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Bruno K., 28 Jahre alt, war vielleicht zehn oder elf als sein Vater zum ersten Mal in sein Zimmer kam und seine Hose öffnete.

© Martin Zünti

Geschichte eines jahrelangen Missbrauchs: Er war mein Vater

„Dädi sagte, das braucht keiner zu wissen. Ich betete und hoffte, dass er nie wieder in mein Zimmer käme.“ Dies ist die Geschichte von Bruno K. und einem jahrelangen Missbrauch – in expliziten, schockierenden Worten. Es sind seine eigenen.

Hätte es geregnet, hätte ich es nicht getan. Oder später vielleicht.

Ich tat es am 24. Juni 2014 – hier steht es geschrieben. Stünde das Datum nicht in den Akten, ich hätte es vergessen. Es ist wohl mein Glück, dass ich vieles vergaß und noch immer vergesse.

Ich habe vergessen, was ich mit meiner Mutter sprach, als sie mich besuchte in der Psychiatrischen Klinik am Zugersee. Habe vergessen, ob mein Vater, als ich klein war, mich je streichelte oder lobte oder liebte.

Hätte es geregnet an jenem Tag, wäre ich nicht nach W. geradelt, fünf Kilometer hin, fünf zurück.

Soll ich vorlesen?

Am Dienstag, 24.06.2014, 21.16 Uhr, meldete Bingisser Leo, dass es zwischen Ihnen und Ihrem Vater, K. Hans-Josef, in W. zu einem Streit gekommen sei und die Gefahr bestehe, dass es zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen könnte. Sie wurden dann durch die ausgerückte Polizeipatrouille in W. als Lenker eines Fahrrades im Bereich der Bushaltestelle Eschenmattli angehalten. Ist das richtig so?

Damals, ich war 24, hatte ich ein Zimmer an der Hauptstraße von Einsiedeln – berühmtes Kloster, schwarze Madonna, Tausende von Pilgern –, ich lag in meinem Zimmer an der Hauptstraße, der Psychi entkommen, arbeitslos, von Beruf bin ich Spengler und Landwirt, ich lag und kiffte und dachte über mein Leben nach – ich weiß nicht, was ich dachte. Plötzlich kam ich auf die Idee, ihn zu besuchen, meinen Vater in W., auf der anderen Seite des Sees, wo ich Kind gewesen war. Ich stand auf, nahm mein Rad und fuhr hinauf zum Kloster, das auch eine Stallung besitzt, einige Dutzend Pferde darin. Dort hatte ich, ein halbes Jahr zuvor, gearbeitet, in den Ställen des Klosters und in seiner Kellerei.

Vielleicht hatte ich Angst vor ihm. Vielleicht wollte ich eine Waffe, etwas, das mich stark machte.

Ich wusste, wo im Kloster der Blackenstecher steht, ein schmales Gerät, am unteren Ende mit zwei scharfen Spitzen versehen, das man in die Erde drückt, um Blacken aus dem Boden zu stechen, Sauerampfer, ein elendes Unkraut. Ich band das Ding ans Rad und fuhr über die lange Brücke hinüber nach W., wo der Vater wohnte, meine Mutter, noch hatte ich einen Schlüssel zu ihrem Haus.

Mutter wollte, dass ich Ministrant werde

Neulich fragte der Psychiater, was für ein Kind ich gewesen sei. Was für ein Kind – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich am liebsten bei meinen Onkeln war, Alois und Frowin, die ein paar Kühe hatten und einige Ziegen. Dass ich am liebsten fort war, nie zu Hause, wo in der Stube ein Kreuz hing und ein Bild, darauf ein Clown, Tränen im Gesicht, so ein Scheiß.

Meine Mutter war im Kirchenchor, der Vater im Musikverein, sie Arzthelferin, er Versicherungsagent, manchmal, wenn er von der Arbeit kam, gab er ihr einen Kuss. Mama betete oft und lange, Dädi schwieg, manchmal reichte sie ihm die hölzerne Kelle, um mich zu schlagen.

Was für ein Kind ich gewesen sei?

