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Akropolis. Deutsche Soldaten beim Hissen einer Hakenkreuz-Flagge.

© Bundesarchiv, T. Scheerer

Griechenlands jüngste Geschichte: Der Mann, der die Hakenkreuzflagge stahl

Er wurde zum Helden, weil er im Zweiten Weltkrieg die Fahne der Nazis von der Akropolis holte. Manolis Glezos war Partisan, zum Tode verurteilt, Abgeordneter in Straßburg: An seinem Leben erklärt sich Griechenlands jüngere Geschichte.

In der Nacht, die er für seine letzte hielt, schrieb er ein Gedicht: Gott bewahre! / Im Meer meiner Erinnerung wehe du Nordwestwind der Kykladen / Die Unwolken, das Dunkle, die Stürme verjage / Und bis zu meinem Dorf trage mich auf weißen Flügeln / Tücher der Hoffnung und der Träume.

Aber besser, sagt Emmanouil Glezos, von allen Manolis genannt, besser, wir beginnen von vorn, mit dem eisernen Bett, sagt er, in dem ihn seine Mutter vor 94 Jahren gebar, in jenem hohen harten Gestell, in dem noch 14 andere Glezos ans Licht fanden, Urgroßvater, Großvater, Vater, Onkel, Tanten, die Schwester, der Bruder, zu Hause in Aperathos, hoch über Naxos, wo die Menschen, kaum geboren, lernen, keine Angst zu haben, aber was ist eigentlich Angst? Ich sage es dir: Angst gründet auf Unkenntnis, wer etwas nicht kennt, hat Angst, in seinem Dorf habe er gelernt, sich nie zu fürchten –

Manolis?

Ich gebe dir ein Beispiel, ein Kamerad und ich standen einst in einer Schlacht, Maschinengewehrgeknatter, nichts Besonderes, doch plötzlich nähert sich ein Lärm, den wir nicht kennen, ein teuflisches Pfeifen, das in hohem Bogen über uns hinwegzieht, eine Artilleriegranate, laut, zischend. Und ich schaue zu meinem Freund, einem tapferen mutigen Mann, und sehe die Furcht in seinen Augen, was ist los mit dir?

Hatte der tatsächlich in die Hose gemacht.

Ich nicht.

Warum?

Weil ich aus Aperathos bin –

Manolis?

Was willst du wissen?, sagt Manolis am runden Tisch, darauf ein Tuch, bestickt mit Blumen, keine Frage werde ich ohne Antwort lassen.

Ja, es gibt Leute, die plappern, ich sei zu eitel, um zu sterben.

Nein, ich bereue nichts.

Nein, getötet habe ich nicht.

Nie?

Einmal sollte ich einen Verräter erschießen, ich tat es nicht.

Und dann?

Tat es ein anderer.

Kämpft einer für das, woran er glaubt, kämpft er nie vergeblich

Eine Frau mit rotem Haar, Schreibkraft und Pflegerin, schiebt Manolis ein Kissen in den Rücken, stellt Kaffee auf den Tisch, einen Krug Wasser, setzt sich ans Fenster und schweigt, Odos Psaron 4, Neo Psychiko, Athen, der Ventilator summt.

Glezos Emmanouil, 9. September 1922, griechischer Politiker, Widerstandskämpfer, Schulbuchstoff – weil er, zusammen mit seinem Freund Apostolos Santas, Ende April 1941 die Hakenkreuzfahne der deutschen Besatzer von der Akropolis holte, stimmt, es stört mich, dass mein Tun auf diese Nacht verkürzt wird, auf diese verdammte Flagge, sein Leben sei mehr als eine Flagge, sein Leben sei Kampf, und kämpft einer für das, woran er glaubt, kämpft er nie vergeblich, die Akropolis, auf der das Hakenkreuz flatterte, sagt jetzt Manolis, sei Sinnbild der Zivilisation, der Humanität, großer Werte der Menschheit, niemandem stehe es zu, dieses Symbol zu entweihen, deshalb bin ich damals auf die Akropolis geschlichen, am liebsten spräche ich nicht mehr darüber, ständig verdickt die Welt meinen Kampf auf diese eine dunkle Nacht.

Der Großvater, damals in Aperathos auf Naxos, war Ziegenhirte gewesen und Heiler, der Vater Buchhalter und Journalist, die Mutter Lehrerin, Manolis ihr erstes Kind. Der Vater starb, als der Bub drei alt war, Lungenentzündung, ich habe kein Bild von ihm, keine Erinnerung, oder höchstens die, dass etwas Dunkles sich über mich beugt, das Gesicht eines Mannes, ich weiß es nicht, ich war, bis Mama wieder heiratete, ohne Vater.

Jetzt scheucht er die Sekretärin auf, befiehlt ihr, ein Buch zu holen, die Denkschrift für Manolis’ Bruder Nikos, hingerichtet am 10. Mai 1944, darin, auf Seite 20, das Bild von Mama und Papa, sie im geblümten Kleid, die Rechte auf der Schulter des Mannes, der eisern in die Kamera blickt, randlose Brille, Krawatte.

"Manolis, elender Dummkopf, wo warst du so lange?"

Wann hast du zum letzten Mal geweint?

