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Im Ring: Gitta Schlusche im Box-Club Olympia 75e.V., Berlin-Friedenau

© Doris Spiekermann-Klaas

Frauen & Männer: Eine Klasse für sich

Gitta Schlusche ist seit 41 Jahren Sekretärin dieser Zeitung, sie wurde zum Herzen der Sportredaktion. Nun geht sie in Rente. Sie hat alles erlebt: Rohrpost, Stenografie, große Box-Triumphe – und ihren Geburtstagschor

VON DEN ANFÄNGEN
1974 fing ich als Redaktionsstenotypistin an und wurde als „Springer“ in vielen Redaktionen eingesetzt, bis ich 1976 fest in die Sportredaktion kam. Schreibkraft gelernt hatte ich ab 1968 – gemeinsam mit vielen anderen jungen Frauen – bei der Bezirksregierung Düsseldorf. Bevor ich mit meiner Familie zurück nach Berlin zog, kaufte ich am Düsseldorfer Hauptbahnhof eine „Berliner Morgenpost“ und durchforstete die Stellenanzeigen. Ich dachte zunächst, hinter der Chiffre verberge sich eine Werbeagentur – doch dann meldete sich der Tagesspiegel. Berlin suchte damals händeringend junge Leute! Und ich war allein unter Männern.
Man pflegte früher in den Redaktionen einer Zeitung nicht schon um 9 Uhr anzufangen, der Betrieb ging erst mittags los. In der Sportredaktion begann ich um 15 Uhr zu arbeiten, dann allerdings bis 23 Uhr. (Und es rauchten nicht nur die Köpfe, die Luft war zum Schneiden!) Da die meisten Sportveranstaltungen am Abend begannen, kamen die Sportberichte spät rein, teils über den Fernschreiber, teils über unsere telefonische Aufnahme, die noch mit dicken Tonbandspulen arbeitete, teils über mich. Bis in die 90er Jahre hinein habe ich aus vielen Sportstadien im In- und Ausland die Berichte der Kollegen vor Ort über Kopfhörer direkt in die Schreibmaschine getippt, die dann nach hastigem Redigieren durch den Redakteur in Windeseile in die Setzerei befördert werden mussten.

ALS DIE COMPUTER KAMEN…
... schrieb ich direkt ins Redaktionssystem „auf die Seite“. Das telefonische Durchdiktieren der Spielberichte endete mit dem Aufkommen der Laptops. Gute Ohren, schnelles und fehlerfreies Schreiben unter Druck auf der Schreibmaschine, später dann am PC, waren Voraussetzungen.
In den Jahrzehnten hat sich viel am Berufsbild Redaktionssekretärin geändert: Das Stenografieren verschwand, ebenso das Aufnehmen von Texten, dafür konnte ich planen und organisieren.

ORGANISATORISCHE MEISTERLEISTUNG
Dabei denke ich an die Fußball-WM 2006 im eigenen Land. Dieses Großereignis war einer der Höhepunkte meines Berufslebens. Jeder Redakteur bekam von mir ein Papier, auf dem ganz genau stand, wo er sich wann an welchem Spielort einzufinden hat – und wo er übernachtet. Alle waren sehr aufgeregt damals, deswegen waren sie froh, dass sie sich an einem solchen Papier festhalten konnten.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass ich 40 Jahre lang den Servicekasten „Berliner Sportprogramm“ zusammengestellt habe, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr um Jahr! Zuletzt nur noch für einen kleinen treuen Leserkreis, der alle wichtigen Termine per Post nach Hause geschickt bekam.

DAS GRÖSSTE SPORTEREIGNIS
Juni 1978. Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien. War das eine aufregende Zeit! Ich glühte förmlich vor Begeisterung und Arbeitseifer. Was konnte es Schöneres für mich geben, als die WM in einer Sportredaktion zu erleben? Unsere Redaktion war damals die einzige, in der ein Fernsehgerät stand. Die Spiele wurden am Bildschirm verfolgt, sie fanden am frühen oder späten Abend statt. Der Redakteur, der den Auftrag hatte, den Bericht zu schreiben, hackte seine Zeilen mit dem Zwei-Finger-Suchsystem in seine manuelle Schreibmaschine. Büroboten brachten Agenturmaterial vom Fernschreiber in die Redaktion, die fertigen Manuskripte gingen dann in die Setzerei, entweder per Bote oder per Rohrpost.
Mir ist diese WM noch immer sehr präsent, auch wegen der politischen Querelen im Vorfeld. In Deutschland hatte man sogar erwogen, die WM wegen der in Argentinien herrschenden Militärdiktatur zu boykottieren. Namen wie César Luis Menotti oder Ernst Happel, Paolo Rossi oder Mario Kempes sind unauslöschlich in meinem Gehirn verankert, ebenso das Skandalspiel der DFB-Elf gegen Österreich am 21. Juni 1978, das als sogenannte „Schmach von Cordoba“ (als Hans Krankl das 3:2 für Österreich erzielte) in die Annalen einging.