Am 7. März 1989 kam ich im Spital Einsiedeln auf die Welt. Mama sagte einmal, als Baby hätte ich ständig geheult. Ich sei nicht zu trösten gewesen. Den Keuchhusten hätte ich gehabt. Ich weiß noch, dass wir sonntags zur Kirche gingen, meine Eltern, die zwei Schwestern und ich, wo die Knochen von irgendwelchen Heiligen unter Glas stecken und im Chor, an die Wand gemalt, ein Rudel Engel zirpt, alle mit spitzen Flügeln. Am liebsten war ich bei den Kühen und Ziegen. Bei den Onkeln, die mich lehrten, Traktor zu fahren, Gabelstapler, Mäher.

In der Schule riefen sie mich, weil ich damals ziemlich dick war, Gummelsack, Kartoffelsack.

War mir egal. Der Psychiater fragte, was ich als Kind nachts träumte? Es fiel mir nichts ein.

Mutter wollte, dass ich Ministrant werde, also wurde ich Ministrant in der Kirche von W., plapperte die Gebete, die zu plappern waren, ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau ... Sechs Jahre Unterstufe in W., dann drei Jahre Oberstufe in Einsiedeln.

Er sagte, es tue ihm leid, was geschehen sei

Den Blackenstecher löste ich vom Rad, öffnete die Tür zu Vaters Haus, Mutter war nicht da, er am Duschen. Dädi, wir gehen spazieren, zieh eine Unterhose an.

Was ist los?

Mach schon, sagte ich, wir gehen ins Dorf.

Er zog die Unterhose an. Ich glaube, er sagte dann, es tue ihm leid, was geschehen sei, aber immerhin habe er mich besucht, als ich einst im Kinderspital lag.

Mach schon.

Dann verließen wir das Haus, er vorn, ich hinten, den Blackenstecher in meiner Hand. Wir gingen hinunter zur Seestraße, links die Stickerei Steinauer, rechts eine Wiese, dahinter der See, spazierten vorbei am Friedhof, wo auf allen Steinen die gleichen Namen stehen, Kälin, Schönbächler, Birchler, Gyr, vorbei am Schulhaus, am Gasthaus Schlüssel, Hecht aus dem Sihlsee, vorbei am Dorfladen. Vor dem Dimmerbach bogen wir in die Gasse ab, rechts die Schreinerei Paul Schönbächler, links die Engros Sport-Fisch GmbH, nahmen dann die Satteleggstraße zurück zur Kirche und trotteten von dort nach Hause, wieder vorbei an Gasthof und Schulhaus, er vorn, ich hinten, ich warf ihm den Schlüssel hin, hier, du Sauhund, band den Blackenstecher ans Rad und machte mich auf den Weg nach Einsiedeln, es war Abend, noch hell. Bei der Bushaltestelle saßen zwei Kollegen, ich setzte mich zu ihnen – dann kam die Polizei.

Es ging mir gut.

Es ging mir gut.

Herr K., anlässlich der Tatbestandesaufnahme äußerten Sie sich gegenüber den Polizeifunktionären, dass Sie von Ihrem Vater, K. Hans-Josef, in der Kindheit und Jugendzeit wiederholt sexuell missbraucht worden seien. Dazu drängen sich weitere Ermittlungen auf, und Sie werden diesbezüglich als Auskunftsperson (Opfer) einvernommen. Haben Sie den Grund der Einvernahme verstanden und sind Sie in der Lage, der Einvernahme zu folgen?

Mein Vater hat mich in den Arsch gefickt

Das war, wie ich hier lese, zwei Tage nach dem Gang durchs Dorf, Akte 10.2.01, Seite 1, Polizeiliche Einvernahme, 26.06.2014. Mit niemandem hatte ich je darüber gesprochen, erst in der Psychi, elf Jahre nach dem letzten Übergriff, als er mich in den Arsch fickte.

Es gibt andere Worte dafür ...

Aber das sind nicht meine. Mein Vater hat mich in den Arsch gefickt. Da war ich 14. Er kam zum Samenerguss, als er noch in mir war. Ich musste anschließend sofort auf das WC, um den Samen, den er in mich hineingeschossen hatte, wieder rauszubekommen. Als ich vom WC kam, war mein Vater nicht mehr im Zimmer.

