunken, und habe vorher einen Einbruch begangen. Sein Vater glaubt, sein Sohn sei unter Drogen gesetzt, gefoltert und ermordet worden. Und an eine große Vertuschung durch die Behörden. Er hat die Bewegung „Pravda za Davida“ – „Gerechtigkeit für David“ gegründet.

Allein die Facebook-Gruppe hat mehr als 230 000 Mitglieder, Zehntausende gingen etwa in Banja Luka auf die Straße, aber auch in Sarajevo, in Wien, wo David studierte, Graz, München und Frankfurt, und selbst im fernen Oslo versammelten sich Teile der dortigen bosnischen Diaspora. Die Regierung ließ den Vater im Parlament sprechen. Mittlerweile scheint der Protest wieder an Schwung verloren zu haben.

„Statt auf die Straße zu gehen, hocken die Leute im Café“

Neno will sein Leben nicht verplempern. "Ich will selbst gestalten", sagt der Politikwissenschaftler.
Neno will sein Leben nicht verplempern. "Ich will selbst gestalten", sagt der Politikwissenschaftler.

© Jim Marshall

Auch Neno war bei den Protesten dabei, schon 2014. Er ist skeptisch, was den Wandel angeht. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und einer langen, erfolglosen Jobsuche hat Neno seine Nische gefunden: Er führt Touristen für ein Trinkgeld durch die Stadt, davon kann er angenehm leben, denn Sarajevo wird zunehmend zum hippen Ziel auf dem Balkan. „Viele hier schlagen sich so durch“, sagt er. „Ich will aber mehr, ich will selbst gestalten.“

Als Neno, Belma und die anderen jungen Bosnier ihre Plakate im Frühjahr 2014 hochhielten, gehörten sie trotz aller Euphorie zu einer Minderheit. Viele ihrer Altersgenossen, die früher einmal Kriegskinder waren, fügen sich heute nahtlos ein. Sie sind froh über ihren Acht-Stunden-Tag in der Verwaltung, den sie oft dank Beziehungen ergattert haben. Sie stellen keine Fragen, weil sie fürchten ihren Job zu verlieren. Sie freuen sich über die Ruhe und Sicherheit, die in ihrem Leben eingekehrt ist. „Statt auf die Straße zu gehen und sich für einen Wandel einzusetzen, trinken sie Kaffee“, sagt Neno. Das ärgert ihn. Die Leute verplemperten ihr Leben. Für ihn sind die gut besuchten Kaffeehäuser der Stadt auch ein Zeichen der Lethargie der Jungen.

In ihrem Schlafzimmer steht ein gepackter Koffer

Viele haben wohl Angst vor neuen Ausschreitungen, vor gewalttätigen Konflikten. Der Krieg zeigt sich bis heute im Alltag der Menschen, die ihn erlebt haben. Neno ist sehr geräuschempfindlich. Ein zerplatzter Luftballon, ein lauter Schrei auf dem Kinderspielplatz, ein Feuerwerk – all das lässt seinen Puls schneller schlagen. Belma bekommt in muffigen Kellerräumen Beklemmungen. Amra kann nicht in das Viertel zurückkehren, in dem ihre Freundin einst mit einer Granate getötet wurde.

Als 2014 die ersten Bilder von Steine werfenden Menschen im Fernsehen zu sehen sind, wird Nenos Mutter nervös. „Neno, hast du deinen Reisepass?“, fragt sie ihn. „Wenn es wieder losgeht, verschwinde ich.“ In ihrem Schlafzimmer steht seitdem ein gepackter Koffer.

Auch sie will ihr Leben, das einzige, das sie hat, nicht in den Dienst eines Wandels stellen, der noch Jahrzehnte andauern kann.

Belma wollte nicht länger warten

Als Belma ein paar Wochen nach dem ersten Gespräch im Einkaufszentrum an ihr Handy geht, sitzt sie in einem Café an der Küste Portugals. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, das Meer rauscht, berichtet sie. Belma ist gegangen. Sie möchte nicht länger warten auf eine Veränderung. Nun promoviert sie an der Uni in Lissabon in Wirtschaftsingenieurswesen. Zwei Jahre will sie mindestens bleiben, vielleicht länger. „Es ist die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt sie.

Und was ist mit der Revolution? „Ich werde die Prinzipien der Solidarität nie aufgeben und immer verbunden sein mit meinem Zuhause, egal, wo ich wohne.“ Bei Belma Rizvanović hat die Realistin gegen die Idealistin gewonnen.

Stefanie Nickel

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