DER SCHÖNSTE TAG IN DER REDAKTION
Es gab viele schöne Tage, aber einer der wirklich schönsten war mein 65. Geburtstag im Juni. An jenem Morgen war ich äußerst übel gelaunt aufgestanden, zu gern hätte ich das Datum ignoriert. Fürs Büro hatte ich auch nichts vorbereitet, ein paar Stücke Kuchen wie zu jedem Geburtstag würden reichen, dachte ich mir. Bloß kein Aufhebens machen. Nun, die Kolleginnen und Kollegen im Verlag hatten diesen Geburtstag sehr wohl registriert und haben mir einen wunderschönen Tag beschert, den ich nie vergessen werde: Der Tagesspiegel-Chor trat für mich auf, und sogar die Geschäftsführung kam vorbei.

Ein schrecklicher Abend im Hotel Intercontinental

Im Ring: Gitta Schlusche im Box-Club Olympia 75e.V., Berlin-Friedenau
Im Ring: Gitta Schlusche im Box-Club Olympia 75e.V., Berlin-Friedenau

© Doris Spiekermann-Klaas

DIE TRAURIGSTE ERINNERUNG
Es war die Feier zum 35-jährigen Jubiläum des Tagesspiegels Ende September 1980. Der damalige Verleger Franz Karl Maier hatte die gesamte Belegschaft in den Ballsaal des Hotel Intercontinental eingeladen. Ich hatte mir von dieser Feier viel versprochen.
Der Kollege aus einem anderen Bereich des Verlags, auf den ich heimlich ein Auge geworfen hatte, würde auch kommen, das wusste ich. Für diesen festlichen Abend hatte ich mir extra ein neues Kleid gekauft und ein paar private Tanzstunden genommen. Und was passierte? Nichts! Der Kollege, in den ich heimlich verliebt war, tanzte die ganze Zeit ausgelassen mit anderen Frauen und würdigte mich keines Blickes. Da half es auch nicht, dass mein wesentlich älterer Kollege Ekkehard zur Megede charmant versuchte, mich aufzuheitern. Dieses Fest wurde als ein rabenschwarzer Abend in mein Tagebuch eingetragen.

MEINE BLÖDESTE AUFGABE
Das Petermann-Sportarchiv! Als ich in der Sportredaktion anfing, kam so alle vier bis sechs Wochen, ich weiß nicht mehr genau, ein Umschlag mit einer dicken Lose-Blatt-Sammlung mit 1000 Sportergebnissen, die nach einem undefinierbaren Schlüssel zusammengestellt waren und von mir mühsam und oft unkonzentriert in irgendwelche Ordner abgeheftet werden mussten. Stinklangweilig war das. Ob da überhaupt mal ein Redakteur nachgeschlagen hat?

MEIN LIEBLINGSRITUAL
In der Sportredaktion begrüßen und verabschieden wir uns per Handschlag. Dann ist da das Schlechte-Witze-Schwein. Einmal im Jahr wird es geschlachtet, und es ist immer so viel Geld drin, dass es für ein Essen und eine sportliche Aktivität reicht. Eisstockschießen zum Beispiel.