Frage 53: Schildern Sie mir, was sich genau ereignet hat, bis Ihr Vater mit dem Penis in Sie eingedrungen ist?

Ich habe mich nicht zur Wehr gesetzt. Er befahl, mich nach vorne über das Bett zu beugen. Ich glaube nicht, dass ich mir die Badehose selber heruntergezogen habe. Er zog mir diese runter und drang in mich ein.

Frage 54: Wie war Ihr Vater bekleidet?

Wahrscheinlich mit Badehose und T-Shirt. Ich weiß es aber nicht mehr genau.

Frage 55: Benützte Ihr Vater ein Gleitmittel?

Nein.

Frage 56: Hatten Sie danach Ausfluss oder Blut im Stuhl?

Das weiß ich nicht mehr. Ich hatte Schmerzen, während er in mich eingedrungen ist, und ich hatte auch später noch Schmerzen.

Frage 57: Welche Bewegungen machte er, während er in Sie eingedrungen ist?

Er steckte zuerst seinen Schwanz in mich hinein und wichste gleichzeitig mit der Hand, bis er kam. Er spritzte ab, als er noch in mir war. Es ist das erste Mal, dass ich jemandem so genau erzähle, was passiert ist.

Frage 58: War der Penis von Ihrem Vater schon steif, als er ins Zimmer kam?

Das weiß ich nicht. Ich musste mich über das Bett beugen, und er drang in mich ein.

Frage 59: Wieso haben Sie sich nicht gewehrt?

Er war mein Vater. Er hat mir angedroht, dass er meiner Mutter sagen werde, dass ich rauche. Mein Vater wusste, dass ich rauche. Und ich dachte, wenn ich ihn machen lasse, lässt er mich in Ruhe.

Frage 60: Wie war der weitere Verlauf der Ferien?

Normal. Da war ich 14, Mitte Juli 2003 – elf Jahre später holte ich den Blackenstecher.

Einmal, er vor mir, trat Mama ins Zimmer

Er habe keiner Menschenseele erzählt, was sein Vater tat. Heute denkt er, er schwieg so lange, um seine Mutter zu schützen.
Er habe keiner Menschenseele erzählt, was sein Vater tat. Heute denkt er, er schwieg so lange, um seine Mutter zu schützen.

© Martin Zünti

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je die Nähe meiner Eltern suchte. Aber es muss so gewesen sein. Ich war acht oder neun Jahre alt und lag im Ehebett, vielleicht an einem Sonntagmorgen, Mami rechts, Dädi links, ich dazwischen, er fasste mich an, spielte mit meinem Penis, ich weiß nicht, was ich dachte, was ich fühlte.

Der Psychiater fragte, was ich als Kind nachts träumte. Dass ich ins Nichts falle. Dass ich falle und falle und falle.

Hatte ich im Sommer nur eine Unterhose an, wollte er, dass ich mich neben ihn setze. Ständig schaute er mich an. Er war mein Vater.

Ich weiß nicht, wann er zum ersten Mal in mein Zimmer kam und mir befahl, mich aufs Bett zu setzen. Er möchte mir etwas zeigen, sagte er, und ging in die Knie, öffnete meine Hose, nahm meinen Penis in seinen Mund, rieb daran, bis er steif wurde, ich war vielleicht zehn oder elf.

Das braucht keiner zu wissen, sagte Dädi, das ist unser Geheimnis. Er kam wieder, manchmal zweimal, dreimal in der Woche, Mutter war im Kirchenchor oder anderswo. Mein Vater.

Er hatte einen Computer, er ließ mich damit spielen, irgendwann fand ich Bilder von nackten Buben, so alt wie ich. Nachts lag ich im Zimmer nebenan und hörte das Rauschen und Zischen, wenn er sich ins Internet einwählte, eine Stunde lang, zwei. Manchmal, auf dem Weg zur Toilette, sah ich ihn mit offener Hose.

