zum Hauptinhalt
Alle aufsitzen. Auch erwachsene „Harry Potter“-Leser sind beim Crashkurs Besenreiten zugelassen.

© Stefanie Bisping

Flugunterricht für Harry-Potter-Fans: Ein Besuch auf Alnwick Castle

In Nordengland steht eine Flugschule der besonderen Art: Auf Alnwick Castle lernen Fans von Harry Potter das Besenreiten.  Ein Selbstversuch zum neuen Buch.

Professor Gideon Kebble trägt einen schwarzen Umhang, spitzen Hut und einen langen Schal zum Schutz vor dem kalten Wind, der heute aus Schottland hinüberweht. Sein eisengrauer Bart weist ihn als erfahrenen Zauberer aus. Leider ist seine geschätzte Kollegin, die Fluglehrerin Professorin Amanda Hufflepump, heute verhindert, erklärt er. An ihrer Stelle hat er einen Referendar mit grauem Spitzhut mitgebracht. Kebble schreitet die Reihe seiner Schüler ab, der Zauberlehrling folgt ihm mit einem Bollerwagen voller Reisigbesen. Schauplatz des Flugtrainings ist der äußere Burghof von Alnwick Castle, wo Madam Hooch in den ersten beiden Potter-Filmen Harry, Hermine, Ron und ihren Klassenkameraden auf die Besen half. Jetzt, nach fünf Jahren, wird die Saga fortgeschrieben. Am Samstag erschien auch auf Deutsch J. K. Rowlings „Harry Potter und das verwunschene Kind“.

Aber selbst ohne die Erinnerungen an die Potter-Filme und -Bücher könnte die Kulisse eindrucksvoller kaum sein. Hinter Kebble erhebt sich Alnwick Castle, dessen Geschichte in die Zeit der normannischen Eroberung zurückreichen. Seit dem Jahr 1309 ist die Festung im Besitz der Familie Percy, deren Vorfahre William mit Wilhelm dem Eroberer aus der Normandie herüberkam. Bis heute gehören die Percys, erst Barone, dann Grafen und später Herzöge von Northumberland, zu den reichsten Adelssippen Englands. Ihr Ahne Harry „Hotspur“ wurde von Shakespeare im ersten Teil des Historiendramas „Henry VI“ verewigt. Hinter der Burgmauer, wo eine Landschaft aus grünen Hügeln und weißen Schafen ländlichen Frieden verheißt, tat im Jahr 1093 der schottische König Malcolm, Sohn und Rächer des von Macbeth ermordeten Duncan, auf der anderen Seite des Flusses seinen letzten Atemzug.

Selbst für Ralph Percy, den zwölften Herzog, dessen Vermögen auf immerhin 330 Millionen Pfund geschätzt wird, ist der Unterhalt der Burg seiner Vorfahren mit spürbaren Kosten verbunden. Deshalb verdient das Haus bei Filmen wie „Elizabeth“ mit Cate Blanchett, „Robin Hood“ mit Kevin Costner, den „Harry Potter“-Filmen als Drehort dazu. Ein umfangreiches Unterhaltungsangebot für Familien und der spektakuläre, von der derzeitigen Herzogin Jane angelegte Garten machen die zweitgrößte bewohnte Burg Englands zu einer Sehenswürdigkeit, für die alleine sich die Reise in den äußersten Norden Englands lohnt.

Nicht nur für Potter-Fans, die jetzt in einer langen Reihe Aufstellung genommen haben: Kinder, Eltern und Erwachsene, die kein offensichtliches Alibi neben sich stehen haben. Das ist auch nicht nötig. „Broomstick Training“ eignet sich für jedes Alter.

Die Nachfrage nach dem Flugunterricht ist groß

Die Eintrittskarten, die jeweils eine Hexe oder einen Zauberer zur Teilnahme berechtigen, kosten nichts – der Eintritt in die gewaltige Burg ist mit knapp 30 Euro bereits erklecklich. Doch die Nachfrage nach Flugunterricht ist so groß, dass die Teilnehmerzahl mittels Zeitfenstern reguliert werden muss. Bald 20 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen sind die „Harry Potter“-Romane noch immer, was einstmals Karl Mays Wüsten- und Westernhelden oder Enid Blytons „Fünf Freunde“ gewesen sein mögen: eine literarische Einstiegsdroge.

Und weil das Flugtraining für unseren neunjährigen Sohn deshalb oberste Priorität besitzt, müssen bei unserem Besuch die Ausstellung zur Fernsehserie „Downton Abbey“, deren zwei letzte Weihnachtsspecials ebenfalls in Alnwick Castle gedreht wurden, die Drachenjagd, das Bogenschießen und der Besuch in den Prunkgemächern mit den Kunstschätzen, Antiquitäten und Familienfotos der Percys erst mal warten.

