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Suizid: Als Papa nicht mehr leben wollte

Sie war fünf, als ihr Vater sich umbrachte. Wie wird ein Kind damit fertig? Über den Umgang mit einem Tabu und neue Möglichkeiten der Hilfe.

Am Tag, an dem Alexa von Heydens Vater stirbt, scheint die Sonne. Eine niedersächsische Kleinstadt Anfang der 80er Jahre, ein heißer Sommertag. Die vorletzte Erinnerung an ihren Vater ist die eines lächelnden Mannes in Badehose, der ihr Wasser ins Planschbecken lässt, bevor er im Haus verschwindet. Als sie wenig später auf Toilette muss und versucht, ins Haus zu gelangen, liegt ihr Vater im Keller, im Sterben. An Depressionen leidend, hat er sich die Pulsadern geöffnet und mehrfach in den Brustkorb gestochen. Er wird 38 Jahre alt, seine Tochter Alexa ist fünf.

Laut Weltgesundheitsorganisation nehmen sich weltweit rund eine Million Menschen pro Jahr das Leben. In Deutschland begehen jährlich etwa 10 000 Menschen Suizid – eine Zahl, die höher liegt als die der Verkehrstoten und Mordopfer zusammen. Wie viele von ihnen Vater oder Mutter sind, ist unbekannt. Fest steht hingegen, dass ein Suizid von Vätern oder Müttern nicht nur das Ende einer Familie nach „normalen“ Maßstäben ist. Sondern in vielen Fällen auch der Tag, an dem die Kindheit der hinterbliebenen Söhne und Töchter endet. Was wird aus ihnen?

Alexa von Heyden steht 30 Jahre nach dem Tod ihres Vaters in einem kleinen Modeladen in der Brunnenstraße, Ecke Bernauer Straße. Ein Montagmorgen, an dem deutlich wird, dass der Frühling dieses Jahr ausfällt und stattdessen der Winter nahtlos in den Sommer übergeht: T-Shirt-Wetter, Touristen sind auf dem Weg zum Mauerdenkmal, Café-Betreiber stellen die Tische auf den Gehweg.

Alexa von Heyden trägt lange Haare, eine orangefarbene Hose, sie ist frisch zurück aus zwei Wochen Surfurlaub auf den Kanaren und noch leicht verschnupft. Eine Schmuckdesignerin, die Armbänder und Ohrringe verkauft, natürlich auch selber trägt. Und natürlich sieht man die Spuren nicht, die der Suizid ihres Vaters bei ihr hinterlassen hat, denn es gibt äußerlich keine, einerseits. Andererseits ist vor Kurzem ihr Buch „Hinter dem Blau“ (Eden Books) über ihre Kindheit und Jugend erschienen, hat sie sich „vieles von der Seele geschrieben“ und spricht nun über die Erfahrungen, die sie gemacht und bis vor Kurzem noch verleugnet hat, wenn sie den Tod ihres Vaters als Unfall oder natürlichen Tod darstellte.

„Ich wollte einfach normal sein, habe mich geschämt“, sagt sie. Und wenn Normalität bedeutet, dass die Familie an einem Samstagabend gemeinsam „Wetten dass..?“ sieht, „egal, wie hohl und doof das ist“, dann ist das genau die Art von Normalität, die sie sich gewünscht hätte. Stattdessen wird sie am Tag ihrer Einschulung von ihrer Mutter begleitet, während alle anderen Kinder mit beiden Elternteilen kommen. Und natürlich gucken dann alle und stellen Fragen nach dem Vater, und so gerät man ins Lügen. Als Kind: aus Angst vor Vorurteilen. Als Jugendliche: aus den Erfahrungen, mit der Wahrheit zu vielen Menschen die Stimmung zu vermiesen, ganze Abende zu ruinieren.