Am liebsten war ich bei den Kühen und Ziegen, ihre Bilder hingen über meinem Bett. Und die Fotos von Traktoren. Ab und zu, daran erinnere ich mich, betete ich ein Vaterunser und dachte, Dädi käme nun nicht wieder in mein Zimmer. Ich weiß nicht, ob er mein Sperma schluckte. Um mich zu trösten, reichte er mir sein Handy, ich spielte Snake, er saugte an meinem Penis, rieb daran, stand auf, ging. Einmal, er vor mir, trat Mama ins Zimmer, auf der Hand einen Stapel gewaschener Wäsche, sie schwieg, schob die Wäsche in den Schrank, ging.

Vaterunser im Himmel.

Was haben deine Eltern in dir zerstört? Doofe Frage

Frage 65: Sie wurden im Jahr 2008, also vor sechs Jahren, zu Vorwürfen gegen Ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs Ihres Cousins M. bereits einmal einvernommen. Sie haben damals gesagt, dass Sie nie Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Wieso haben Sie damals anderslautende Aussagen gemacht?

Ich hatte meinen Vater gern und hab ihn geschützt. Ich habe mich auch gar nicht getraut, darüber zu reden.

Frage 66: Wie sehen Sie jetzt das weitere Vorgehen für sich selber?

Keine Ahnung. Irgendwann, schon bald, verbrenne ich alle diese Papiere. Ich will leben, ich muss.

Zehn und mehr Jahre lang habe ich keiner Menschenseele erzählt, was mein Vater tat. Heute denke ich, ich schwieg, nicht um ihn zu schützen, sondern meine Mutter, die so fromm und anständig war, jeden Sonntag in der Kirche, Mama, die vorn im Chor stand oder auf der Empore und tolle Lieder sang, Maria, breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus, lass uns darunter sicher stehn, bis alle Stürm vorüber gehn.

Sie wusste es, ich bin sicher, dass sie es wusste. Nie habe ich mit ihr darüber gesprochen. Wozu? Ich getraute mich nicht. Wollte sie nicht traurig machen oder erschrecken. Irgendwie so.

Manchmal kam er, den Schwanz steif, in die Dusche, wenn ich am Duschen war, und versuchte, ihn mir in den Arsch zu stecken. Aber es ging nicht. Trotz des Speichels, den er benützte. Manchmal, wenn ich in der Dusche war, hörte ich ihn, zum Schlüsselloch gebückt, stöhnen. Einmal hörte ich meine Mutter schimpfen: Hans-Sepp, was machst du da? Man fragte mich: Was haben deine Eltern in dir zerstört? Doofe Frage, weil ich nicht weiß, wie ich wäre, wäre nicht passiert, was passierte.

Ich kam mir vor, dass ich nur sein Spielzeug bin

Zwei Wochen nach der Einvernahme holten sie meinen Vater ab, dann seine zwei Laptops, die er im Geschäft hinter einer Zierblende versteckt hatte, schließlich musste ich nach Bennau zur Staatsanwaltschaft, das war, lese ich, am 23. Juli 2014, Beginn der Einvernahme: 09.05 Uhr. Ich saß auf einem Stuhl, eine Kamera über mir, die festhielt, was ich sagte, wie ich es sagte, und alles übertrug in ein Zimmer nebenan, wo der Vater saß.

22. Fanden diese Handlungen außer zu Hause noch woanders statt?

Ich durfte einmal mit ihm zusammen mit dem Motorrad ausfahren, und dann fuhr er auch einmal in einen Wald. Dies war sicher zweimal, wie ich noch weiß. Einmal fand eine solche Handlung auch in Italien in den Ferien statt.

23. Was passierte im Wald, wo war dies genau?

Einmal fuhren wir über den Etzel, und dann fuhr er dort in den Wald hinaus und hat mir eins gewichst. Einmal fuhren wir von W. in Richtung Sattelegg, und dort fand auch eine solche Handlung statt.

50. Wenn ich richtig verstehe, hat Ihr Vater Sie also weder geschlagen noch bedroht?

Ich habe mehr gedacht, dass wenn ich ihm diesen Gefallen tue, dass unser Verhältnis dann besser würde, aber das war nicht der Fall.

Nachfrage: Was war zwischen Ihnen nicht gut?

Ich kam mir vor, dass ich nur sein Spielzeug bin. Ich dachte, dass wenn ich ihm diesen Gefallen tue, dass er mich auch einmal als Mensch sieht. Das kam mehr von meinem Gefühl heraus, dass ich mir nie geschätzt vorkam. Ich wurde nicht schlechter als meine Geschwister behandelt oder so.

