zum Hauptinhalt

Geschichte: Es kommt der Doktor Eisenbarth

Er amputiert Brüste, entfernt Hoden und bohrt Schädel auf –  alles ohne Narkose. Doktor Eisenbarth ist als Chirurg ein Star und wird schwerreich. Eine Würdigung zum 350. Geburtstag.

Schon von weitem hört man Trommelwirbel, Trompetenstöße und wildes Geschrei. Es sind unruhige Zeiten, die Habsburger kämpfen mit Frankreich um die spanische Krone auch im Westen und Süden ihres deutschen Reichsgebietes. Doch was da im Juni 1704 unter infernalischem Lärm auf Wetzlar zumarschiert, ist keine Armee. Mit großem Pomp ziehen Gaukler und Komödianten durch das Stadttor. Vorneweg rot uniformierte Trompeter und Trommler, gefolgt von bunt verkleideten Harlekinen und Purzelbaum schlagenden Artisten. Rot livrierte Reiter geleiten eine prächtige Karosse.

Seit 15 Jahren ist die Freie und Reichsstadt Wetzlar, etwa 50 Kilometer nördlich von Frankfurt an der Lahn gelegen, Sitz des Reichskammergerichtes. Es war für die Bürger nichts Besonderes, hohe Herren und Gesandte ein- und ausfahren zu sehen. So etwas wie diese Gaukler haben allerdings auch sie, wenn überhaupt, erst selten erlebt. Auf dem Buttermarkt direkt am Reichskammergericht baut die Truppe Zelt und Bühne auf. Der Vorgang ist gut dokumentiert, weil am Gericht gerade ein erbitterter Streit um Korruption, Zeugenbestechung und Amtsmissbrauch ausgetragen wird. Den höchsten Vertretern des Reiches ist ein Protokoll vorzulegen, in dem auch das Geschehen auf dem Wetzlarer Markt festgehalten wird.

Begleitet vom Klang der Trommel treten Feuer- und Schwertschlucker in Aktion, Seiltänzer und Akrobaten locken, Schauspieler und Harlekine machen sich lustig über einen der Gerichtspräsidenten. Das Publikum johlt vor Schadenfreude.

Als die Stimmung auf dem Höhepunkt ist, fährt die luxuriöse Kutsche vor. Ein Mann steigt aus, betritt die Bühne. Er trägt ein prächtiges Justaucorps wie es Mode ist unter den Vornehmen seiner Zeit: Die lange Jacke mit den weiten Ärmeln, den vielen gestickten Knopflöchern und Applikationen, ist scharlachrot, auch die Weste darunter reichlich mit kostbaren Stickereien besetzt. Hose und Strümpfe sind aus feinstem Stoff, den Kopf schließlich schmückt eine prächtige Perücke mit langen Locken, wie man sie auch am Hofe des Sonnenkönigs in Versailles trägt. Die staunende Menge verstummt: „Ich bin der berühmte Doktor Eisenbarth“ hören sie den Mann auf der Bühne rufen. Doch sie wissen längst, wer da gekommen ist.

Kurz nach dem effektvollen Auftritt drängeln sich die Bürger bereits vor dem Behandlungszelt. Diener fragen nach den Leiden und vergeben Termine. Während auf der Bühne die Akrobaten bei Trommelwirbeln und Trompetenfanfaren das Publikum weiter unterhalten, behandelt Eisenbarth die Patienten.

Der Lärm auf der Bühne ist erwünscht, überdeckt er doch die Schmerzensschreie aus dem Zelt. Selbst schwere Eingriffe wie die Amputation einer von Krebs befallenen weiblichen Brust oder die Operation eines Leistenbruches werden bei Bewusstsein vorgenommen. Allenfalls starker Alkoholkonsum oder Laudanum, ein damals weit verbreitetes Schmerzmittel auf Opiumbasis, konnten die Qualen etwas erträglicher machen.