MEIN ANSTRENGENDSTER ARBEITSTAG
Eine Mitternachtssitzung, in der ich vor Stress beinahe vom Stuhl gekippt wäre: Am 17. Juni 1976 standen sich im Boxring der Deutschlandhalle der Norddeutsche Eckhard Dagge und Elisha Obed (Bahamas) gegenüber und boxten um die Weltmeisterschaft im Superweltergewicht.
Mein damaliger Chef Gerhard Reimann, von Experten als „Box-Papst“ bezeichnet, fuhr abends zur Deutschlandhalle, ich musste in der Redaktion an der Schreibmaschine hocken und auf seine Anrufe warten. Der Kampf begann erst sehr spät. Gerry Reimann rief dann im Drei-Minuten-Takt von seinem Platztelefon am Ring an und diktierte mir Runde für Runde in die Maschine. Das ging so immer weiter und weiter, der Lärm, der durch das Telefon drang, war fürchterlich. Irgendwann verlor mein Chef seine Objektivität als Berichterstatter und unterbrach sein Diktat mit lauten „Ecki, Ecki!“-Anfeuerungsrufen.
Dann kam die zehnte Runde, in der Deutschlandhalle brach die Hölle los: Eckhard Dagge besiegte seinen Kontrahenten Elisha Obed durch technischen K.o. Am Ring müssen sich tumultartige Szenen abgespielt haben. Herrn Reimann hörte ich nur noch mit heiserer, überschnappender Stimme brüllen: „Ecki, Ecki, Junge, du bist Weltmeister! Weltmeister !! W e l t m e i s t e r !!!“ Um dann wieder in einem Höllentempo die letzten Boxszenen durchzutelefonieren. Ich konnte kaum etwas verstehen, habe mehr geraten, meine Finger zitterten wie Espenlaub, ich wäre fast zusammengebrochen.
Aber der Bericht war fertig, einigermaßen fehlerfrei, er wurde vom anwesenden Redakteur redigiert und blitzschnell in die Setzerei gebracht.

DAS HÄTTE BEINAHE NICHT GEKLAPPT
Es muss um das Jahr 2000 gewesen sein, und Michael Schumacher war der absolute Formel-1-Superstar. Damals waren die Internet-Hotelportale noch nicht so ausgereift wie heute. Es ging um ein wichtiges Rennen für Schumacher, in dem eine Entscheidung hätte fallen können. Ich weiß nicht mehr genau, wo dieses Rennen stattfand, auf jeden Fall wollten wir unbedingt einen Kollegen aus der Redaktion hinschicken. Es war aber unglaublich schwer, in der Region um die Rennstrecke ein freies Hotelzimmer im Internet zu finden. Nach nervenaufreibendem Suchen und mit etwas Glück habe ich dann doch noch eines gefunden und gebucht, aber es war so teuer, dass sich der damalige Ressortleiter beim Chefredakteur dafür rechtfertigen musste.

DAS SELTSAMSTE TELEFONAT
Ich führte es 2001, als Energie Cottbus unter „Ede“ Geyer in der Bundesliga spielte. Der Ausländeranteil in der Mannschaft war sehr hoch, und es trat der Fall ein, dass beim Spiel gegen den VfL Wolfsburg in der Startaufstellung nur ausländische Spieler standen. Das war der rechten Szene ein Dorn im Auge. Einer von denen rief bei mir an und verwickelte mich in ein langes, unangenehmes Telefonat, in dem ich mit den seltsamen, kruden Ansichten eines geistig Verirrten konfrontiert wurde. Ich musste das Gespräch mit Gewalt beenden. Also: den Hörer aufknallen.

ALS FRAU UNTER MÄNNERN FINDE ICH:
Diskretion ist Ehrensache. Nur eine Sache: Männer, räumt endlich Eure leeren Flaschen weg!

DARUM MACHT KAFFEEKOCHEN SPASS
Es ist einfach schön, die Kollegen ein wenig zu umsorgen. Allerdings kommt es auf die richtige Mischung an. Das möchte ich Euch noch mitgeben: Eindreiviertel Messbecher Kaffeepulver auf 2,2 Liter Wasser für die große Kanne. Ich habe extra eine rote Linie auf die Wasserkanne gemalt.

41 JAHRE TAGESSPIEGEL ...
Dankbar bin ich, dass ich einen interessanten Arbeitsplatz hatte. Er hat mir Geborgenheit gegeben und war eine Konstante in meinem Leben. Darüber hinaus kann ich stolz darauf sein, ein ganz großes Stück Berliner Zeitungsgeschehen sehr intensiv miterlebt zu haben: Journalismus im Wandel der Zeiten.

FÜR DIE ZUKUNFT WÜNSCHE ICH MIR:
Dass es den Tagesspiegel noch recht lange gibt. Ich freue mich darauf, ihn nun jeden Morgen in Ruhe lesen zu können. Ein Tag ohne Tageszeitung, das geht für mich gar nicht.

Gitta Schlusche

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