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Abkühlen. Wenn es drinnen zu stickig wird, ziehen manche lieber ins Freie.

© Mike Wolff

Draußen schlafen: Sommer auf dem Balkon

Es ist heiß, in den Wohnungen steht die Luft. Wer kann, schläft draußen. Unsere Autorin entdeckt ein kleines Abenteuer in der großen Stadt.

Von Julia Prosinger

Als kleines Mädchen war ich überzeugt, dass mich eines Tages ein herabstürzender Balkon erschlagen würde. Um diesem Tod zu entgehen, lief ich auf der Mitte der Straße und schaute alle paar Meter prüfend nach oben – was natürlich weitaus gefährlicher war.

Heute habe ich diese Angst überwunden. Im Sommer ist der Balkon mein Wohnzimmer. Ursprünglich war er ein politischer Ort: Kaiser Wilhelm II. hielt Reden, Scheidemann rief die Republik aus, Genscher erlaubte die Einreise nach Westdeutschland. Ich schlafe auf dem Balkon. Aus einer Matratze und Kissen, mit Kerzen und Lampions baue ich mir jeden Abend ein Lager. Dann beginnt das Abenteuer für Städter wie mich, die keine Zeit oder vielleicht zu viel Angst für ein richtiges haben. Optimale W-Lan-Verbindung, Waschraum circa zehn Meter entfernt, mit der Option jederzeit abzubrechen. In manchen Nächten ist es abenteuerlich laut: Unten zerdeppern Jugendliche Flaschen, gegenüber grölt ein Mann in Unterhose zu Heavy Metal und beschimpft seine Freundin als Hure, neben meinem Ohr surrt eine Mücke. Über mir haben sie Sex. Der Balkon ist eine Schwelle, von drinnen nach draußen, von privat zu öffentlich, echte Abenteurer halten das aus.

Immer wenn es regnet, muss ich an Martina und Michael im Prenzlauer Berg denken. Mich schützt der Balkon oben drüber, und die paar Tropfen schmecken gut nach Sommer, ihre Terrasse ist nach oben offen. Die beiden schleifen dann schnell die Matratzen von den selbstgezimmerten Bänken zurück ins Wohnzimmer. Dafür ist ihr „Storchennest“, wie sie es nennen, aber blicksicher.

Morgens duscht Martina nackt mit Regenwasser. Michael ist berenteter Raumfahrttechniker und zwischen Minze, Flieder und Tomaten erklärt er Martina seinen Himmel. Die laute Kreuzung der Danziger Straße ist da oben weit weg. „Ich fühle mich klein, aber geborgen“, sagt Martina. Zusammen beobachteten sie Raumstationen, die über den europäischen Himmel sausen, Flugzeuge, Sterne, den blinkenden Fernsehturm am Alexanderplatz, Raben auf dem Weg zum Nest, Fledermäuse auf der Jagd. An New York oder Paris denken sie. Manchmal klemmen sie das iPad zwischen die Kletterpflanzen und haben ihr eigenes Open-Air-Kino. Die Katzen legen sich dazu.

Hoffentlich macht kein Vogel auf die Laptop-Tastatur

Abkühlen. Wenn es drinnen zu stickig wird, ziehen manche lieber ins Freie.
Abkühlen. Wenn es drinnen zu stickig wird, ziehen manche lieber ins Freie.

© Mike Wolff

Morgens weckt uns Balkonschläfer die Sonne, Verschlafen ist unmöglich. Die Nacht war kürzer als sonst, aber auch intensiver. Es muss einen Grund haben, dass Mütter ihre Babys früher zum Mittagsschlaf rausgestellt haben. Frühstück im Freien, überschätzt: Kann sich mal bitte jemand etwas gegen zerlaufende Butter einfallen lassen? Arbeitsbeginn für Freiberufler: Hoffentlich macht kein Vogel auf die Tastatur, und wie halte ich den Laptop im Schatten?

Michael Hilgers hat sich etwas einfallen lassen. Er entwirft in Kreuzberg Möbel für enge Räume – am liebsten für Balkone. Damit er nicht mehr nur als Abstellort für Fahrrad und Kartoffeln genutzt wird. Hilgers begann mit einem Aschenbecher mit Füßen, der den einsamen Raucher auf sein Balkonexil begleitet. Es folgten Blumentöpfe, die sich aufs Geländer stecken lassen, eine bepflanzbare Satellitenschüssel, moderne Vogelhäuser, die sich magnetisch an die Regenrinne schmiegen und – wichtig für mich – ein Sonnenschirm ohne lästigen Fuß, der zwischen Geländer und Boden des Nachbarbalkons klemmt. Außerdem hat Hilgers einen Schreibtisch aus Kunststoff entworfen, der am Geländer hängt und durch hohe Seitenwände Schatten wirft. Vorn hat er ein Fach, für Blumen, Bleistifte oder – Butter auf Eis. Gerade arbeitet Hilgers an einem Tisch, der gleichzeitig Wäscheständer ist, einer mobilen Küche und einem Stehtisch, der eine Bierkiste trägt. Wenn sich mal wieder, wie so oft in diesen lauen Nächten, die Hausparty von der Küche auf den Balkon verlagert.

Das sind die Momente, in denen meine alte Angst zurückkehrt. Schwitzende, tanzende Menschen auf engem Raum, gleich stürzt sie ab, die Konstruktion! Zum Glück bin ich erwachsen und habe mich informiert: 300 bis 500 Kilo hält ein Balkonquadratmeter. Gute Nacht!

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