Wie so eine Operation dann aussah und was das für den Patienten bedeutete, geht aus der Beschreibung des späteren Professors für Anatomie und Chirurgie Lorenz Heister (1683-1758) hervor, der bei der Hodenbruchoperation eines neunjährigen Jungen zu Ostern 1700 persönlich anwesend war. Nachdem Eisenbarth den Knaben auf einen Tisch gelegt hatte, ließ er ihn „durch seine vier bis fünf mitgebrachten Bediente an denen Armen und Beinen wohl halten, drückte darauf die ausgefallene Därmen durch den Ort, wo sie herausgefallen, wieder in den Leib, ließe hierauf die Haut am obersten Teil des Gemächtes in die Quer aufheben, und schnitt selbige auf, schnitt alsdann tiefer und weiter bis auf den Samenstrang durch, lösete selbigen oben auf dem Schambein von denen Theilen, an welchen er angewachsen, ab, band eine Schnur oder Bändgen doppelt herum, lösete den Hoden mit den Fingern aus dem Hodenbeutel ab, wobei der Knabe sehr heftig schrie, und schnitte ihn einen Daumenbreit ohngefehr unter der Bindung weg, wobei wenig Blut vergossen wurde.“ Heister berichtet später von dem Knaben, dass der nicht nur die Operation heil überstand, angeblich soll der Patient als Erwachsener noch Kinder gezeugt haben. Ein sensationelles Ergebnis.

Johann Andreas Eisenbarth wurde vor 350 Jahren am 27. März 1663 im kleinen Städtchen Oberviechtach in der Oberpfalz in ärmlichen Verhältnissen geboren. Sein Vater Matthias war lange als wandernder Stein- und Bruchschneider unterwegs gewesen, was bedeutet, dass er als ambulanter Chirurg Blasen- und Nierensteine entfernte, Leisten- und Hodenbrüche operierte. Der Großvater war Hospitalknecht, die Schwester des Vaters heiratete ebenfalls einen Stein- und Bruchschneider in Bamberg. Heute würde man sagen, Johann Andreas wurde in eine Arztfamilie hinein geboren. Da war es naheliegend, nach dem frühen Tod des Vaters, den gerade zehn Jahre alten Jungen zum angeheirateten Onkel nach Bamberg in die Lehre zu geben. Zehn weitere Jahre wird er dort leben und den Umgang mit dem Skalpell, der Knochensäge, mit Bohrern, Wundhaken, Brenneisen und all den anderen chirurgischen Instrumenten erlernen. Der Junge hat Ehrgeiz. Er will ein Großer werden und sieht sich von Gott auserwählt zum Chirurgen.

Die Wundärzte, wie man sie damals nannte, hatten nicht studiert. Sie galten als Handwerker und lernten von einem Meister während einer acht bis neunjährigen Lehrzeit, welche mit der Gesellenprüfung vor einer Medizinalkommission abschloss. Dann folgte die obligatorische Wanderschaft. Volcker Hess, Medizinhistoriker an der Charité, charakterisiert die Bruchschneider ebenso wie beispielsweise die Okulisten, wie man Augenärzte seinerzeit nannte, als Spezialisten, die bei einer festen Niederlassung kaum ein Auskommen gefunden hätten. Dazu waren die Einwohnerzahlen der Städte noch viel zu gering.

Eisenbarths Gesellenstück war eine Augenoperation, der sogenannte Starstich. Dazu drang er mit einer langen Nadel in den Augapfel des Patienten ein und drückte die vom Star getrübte Linse auf den Boden des Augeninneren. Eine Technik, die schon im alten Ägypten praktiziert wurde und dem Patienten zumindest wieder unscharfes Sehen ermöglichte.

