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Die  MITFAHRER: Ein ganz langes Elend

Von: Berlin nach Bielefeld Dauer: 4 Stunden Auto: Fiat Punto Insassen: 4.

Am Treffpunkt steht ein Mensch, daneben ein Riese. Als ich näherkomme, sehe ich, dass der Riese auch bloß ein Mensch ist. Aber ein wirklich sehr großer – besonders neben dem anderen, der wirklich klein ist. Wo der kleine Mann aufhört, beginnt bei dem großen die Brust. „Ich bin Maik“, sagt der kleine Mittvierziger mit Kugelbauch fröhlich. Der Große brummt kurz.

Die Fahrerin ist spät dran. „Ätzend“, meckere ich. „Absolut“, sagt Maik. Der Namenlose sagt nichts. Er raucht lieber. Drei Zigaretten in einer Viertelstunde. Dann ist die Fahrerin – jung, blond, Glitzerstein am Schneidezahn – endlich da. Ich sehe das Drama kommen: Der lange Mann wird hierbleiben müssen. Niemals passt er in diesen italienischen Kleinwagen. Während wir auf die A115 rauschen, so stelle ich mir vor, wird er noch immer neben der öden Tankstelle in Charlottenburg stehen, Nikotin atmen, und uns traurig nachblicken.

Bevor ich empathisch seufzen kann, sehe ich den Langen die rechte Hintertür (!) des Autos öffnen. Ich steige links ein und staune: Langsam schiebt sich ein Bein in den Innenraum, der Fuß sticht in die Lücke zwischen den Vordersitzen, dreht sich einmal, zweimal, passt. Der restliche Körper gleitet hinein, zum Schluss der zweite Fuß. Schieben, drehen, versenkt! Der große Mann spielt „Tetris“ mit seinen Gliedmaßen. Die Knie ragen nun links und rechts neben dem geduckten Kopf auf.

Ich bin fasziniert. Wer ist dieser Faltkünstler, der freiwillig auf den Vordersitz verzichtet? Während der Fahrt schmeiße ich mich auf die schmierige alte Mitfahrerart an ihn ran. „Und, wo geht’s hin?“, frage ich. „Auf Arbeit“, brummt der Große. Mehr kommt nicht. Mir fällt auf, wie grau alles an ihm ist. Die struppigen Haare, der Bart, sogar die Haut. Er riecht wie das Sofa in einem Raucherclub. Ich male mir herzergreifende Geschichten aus. Vielleicht ist er das schwarze Schaf einer Artistenfamilie. Verstoßen, weil er seine vorbestimmte Showrolle als „größter Mann der Welt“ nicht annehmen mochte. Und nun, verbittert und gebrochen, raucht er einsam seinem Ende entgegen. In diesem Moment ergreift die Fahrerin das Wort. Das Kennzeichen „GF“ des Opels neben uns stehe für „Geisterfahrer“, erklärt sie. Selbst der heitere Maik findet dafür nur ein bemühtes Lächeln.

Doch der mürrische Hüne neben mir gerät plötzlich in Wallung: Die Schultern wackeln, ein Knie kippt bedrohlich in meine Richtung. Und dann bellt er ein tiefes Lachen, bis ihm eine Träne über die fahle Wange rollt.

Okay, denke ich, vielleicht redet er einfach nur nicht so gerne.Philipp Stute

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