Während die Mutter samstagabends allein auf dem Sofa sitzt, zieht die Tochter um die Häuser, „blau wie eine Haubitze“, wie sie bei einer anderen Gelegenheit einmal gesagt hat. Und wer genau hinschaut, erkennt dann doch die Spuren, die so eine Kindheit hinterlässt: einen kleinen blauen Punkt am Ohrläppchen, das Ergebnis des gescheiterten Versuches der 14-Jährigen, sich selbst ein Ohrloch zu stechen, und als die Nadel nicht durch das Fleisch dringt, nimmt Alexa von Heyden einen blauen Kugelschreiber und bohrt so lange in der angeritzten Haut herum, bis immerhin eine Tätowierung daraus wird.

Die Söhne tragen die Pullover des toten Vaters

Die Spuren des Vaters, ein Chirurg, der das eigene Skalpell nahm, sind überall. Weil Menschen nicht einfach verschwinden können, erst recht nicht, wenn sie Kinder hinterlassen. Die Pullover mit den aufgenähten Inseln, die seine Söhne trugen, bis die Ellenbogen durchgescheuert waren, während die Mutter, die jedes Mal die Luft anhielt, wenn eines ihrer Kinder damit zum Frühstück kam.

„Gott, der Du heute mich bewachst, beschütze mich auch diese Nacht. Du sorgst für alle, groß und klein. Drum schlaf ich ohne Sorge ein“, das Kindergebet, das seine Tochter Alexa von ihm lernte und bis heute jeden Abend spricht. Eine 34-jährige Frau, lange Jahre verheiratet, die gerne Kinder hätte, aber sich nicht so richtig traut, vielleicht noch nicht, „weil da etwas in mir ist, was ich erst aufarbeiten muss“, weil es Verlustängste gibt, Bedürfnisse nach tiefstem Vertrauen und bedingungsloser Liebe – und das ist nicht gerade wenig, was sie da verlangt, sagt sie.

Vielleicht wäre es heute anders, wenn man ihr damals, nach dem Suizid, geholfen hätte. „Professionelle Hilfe für uns Kinder gab es keine. Wenn die Eltern das nicht anstoßen, gibt es für Kinder eigentlich nichts“, sagt sie. Ihre Mutter war versunken in der eigenen Trauer, so dass die älteren Brüder später von ihrer Angst berichteten, auch sie könne sich etwas antun. Sie lag weinend im Zimmer, Tanten kamen ins Haus, kochten Tee, doch „außer dem Schluchzen meiner Mutter hat man nicht viel gehört in dem Haus“. Einen Ansprechpartner für die eigene Trauer hatte die Fünfjährige nicht.

Damit steht sie nicht allein, sagt Hannah Köppel, Heilpädagogin aus der Nähe von Augsburg, die an der Katholischen Hochschule Freiburg zu der Frage geforscht hat, wie sich der Suizid der Eltern auf das Leben ihrer Kinder auswirkt. Selbsthilfegruppen gibt es nur wenige, so suchte sie über Internetforen und Mailinglisten Kontakt zu Menschen, deren Eltern sich das Leben nahmen. Offen sprechen nur die wenigsten, Suizid ist ein Tabu, für die Hinterbliebenen oft ein Stigma. „Diese Tabuisierung tut den Betroffenen Unrecht“, sagt Köppel. „Dabei haben wir es hier bei etwa 10 000 jährlichen Suiziden nicht mit einem vereinzelt auftretenden Phänomen zu tun, das sich einfach so verschweigen lässt.“

Nötig sei außerdem ein breiteres Verständnis für Depressionen, die im Extremfall dazu führen, dass sich Menschen töten. „Wenn Familienmitglieder aus natürlichen Gründen sterben, gibt es paradoxerweise wesentlich mehr Hilfsangebote für trauernde Kinder. Dabei ist die Hilfsbedürftigkeit bei einem Suizid in vielen Fällen viel größer“, sagt Köppel, eine 24-jährige Frau, die nach ihrem Studium in einem heilpädagogischen Kinderheim zu arbeiten begonnen hat. Auch sie schreibt nicht einfach so über dieses Thema, auch ihr Vater litt an Depressionen und setzte seinem Leben ein Ende, schluckte Tabletten in einer tödlichen Dosis. Da war seine Tochter vier Jahre alt. Zu jung, um viele Erinnerungen an diesen Mann zu haben, den sie in Gesprächen in der Familie bei seinem Vornamen nennen, und nicht Papa.