58. Als ich Ihren Vater einvernahm, gab er zu Protokoll, er könne sich nicht erinnern, je in Sie anal eingedrungen zu sein?

Was soll ich dazu sagen? Schön für ihn, dass er das vergaß.

75. Wie kommt es, dass Sie all die Jahre darüber nie geredet haben?

Ich habe diese Handlungen zuvor immer mit Alkohol versucht zu verdrängen.

76. Hat Ihr Vater gesagt, dass Sie darüber schweigen müssten?

Er hat nie darüber gesprochen. Er hat es vergessen, und ich habe es verdrängt. Es kam auch in all diesen Jahren nie eine Entschuldigung von ihm.

77. Möchten Sie noch etwas sagen, ergänzen?

Im Moment kommt mir nichts in den Sinn.

78. Wie geht es Ihnen nun, nachdem Sie Ihre Aussagen gemacht haben?

Es ging mir vorher nicht gut, und es geht mir jetzt nicht besser. Als ich zwölf oder 13 war, auf jeden Fall in der sechsten Klasse, und mein Vater wieder einmal vor mir kniete, stieß ich ihn mit den Beinen weg. Dann ließ er mich ein Jahr lang in Ruhe. Bis zur Vergewaltigung in Italien. Mitte Juli 2003.

Eigentlich wollte ich sterben

Er wollte ein neues Leben beginnen, doch es ging ihm schlecht und schlechter. Alkohol, Cannabis, Kokain. Es tat gut.
Er wollte ein neues Leben beginnen, doch es ging ihm schlecht und schlechter. Alkohol, Cannabis, Kokain. Es tat gut.

© Martin Zünti

Wir waren im Auto nach Ligurien gefahren, Mama, Dädi, die Schwestern und ich, nach Pietro di cure oder so. Wie das Hotel hieß, wie es aussah, habe ich vergessen. Es geschah an einem Vormittag, wir lagen am Strand, dann ging ich in mein Zimmer, um dort zu rauchen, mein Vater folgte mir und fragte: Kann ich meinen Schwanz mal in deinen Arsch stecken?

Dann hat er es getan. Als ich vom WC kam, war er verschwunden. Danach ging man essen, die ganze Familie K., irgendwo in einem Restaurant am Meer. Und er aß und plapperte und lächelte. Schließlich, gegen Ende Juli, fuhren wir in die Schweiz zurück, irgendwo, noch in Italien auf der Autobahn, fiel die Strommaschine aus, wir übernachteten in einem Hotel, reisten schließlich, als das Auto geflickt war, weiter und erreichten W. am Abend.

Am anderen Morgen ging ich zu meinen Onkeln, Alois und Frowin, zu ihren Kühen und Ziegen. Dort setzte ich mich auf den Traktor, Massey Ferguson, fuhr hinauf ins Studenweidli, einen steilen Weg, ich verschaltete mich, im Leerlauf raste die Maschine rückwärts. Statt vom Traktor zu springen, blieb ich sitzen, holte mein Feuerzeug aus der linken Hosentasche, die Zigaretten, die ich nicht rauchen durfte, aus dem rechten, und warf sie ins Gras.

Dann war es zu spät, um abzuspringen. Wanderer fanden mich zehn Meter neben der Maschine, bewusstlos, schier zerquetscht. Eigentlich wollte ich sterben, das weiß ich. Schädelbrüche, Rippenbrüche, Hirnblutungen, die Wirbelsäule war verletzt, die Leber und so fort, ich konnte nicht mehr sprechen, war auf der rechten Seite gelähmt und taub. Ich wollte sterben. Im Helikopter flogen sie mich nach Zürich ins Kinderspital. Dort taten sie, was zu tun war, zwei Wochen später brachte man mich nach Affoltern am Albis zur Rehabilitation.