Professor Kebble erklärt Grundlegendes: die Übernahme des Fluggeräts. In die Knie gehen, leicht federn, die Arme ausstrecken – und zupacken! Sonst hat der Besen sich schnell unbemannt in die Lüfte erhoben.

Das Manöver gelingt, wir können aufsitzen. Wer es besonders gut gemacht hat, wird mit zehn Punkten belohnt. In der Grundposition lässt jeder Flugschüler seinen Besen zunächst senkrecht hängen. „Tretet zur Seite, haltet den Besen mit beiden Händen fest, springt auf!“ Wichtig: Während des Sprungs muss jeder „Mounttt-a!“ schreien, mit langem Umlaut und starkem „t“ am Ende, das in einem schwachen „a“ ausklingt.

Ein paar Versuche braucht es, bis alle durchdringend genug schreien und jeder fest auf seinem Besen sitzt. Nicht nur die Kinder sind mit Feuereifer dabei. Das Ganze ist so himmelschreiend komisch, die Lehrer zugleich von solchem Ernst durchdrungen, dass auch die Erwachsenen sich jeder Lächerlichkeit enthoben fühlen.

Die ersten Lektionen? Beschleunigen und bremsen

Wer einmal auf dem Besen sitzt, muss beschleunigen und bremsen lernen, bevor er an eine Karriere im Quidditch denken darf. Kebble zählt bis drei, ruft „Go!“, und alle fliegen los. Das heißt: Wir bewegen uns auf unseren Besen vorwärts, rudern mit dem freien Arm durch die Luft und machen weisungsgemäß „ein kleines, magisches Geräusch“.

Die Sprachbarriere ist für die Kinder längst gefallen, generationenübergreifend macht sich vergnügte Albernheit breit, die auch ohne Fluggerät fast schon Flügel verleiht.

Am Schluss sammeln beide Lehrkräfte ihre Schüler um sich. Alle haben bestanden, mit Auszeichnung sogar! Längst sind wir so mit unserer Rolle verschmolzen, dass wir uns fühlen wie Harry Potter nach einem Sieg beim Quidditch, jener Mischung aus Polo, Ostereiersuchen und Kunstflug auf dem Besen.

Magischer Dreikampf. Das Spiel Quidditch ist eine Mischung aus Polo, Ostereiersuchen und Kunstflug.
Magischer Dreikampf. Das Spiel Quidditch ist eine Mischung aus Polo, Ostereiersuchen und Kunstflug.

© www.fotex.de

Für sechs Pfund erwerben wir in einem diskret in die alten Mauern eingelassenen Souvenirlädchen ein in China gefertigtes Stück Plastik, das einem knorrigen Ast gleicht, für unseren Sohn aber klar als Zauberstab zu identifizieren ist.

Dann sind die Eltern dran: Zu den Überraschungen in den öffentlich zugänglichen Prunkgemächern zählen Gemälde von Turner und Canaletto, aber auch Fotos, die an den Besuch von Prinz Charles im Jahr 2011 erinnern. Die eindrucksvoll bestückte Hausbar, ein Tischkicker und der Fernseher in der mit kostbaren Büchern angefüllte Bibliothek zeugen von der andauernden privaten Nutzung der Räume. In einer Vitrine ist das Todesurteil für den siebenten Earl mit der kunstvoll gezeichneten Unterschrift Elizabeths I. ausgestellt. Thomas Percy hatte sich am missglückten Aufstand der Grafen aus dem Norden beteiligt, dessen Ziel die Inthronisierung der katholischen schottischen Monarchin Mary Stuart war. Weil Elizabeth ihn schätzte, wurde Thomas in York geköpft; die Vierteilung erließ sie ihm. Es dauerte, bis die Familie begriff, dass das Festhalten am römisch-katholischen Glauben ihr weiteres Fortkommen ernsthaft behinderte.

In den Räumen sind Plüschlöwen versteckt

Während die Eltern Zeugnisse der Geschichte Englands und der Wohnkultur der Percys betrachten, vermisst auch der Neunjährige hochkonzentriert die Gemächer. In den meisten Räumen sind kleine Plüschlöwen versteckt – auf einem Kaminsims, am Kronleuchter hängend oder auf der eingedeckten Tafel im Speisesaal, die noch die Namensschilder des Earls of Grantham und anderer Charaktere aus der letzten Folge von „Downton Abbey“ zieren. Wer dem Guide am Ausgang die richtige Zahl versteckter Löwen nennt, bekommt einen Anstecker. Das Spiel ist so simpel wie wirkungsvoll. Später laufen wir über die Burgmauer und erkunden den Garten mit seinen Wasserspielen und dem Giftgarten, der nur in Begleitung eines Führers betreten werden darf. Kinder, die sich im Kostümfundus in Ritter und Prinzessinnen verwandelt haben, sausen umher. Unser Sohn hebt immer wieder seinen Zauberstab und spricht den Zauberspruch, um Licht zu erzeugen: „Lumos“.

Erleuchtet fühlen wir uns nicht, wohl aber verzaubert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false