Dass die Wundärzte als Handwerker betrachtet wurden, lag an den mittelalterlichen Traditionen der Medizin. Nach dem Verlöschen der antiken Welt ging auch deren medizinisches Wissen und der Beruf des Arztes in Europa vorübergehend verloren. Mönche und Nonnen übernahmen die Krankenpflege, hatten aber religiöse Skrupel, an Menschen herumzuschneiden. Um nicht unrein zu werden, beschränkten sich die Kirchenleute auf die Behandlung sogenannter Innerer Krankheiten, Leiden, die ohne das Messer auskamen. Die Äußeren Krankheiten, die mit Blut einher gingen, überließ man Badern und Barbieren.

Später, als die Medizin der Antike wieder entdeckt und an Universitäten gelehrt wurde, galt es für den studierten Arzt als unter seiner Würde, äußere Verletzungen zu behandeln. Hatte man also Verrenkungen oder Wunden zu behandeln, ging man zu den Badern, die in ihren Badehäusern einfache Verbände anlegen und Gelenke einrenken durften. Bei schwereren Verletzungen erlaubte man den Barbieren kleinere bis mittlere chirurgische Eingriffe. Immerhin verfügten diese über Erfahrung mit dem scharfen Messer und hatten eine Prüfung vor der Medizinalkommission abzulegen. Wenn auch nicht in dem Umfang, wie man sie von den Wundärzten oder den Okulisten und Bruchschneidern verlangte.

Die eigentlichen Ärzte, die an einer Universität Medizin studiert hatten, genossen mehr Prestige und Autorität. Anatomie und Praxis sah ihr Lehrplan allerdings nicht vor. Im Zentrum der universitären Lehrpläne standen die Theorien der Antike, vor allem jene des philosophisch-medizinischen Systems des Galenos von Pergamon. Dogmatisch hielt die Ärzteschaft an diesem Buchwissen fest. Selbst, wenn praktische Erkenntnisse dagegen sprachen.

Nach Galenus’ Lehre gingen alle Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der vier körperlichen Säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zurück. Ein Zuviel, ein Zuwenig oder das Verderben eines oder mehrerer dieser Säfte drückte sich in Krankheiten und Schmerzen aus. Die Aufgabe des Arztes bestand darin, das Gleichgewicht dieser Säfte wieder herzustellen, etwa durch den Aderlass, das Ablassen von Blut. Auch Einläufe und Diäten waren wichtige Therapiemittel. Wer Kritik an Galenus’ Grundsätzen übte, wurde nicht selten von der Inquisition verfolgt, mindestens aber misstrauisch beobachtet. Erst nachdem 1858 Rudolf Virchow Erkenntnisse der vorausgegangenen 150 Jahre systematisierte und unter dem Titel der Zellularpathologie veröffentlichte, kam es zu einer allgemeinen Abkehr von der Vier-Säfte-Theorie.

Für Eisenbarth war das mittelalterliche medizinische Weltbild noch der gedankliche Rahmen, obschon er durch seine praktischen Erfahrungen und sein reiches anatomisches Wissen weit darüber hinaus wirkte. Und er hatte ein außerordentliches Talent, sich zu vermarkten. Noch bevor er eine Stadt bereiste, schickte er seine Boten voraus. Diese beantragten alle nötigen Genehmigungen, ließen in den dortigen Zeitungen Anzeigen drucken und verteilten Handzettel, in welchen die Künste des Doktor Eisenbarth, Erlaubnisschreiben, Bestätigungen für erfolgreiche „Curen“ und natürlich seine vielen Titel aufgeführt waren. Obwohl er den akademischen Grad des Doktors nie erworben hatte, ließ er es doch gern geschehen, wenn er so genannt wurde.

Mit der behördlichen Genehmigung einher, ging oft die Verpflichtung des Operateurs, Arme kostenlos zu behandeln. Oft wurden auch Pauschalpreise, nach dem finanziellen Vermögen des Patienten gestaffelt, für eine Reihe von Leiden von Amts wegen festgesetzt. Dennoch muss Eisenbarth gut verdient haben. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens befanden sich über 100 Menschen in seinen Diensten. In Magdeburg kaufte er ein Haus mit angeschlossener Brauerei. Daraus wurde die wohl erste pharmazeutische Fabrik der Welt. In großem Stil stellte Eisenbarth darin seine Pulver und Wässerchen her, die bei allerlei Leiden Linderung bringen sollten.