Irgendwo gibt es dazu ein Papier. Fähigkeiten bei Eintritt: Braucht noch Hilfestellung beim Aufsitzen. Gehen mit kleinen Schritten und enger Supervision. Gelegentliche nächtliche Inkontinenz. Selbstständig im Rollstuhl. Spricht kurze Sätze. Ruhiges Verhalten. Ein halbes Jahr war ich dort. Mama kam zu Besuch, auch Dädi. Und irgendwann hörte ich die Ärzte sagen, meine Gesichtslähmung, hier rechts, der hängende Mundwinkel sei mit einer Operation, zumindest optisch, zu beheben.

Ich wollte nicht. Wollte meinem Vater nie mehr gefallen. Mutter meinte, ich sollte Spengler werden, also lernte ich Spengler, fuhr jeden Morgen auf dem Rad hinüber nach Einsiedeln, drei Jahre lang, kam abends zurück ins Haus der Eltern, saß mit ihnen am Tisch, Mutter erzählte vielleicht von den Liedern, die sie im Chor sang, Vater von den Verträgen, die er abgeschlossen hatte oder von den Kollegen im Musikverein, ich ging in mein Zimmer, hörte nachts das Zischen und Rauschen, wenn Dädi sich ins Internet einwählte.

Manchmal sah er mich an. Und ich dachte, ich könnte in seinen Augen etwas entdecken, Scham vielleicht oder Reue, Liebe, irgendetwas. Nichts.

Er hat meinen Cousin missbraucht

Ich weiß nicht, weshalb ich mich an diese Jahre nicht erinnere. Sie sind weg – gelöscht. Morgens fuhr ich über die lange Brücke nach Einsiedeln, abends über die Brücke zurück. Und irgendwann war Lehrabschluss, die Note ganz gut, ich wollte nicht Spengler sein, sondern Bauer.

Ich kann es nicht beweisen, wie könnte ich es? Der Unfall, am ersten Morgen nach den Ferien in Italien, wo mein Vater mich vergewaltigte, war mein erster Versuch, der Welt zu entkommen. Später versuchte ich es mit Tabletten, 50 Temesta auf einmal. Hat nicht gereicht.

Im August 2008, ich war im Fricktal, weit weg, bei einem Bauern zur Lehre, rief meine Mutter an, Dädi sei verhaftet, das Haus durchsucht worden, man vermute, er habe meinen Cousin Ferdi sexuell genötigt oder so, über Jahre hinweg. Die Polizei bestellte mich zum Verhör, ich log, Ähnliches sei mir noch nie passiert. Schließlich wurde der Vater mit sechs Monaten bedingt bestraft, drei Jahre Probezeit, Mutter traute sich kaum noch ins Dorf, ging am Sonntag in Einsiedeln zur Messe, nie mehr in W., wo die Knochen irgendwelcher Heiliger unter Glas liegen, Maria, breit den Mantel aus.

Es ging mir nicht gut. Es ging mir schlecht und schlechter, war ständig müde, nur noch hässig.

Den Sommer 2010 verbrachte ich in Euthal auf einer Alp, arbeitete vom Morgen bis zum Abend, wusste nicht, weshalb und wozu. Als es Herbst wurde, zog ich wieder ins Haus der Eltern, ertrug den Vater nicht, die Mutter nicht. Alkohol.

Aber es war nicht so, dass ich mich ständig daran erinnerte, wie Dädi einst vor mir kniete. Wie er in mich drang. Eigentlich dachte ich nie daran – es ging mir schlecht und schlechter. Dachte, ein neues Leben zu beginnen oder so.

Eine Scheiße nach der anderen

Den nächsten Winter, 2010 auf 2011, war ich in Neuseeland, lernte dort Englisch, war dann Melker auf einem Hof, molk täglich 900 Kühe. Kam zurück nach W. am See, ging wieder auf eine Alp, arbeitete als Spengler, ging wieder auf die Alp, der Rücken schmerzte, alles schmerzte, die jüngere Schwester sagte: Wenn nichts nützt, nützt Cannabis.

Also Cannabis. Kein Problem, im Wallfahrtsort Einsiedeln an Cannabis zu kommen. An Kokain. Es tat gut.

