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Street Art: Die Mauern der Anderen

Wird die Berliner East Side Gallery gerettet oder zerstört? Stéphane Bauer ist Experte für Straßenkunst und in dieser Frage gelassen. Für uns erklärt er die Geschichte der Wandmalereien in aller Welt.

Wandmalereien gibt es wahrscheinlich, seit es den Menschen gibt. Bei Ausgrabungen in Pompeji hat man solche gefunden, die Kunsthistoriker als die ersten Graffiti betrachten. Die Malereien an Außenwänden, die man auf diesen zwei Seiten sehen kann, entstammen einer bestimmten Tradition, die ihre Wurzeln im Lateinamerika der 1920er Jahre hat. Auf Spanisch nennt man sie „Murales“, auf Englisch „Murals“. Wichtig für die Entwicklung dieser Kunst war insbesondere der Mexikaner Diego Riviera, der Mann von Frida Kahlo. Er hat über mehrere Jahre Wände gestaltet, vor allem in Mexiko-Stadt. Riviera war linksgerichtet, Marxist, seine Malereien waren politisch motiviert. Eine Form von Propaganda.

Auch die Motive, die man hier sehen kann, haben ja meist einen politischen Kontext. Was sofort auffällt: Städte, in denen es starke soziale und politische Konflikte gibt, sind natürlich auch Städte, an deren Wänden diese Auseinandersetzungen visualisiert werden. Mit Murals kämpfte man in Südafrikas Townships gegen das Apartheidsregime – im Rest Afrikas gibt es diese Form des Widerstands meines Wissens nach kaum –, und auch in Israel und Palästina finden Sie viele solcher Malereien. Ein anderes Beispiel ist Belfast. Meinem Eindruck nach sind die Wandmalereien dort besonders narrativ, Geschichten werden erzählt, von Märtyrern und heldenhaften Kämpfern, um die eigenen Anhänger zu erziehen und zu motivieren. Im Sinne von: Setzt euch für unsere Sache ein! Murals zeigen oft Figuren, nicht selten politische Führer wie Malcolm X oder Lech Walesa, sie sind eher großflächig, plakativ und sehr aussagekräftig.

Das Zentrum der Wandmalerei ist noch immer Lateinamerika, von Chile über Brasilien bis nach Mexiko und Kuba. Vielleicht liegt es an einer Tradition der katholisch geprägten Bildsprache in diesen Ländern, an den Kunsthochschulen dort oder daran, dass sich lateinamerikanische Künstler stärker politisch definieren und oft den Anspruch haben, mit ihren Malereien etwas für die ästhetische Entwicklung des Volkes zu tun.

In der Region gibt es auch eine sehr lebendige „Streetart“-Szene. Streetart und Murals – das ist etwas Unterschiedliches, und Graffiti sind dann noch einmal etwas anderes.

Bei Streetart, also Straßenkunst, handelt es sich um eine relativ junge Kunstform. Wie bei den Wandmalereien geht es dabei um den Umgang mit urbanem Raum, manche Motive sind auch politisch. Doch die Künstler sprayen, sie arbeiten mit bestimmten grafischen Elementen, mit Schablonen oder Tapeten, und viele finden, dass Illegalität zu ihrer Kunst dazugehört.

Manchmal findet man Verbindungslinien zwischen beiden Traditionssträngen. Die Arbeiten der Zwillinge Os Gêmeos, bekannte StreetartKünstler aus Sao Paolo, sind zum Beispiel sehr dekorativ und figurativ, wie die klassischen Wandmalereien. Umgekehrt erinnert das Porträt von Salvador Allende in Santiago de Chile, das man rechts sehen kann, in seiner Schablonenhaftigkeit an Streetart.

Wenn – wie in Philadelphia – eine Stadt beschließt, Wandmalereien systematisch einzusetzen, um Viertel zu verschönern, finde ich das gut. Das schafft visuelle Oasen, schon von Weitem sieht man dann Kunst – und eben keine Werbung. Das hat ja durchaus auch eine politische Implikation. Ich glaube, früher fragte man, wenn es um Wandmalereien ging, oft Künstler, die es eigentlich gewohnt waren, für den Ausstellungsraum zu arbeiten, für die Leinwand. Das hat sich verändert. Heute werden solche Projekte eher an Künstler vergeben, die in der Tradition der Murals oder der Streetart stehen. Weltweit gibt es viele Wandmalerei-Projekte mit Kindern: Dass diese selbst eine Mauer auf dem Schulhof bemalen oder dass sie einen Entwurf erarbeiten, den dann professionelle Künstler umsetzen.

Wir im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien haben bisher drei Projekte organisiert, bei denen insgesamt sieben, acht Wände in Berlin gestaltet wurden. Das war natürlich alles legal, die Hausbesitzer wurden vorher gefragt, aber ästhetisch waren die Künstler mehr von der Streetart als von den Murals geprägt. Mein Lieblingsmotiv aus dieser Reihe ist der große Astronaut an der Ecke Mariannen- und Skalitzer Straße, den es dort seit 2007 gibt.

Nach West-Berlin ist die Wandmalerei in den 70er Jahren gekommen. Durch den Zweiten Weltkrieg gab es ja sehr viele Brandmauern in der Stadt, und da hat die Senatsbauverwaltung Programme für deren Gestaltung gestartet. Manche dieser Arbeiten kann man heute noch sehen, zum Beispiel beim Spielplatz „Die Schatzinsel“ in der Köpenicker Straße nahe dem Schlesischen Tor. In der DDR konnten Sie Ähnliches finden, da wurden zum Beispiel Wände von Künstlern aus Nicaragua bemalt, in Marzahn gab es in den 80er Jahren ein großes Projekt zur Gestaltung von Plattenbaufassaden. Und dann war da natürlich die Mauer, die man auf der westlichen Seite relativ unbehelligt bemalen konnte. Das begründete Berlins Ruf als Streetart-Metropole.

Weder Streetart noch Murals sind für die Ewigkeit gemacht. Luftverschmutzung, Regen, Schnee, Sonne und Hitze lassen sie leider irgendwann verblassen. Andererseits ist das ein Teil des Reizes. Wenn es bei den Diskussionen um die East Side Gallery jetzt heißt, man müsse die Mauerkunst retten, sehe ich das eher als Vorwand. Da werden zwei Diskussionen – eine über Kunst und eine über Gentrifizierung – miteinander vermischt.

Die Mauer als solche sollte man erhalten, klar. Aber die Idee von Denkmalschützern, man könnte eine bestimmte Bemalung auf der einen Seite und die lange Strecke Weiß auf der anderen für immer konservieren, finde ich falsch. Schon als die East Side Gallery saniert wurde, haben manche Künstler gefragt: Warum soll ich ein Bild, das ich vor 20 Jahren gemalt habe, noch mal malen? Vielleicht wäre es konsequenter gewesen, zu sagen: Wir machen ein neues Konzept, wir interpretieren auf der Mauer die heutige politische und soziale Situation der Stadt.

Streetart und Murals sind eine vergängliche, aber eben auch eine sehr lebendige Form von Kunst.

Stéphane Bauer, Kurator und Ausstellungsmacher, leitet den Kunstraum Kreuzberg/Bethanien am Mariannenplatz. Dort finden unter dem Titel „Backjumps“ seit 2003 internationale Ausstellungen zu Streetart statt.

Protokoll: Björn Rosen

Stéphane Bauer

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