Therapieziel: Loslassen lernen

Professionelle Hilfe bieten heute einige Kinderpsychotherapeuten. Eine Seitenstraße in Berlin-Wedding, zwischen Kneipen und Touristenhostels sitzt Karin Scheuermann, Tiefenpsychologin in eigener Praxis. Auf dem Glastisch tickt leise ein Wecker, an den Wänden Bilder von Elefanten und der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele. Zweimal in der Woche für jeweils eine Stunde kommen Kinder und Jugendliche zu ihr in die Praxis, sechs Jahre die Jüngsten, 19 die Ältesten. In vielen Fällen werden sie geschickt von Schulen oder Jugendämtern. Meist dann, wenn sie aggressiv oder sonstwie verhaltensauffällig werden – deutliche Zeichen dafür, dass sie mit der Situation überfordert sind.

Aber längst nicht alle Kinder verarbeiten ihre Trauer auf diese Weise. „Es gibt auch Kinder, die sich zurückziehen, normal in der Schule weiter mitlaufen.“ In solchen Fällen kommt selten ein Lehrer auf die Idee, mit den Eltern oder dem Jugendamt zu sprechen, zumal unauffällige Schüler durchaus erwünscht seien. Dass es in der Trauerarbeit darum gehe, irgendwann einmal loslassen zu können, sagt Scheuermann, eine warme Stimme, die leicht nachhallt in den großen Räumen mit den abgezogenen Dielen.

„Das ist weniger ein kognitiver als vielmehr ein emotionaler Prozess“, sagt sie, und ob sie dafür mit den trauernden Kindern spielt oder dasitzt, ist unerheblich. „Ich gebe da nichts vor, sondern begleite das Kind nur. Es soll lernen, dass das Erlebte nicht in der Innenwelt bleiben muss. Ob man auf dem Weg dahin miteinander spricht oder malt oder spielt“, hänge auch ab vom Entwicklungsstand des Kindes. Das Wesen der Therapie liege darin, Dinge aussprechen zu können, die vorher unterdrückt waren: „Im günstigsten Fall entsteht dann irgendwann eine gewisse Dankbarkeit, dass man eine Beziehung zu dem verstorbenen Elternteil hatte“, sagt die Berliner Therapeutin.

Wenn es danach geht, dürfte Alexa von Heyden, die seit über zwei Jahren eine Therapie macht und es „Yoga für die Seele“ nennt, als austherapiert gelten. Zurück in der Brunnenstraße, im Modegeschäft, wo das Schaufenster mit einem mehrfach gesprungenen roten Herz beklebt ist und der Flaschensammler auf der Straße einen verhältnismäßig guten Start in den Tag haben dürfte, nachdem von Heyden ihm die Pfandflaschen der letzten Wochen in eine Tasche gestopft hat. Die Wut auf ihren Vater, auf seinen Suizid, der auch ein Verrat an seiner Familie war, ist nicht mehr da. „Ich fühle mit ihm, vermisse ihn, und es tut mir unglaublich leid, dass er damals keine Hilfe aus seiner Depression gefunden hat“, sagt von Heyden, und dass sie ihren Frieden mit ihrem Vater gemacht habe.

Die vorletzte Erinnerung an ihn bleibt jenes Bild von einem Mann in Badehose. Die letzte Erinnerung beginnt damit, dass sie als Fünfjährige die Haustür verschlossen findet und zur Kellertür läuft. Auf dem Weg dahin hört sie pfeifende und gurgelnde Geräusche aus dem Kellerfenster. „Hallo, Herr Drache“, ruft die kleine Alexa durch das Fenster nach unten – an ein Wesen gerichtet aus der Fantasie eines Kindes, dessen größter Weihnachtswunsch ein eigener Drache war, und der nun an einem heißen Sommertag im Keller gelandet zu sein schien. Einen kurzen Moment ist Ruhe im Keller, das Pfeifen hört auf. Dann die Stimme des Drachen, säuselnd: „Ist das schön.“ Dann stirbt er. Das ist die allerletzte Erinnerung.

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