Am 12. oder 13. Dezember 2012, in der Nähe von Biberbrugg, war ich in meinem Auto zu schnell unterwegs, jemand überholte mich, bremste ab. Du Madensack, verdammter, was du kannst, kann ich auch. Ich überholte den anderen, bremste ihn aus, sah zu spät, dass darin Polizisten saßen, fünf Männer in Zivil, sie rannten auf mich zu, drückten mich zu Boden. Seither bin ich ohne Führerschein.

Eine Scheiße nach der anderen. Das Auto eines Kollegen habe ich zu Schrott gefahren. 50 Tabletten Tempest, ich schlief drei Tage lang.

Der Rücken schmerzte ständig heftiger, ich konnte kaum noch gehen, kaum noch kriechen, Bandscheibenvorfall, Operation im Januar 2013, ich ging wieder zur Arbeit, Spenglerei Aebi & Ciaranfi in Pfäffikon, blieb manchmal im Bett, immer häufiger blieb ich im Bett, nicht zu gebrauchen, nichts mehr wert, Entlassung im April 2014. Die Invalidenversicherung fand eine Stelle im Kloster. Dort war ich nun, lebte in einer Zelle, tat mich nützlich im Weinberg, bei den Rossen, aß mit Angestellten und Pilgern.

Hielt es nicht lange aus. Hielt nichts mehr aus. Ich suchte ein Zimmer im Dorf, fand eines an der Hauptstraße, ein Loch ohne Fenster. Bier, Cannabis, Kokain.

Entweder gelingt es mir, mich auszulöschen, oder ich liefere mich in die Psychiatrische ein.

Herr K. sagt, er könne sich an nichts freuen

Bruno K. lebt heute in Einsiedeln. Er weiß nicht, wo sein Vater und seine Mutter wohnen, sie haben ihr Dorf längst verlassen.
Bruno K. lebt heute in Einsiedeln. Er weiß nicht, wo sein Vater und seine Mutter wohnen, sie haben ihr Dorf längst verlassen.

© Martin Zünti

Erstkontakt, 28.04.2014: Auf Nachfrage erzählt Herr K., dass er nicht sagen könne, was in ihm vorgehe, es sei ihm alles egal. Herr K. hat noch ein ganzes Cannabissäckli bei sich, er wird über die Hausordnung informiert. Akute Suizidalität. Gibt Nonsuizidversprechen ab.

Das weiß ich noch, dass ich ein Mandala malen musste, wie im Kindergarten kam ich mir vor. Ich weiß noch, dass, zumindest am Anfang, nachts alle Stunden jemand an mein Bett trat und sich zu mir krümmte. Dass ich meinen Kopf ab und zu an die Wand schlug, meine Fäuste, meine Füße, Beine.

Herr K. wirkt etwas ungepflegt und salopp gekleidet. Er hat auf dem linken Oberarm ein Totenkopftattoo. Im Gespräch wirkt er interessiert, schwingungsfähig, aber etwas gehemmt. Die Bewusstseinslage ist klar. Mit seinem Langzeitgedächtnis hat er jedoch Probleme, da er sich an etliche Ereignisse in den letzten Jahren nicht erinnern kann. Es bestehen keine Halluzinationen oder Zwangshandlungen. Als Zwangsgedanke, der von ihm abgelehnt wird, kommt immer wieder der Wunsch, seinen Vater zum Krüppel zu schlagen. Dies scheint auch ein Hauptgrund der inneren Wut zu sein, die ihn in seinen depressiven Phasen beherrscht. Bislang keine Fremdgefährdung. Seine Suizidwünsche begründet er zum Teil damit, dass er lieber sich selber umbringen wolle als seinen Vater. Herr K. sagt, er könne sich an nichts freuen, er fühle sich schuldig für irgendetwas, könne aber nicht sagen, für was. Dazu Versagensängste und Hoffnungslosigkeit.

Es tut mir nicht gut, diese verdammten Akten zu lesen.

Ich weiß noch, dass ich mich einmal weigerte, Medikamente zu nehmen, die mir die Ärzte am Zugersee verschrieben. Weil ich Ärzte hasste. Weil sie mich nicht hatten sterben lassen, als ich sterben wollte mit 14.

Und irgendwann, im Gespräch mit irgendwem, vielleicht am zweiten oder dritten Tag in der Klinik, erzählte ich, mein Vater habe mich über Jahre sexuell belästigt.