Ein wesentlicher Grund für seinen Erfolg als Chirurg lag sicher an einer für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Nachsorge, welche er seinen Patienten zukommen ließ. Während der normale Wundarzt nach der Behandlung schnell weiter zog, schon um den Folgen misslungener Operationen zu entgehen, besuchte Eisenbarth seine Patienten teils wochenlang mehrmals täglich. Er hinterließ sogar seine Reiseroute, bevor er weiterzog.

Die herausragenden Fähigkeiten Eisenbarths hatten sich bis zum preußischen König Friedrich Wilhelm I. herumgesprochen. Einer seiner Offiziere hatte eine Kugel am rechten Auge in den Kopf bekommen. Die eigenen Hofärzte übergehend erließ der Soldatenkönig am 7. Februar 1716 Order, Eisenbarth habe: „sich alsofort nach Stargard zu begeben...“, wo er: „seinen äußersten Fleiß anwenden soll (...), solchem wieder zu helfen“.

Als der Befehl Eisenbarth auf dem Weg nach Münster erreicht, lässt der sofort die Kutsche wenden. Die Behandlung hatte Erfolg und zum Dank wird er von Friedrich Wilhelm I. 1717 zum königlichen Hofrat und Hof-Augenarzt ernannt. Eisenbarth ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Privat ist auch er nicht vor Schicksalsschlägen gefeit. Nach 35 Ehejahren stirbt seine Frau Chatarina 1721 in Magdeburg. Von den sieben Kindern, die sie zur Welt brachte, sterben drei schon nach kurzer Zeit. Eine Tochter heiratet zwar einen Advokaten, stirbt aber mit 32, nachdem ihr Mann das ganze Vermögen, sechs Häuser und den Brautschmuck durchgebracht hatte. Eine zweite Ehe, welche Eisenbarth eingeht, bringt ihm kein Glück. Seine neue Frau betrügt und verlässt ihn. Außerdem macht ihm die Gicht zunehmend zu schaffen. Sein jüngster Sohn Adam Gottfried assistiert zwar, kommt aber an das Können des Vaters nicht heran. Wohl auch deshalb laufen die Geschäfte nicht mehr so gut.

1726 wird dem mittlerweile 63-Jährigen in Bremen sogar die Erlaubnis zum Praktizieren verweigert. Tief gekränkt reist er nach Hannoversch Münden, wo er von einem Schlaganfall deutlich gezeichnet weiter Patienten empfängt. Am 6. November 1727 erleidet er einen zweiten Schlaganfall, an dessen Folgen er nach fünf Tagen verstirbt. Ganz im Gegensatz zu seinem prunkvollen und pompösen Auftreten auf den Märkten folgen seinem Begräbniszug außer seinem Sohn nur wenige Menschen.

Dort, wo er gewirkt hatte, lebte die Erinnerung an den Doktor Eisenbarth noch lange fort. Da von ihm aber keine Lehrbücher verfasst wurden, geriet sein Andenken allmählich in Vergessenheit. Bis ein Student der Medizin aus einer Bierlaune ein Spottlied dichtete. „Ich bin der Doktor Eisenbarth, kurier die Leut’ nach meiner Art“ wird in Studentenkreisen ein Hit, der noch im 20. Jahrhundert als Kinderlied fortlebt. Was ein bisschen ungerecht ist, denn in dem Lied kommt Eisenbarth als Kurpfuscher rüber. Dabei kann es der Verfasser nicht persönlich gemeint haben, das Lied entstand rund 70 Jahre nach des Doktors Tod.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false