Belästigt, sagte ich, nicht missbraucht.

Mein Vater und meine Mutter – ein Paket

30.04.2014/11:53:08: Herr K. hat darüber noch nie gesprochen, weil er das seinem Vater versprochen hat und will, dass das auch keiner erfährt, es scheint mir aber, dass er dennoch mit dem Gedanken spielt, den Vater anzuzeigen. Habe ihm dargelegt, dass er konsequent sein muss. Entweder dem Vater verzeihen oder sich total von ihm trennen. Er will jetzt, bevor er etwas unternimmt, wissen, ob seine Mutter mit seinem Vater glücklich ist. Davon macht er eine Anzeige abhängig.

Als sie dann in die Klinik kam, um mich zu besuchen, wusste ich nichts mit ihr zu reden. Mama saß da, irgendwie vertraut, irgendwie fremd, meine Mutter – ich wollte mit ihr reden, konnte nicht.

02.05.2014: Es stellte sich heraus, dass die Mutter mit dem Vater recht glücklich ist. Der Patient nahm seiner Mutter gegenüber –

Jetzt muss ich heulen, wenn ich das lese –

Der Patient nahm seiner Mutter gegenüber eine ablehnende Körperhaltung ein und blickte meist auf den Boden. Er verhielt sich die meiste Zeit schweigsam. Die Mutter redete mehr zu mir als zu ihm. Sie nahm die ganze Zeit an, dass sie vom Patienten mehr abgelehnt werde als der Vater. Offenbar war dieses Gespräch das erste Mal, dass überhaupt geklärt wurde, dass der Patient seine Mutter gern hat. Ich legte ihr dar, dass der Patient seinen Vater jetzt erst mal eine Weile nicht sehen dürfe. Sie war nicht daran interessiert, zu erfahren, weshalb.

Kann sein, dass das stimmt, was hier geschrieben steht. In meiner Erinnerung hat meine Mutter versucht, herauszufinden, was ich noch wusste. Mein Vater und meine Mutter – ein Paket.

Ein pädophiler Kinderschänder

04.05.2014: Herr K. schlägt mit der Faust im Raucherraum an die Wand, ist sehr wütend, angespannt. Kann sich nur mit „ja“ und „nein“ äußern.

05.05.2014: Herr K. äußert den dringenden Wunsch, die Klinik zu verlassen, er sagt, dass es ihm nichts bringe, hier zu sein und ihm sehr langweilig sei.

Zehn Tage später war ich draußen, vielleicht waren es mehr, ich reiste nach Einsiedeln, legte mich in mein Zimmer an der Hauptstraße, das keine Fenster hat, ich kiffte, ich trank.

Der 24. Juni, Dienstag, war ein heller Tag, es regnete nicht. Ich wusste, wo der Blackenstecher steht da oben im Kloster.

Dädi, zieh eine Unterhose an, wir gehen spazieren.

Im Flur lag ein Filzstift, dick und schwarz. Ich schrieb auf Vaters Rücken: Ich bin ein pädophiler Kinderschänder.

Dann trieb ich ihn durchs Dorf.

Am 11. Juli 2017 lehnte das Schweizerische Bundesgericht den Wunsch von Hans-Josef K. ab, die Strafe des Schwyzer Kantonsgerichts, drei Jahre und neun Monate, zu mindern, zumal er, der Vater, bereits Buße getan habe, als sein Sohn ihn halbnackt durch die Gegend jagte, BGer 6B_216/2017.

K., Bauer und Spengler, nun 28, lebt in einem Zimmer, 16 Quadratmeter, 730 Franken, 8840 Einsiedeln – jeden Morgen fährt er zur Arbeit, kommt abends wieder, schluckt, was der Psychiater verschreibt, legt sich ins Bett. Er weiß nicht, wo sein Vater lebt, wo seine Mutter, die W. längst verlassen hatten, jeden Sonntag sitzt er beim Großvater, isst bei ihm, Rösti und Bratwurst vielleicht oder Spaghetti Bolognese, dann trinken sie Kaffee und lesen die Zeitung, Bote der Urschweiz, der Alte an einem Ende des Tischs, Bruno K. am anderen.

Erwin Koch

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