Manolis schließt die Augen, legt die dürre Hand auf Mund und Schnauz, er weine Tag für Tag, nicht nur um die, die ihm wegstürben, Freunde von einst, einer nach dem andern, sondern zuerst deshalb, weil es mir nicht gelingt, das Volk zu überzeugen.

Wovon?

Dass es, das Volk, sein Los in die Hand nehmen muss. Dass, wenn es keine Kriege mehr gäbe und keine Ausbeutung, die arbeitsfähige Bevölkerung, um alle ihre Bedürfnisse zu decken, täglich nur eine Sekunde zu arbeiten bräuchte, nur eine Sekunde –

Manolis!

Das sei bewiesen, sagt er und schickt die Rothaarige los, eine Studie zu suchen, verloren in den Stapeln Papier, die im Flur liegen, im Zimmer nebenan, in der Küche vielleicht.

Meine Mutter, obwohl sie mich schlug, war eine gute Frau

Vier Monate nach dem Tod ihres Mannes gebar die Mutter einen zweiten Sohn, 1925, Nikos. Acht Jahre später heiratete sie, Lehrerin, einen Lehrer, sie stritt mit Manolis, ihrem Schüler, schlug einen Stock auf seine Hände, zehnmal links, zehnmal rechts, 20 Mal, 30 Mal, weil er sich weigerte, das Rechnen zu lernen, Addition, Subtraktion, Multiplikation, wo doch auf den hintersten Seiten des Rechenbuchs die Ergebnisse längst errechnet waren.

Lieber setzte er, wenn die Mutter es nicht sah, über die flachen Dächer des Dorfes, sprang hinweg über die Gassen von Aperathos, das kam mir zugute, als ich später die Fahne der Nazis stahl, aber eigentlich wolle er darüber nicht reden, nur dies, sagt Manolis und fährt sich durchs lange weiße Haar, nur dies eine möchte er heute erzählen, wie er damals, in der Nacht vom 30. Mai 1941, einen Monat nur, nachdem die Nazis in Athen eingezogen waren, wie er also, noch bei den Eltern wohnend, nach Hause gekommen sei und die Mutter, ihre Augen voller Glut, auf der Treppe stand, ihn am Kragen packte und in die Küche zog, Manolis, elender Dummkopf, wo warst du so lange?, niemand darf auf die Straße!, da öffnete ich meine Jacke, mein Hemd, und zeigte Mama ein Stück des Hakenkreuzes, Mama schwieg, sie umarmte mich, küsste mich, nun geh ins Bett, sagte sie. Meine Mutter, obwohl sie mich schlug, bis ich an die Universität ging, war eine gute und kluge Frau, sie verstand alles, und als am Morgen mein Stiefvater fragte, wo ihr Ältester so lange gewesen sei, sagte sie, geh auf den Balkon und schau hinauf zur Akropolis.

Nie mehr sprachen wir darüber, Mama und ich, nie mehr.

Gott gibt es nicht

Manolis Glezos wurde am 9. September 1922 in Aperathos auf Naxos geboren.
Manolis Glezos wurde am 9. September 1922 in Aperathos auf Naxos geboren.

© Wassilis Aswestopoulos

Gauck, ein anständiger Mann

Manolis, man sagt, der Diebstahl der Fahne erst habe den Widerstand der Griechen entfacht?

Nicht nur der Griechen, sagt Manolis, sondern aller Völker, die unter Hitler litten, und übrigens, als der deutsche Präsident hier war, der Gauck, im März 2014, und um Verzeihung bat für all das, was die Nazis uns angetan hatten, da fragte ich ihn, Herr Präsident, hatte Deutschland, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, mehr Einwohner als vor dem Krieg?, antworte mir ehrlich.

Er schwieg.

Herr Präsident Gauck, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, hatte Deutschland dann mehr Einwohner als noch vor dem Krieg?

Er schwieg.

Und ich sagte, nach dem Krieg hattet ihr mehr Einwohner als davor, auch Frankreich hatte mehr, die Sowjetunion. Das einzige Land in Europa, das nach dem Krieg weniger Leute hatte als vor dem Krieg, ist Griechenland, so viele sind gestorben, verhungert, so viele wurden erschossen, verschleppt, an Bäume gehängt, 1 106 922 Menschen, es gibt keine Familie in diesem Land, die niemanden verlor durch deutsche Hand, vergiss das nie.

Und Gauck, ein anständiger Mann, nickte.

Als ihre Fahne verschwunden war, sprachen die Nazis über die Täter, wer immer sie waren, das Todesurteil, damit hatte ich gerechnet, denn wir, Apostolos und ich, waren uns bewusst, dass das, was wir taten, einmalig war, ein historischer Augenblick, der Diebstahl der deutschen Fahne war mein erster Akt des Widerstandes.

Die Sekretärin, Reifen und Bänder an beiden Händen, setzt ihm einen Teller vor, darauf eine Banane, sie finde die Studie nicht.

Welche Studie?

Dass man am Tag nur eine Sekunde zu arbeiten bräuchte.

Die ist aber erst zehn Jahre alt, sagt Manolis und schiebt den Teller weg.

Deine schönste Kindheitserinnerung?

Er lacht und bleckt die Zähne, hält sich mit beiden Händen an der Kante des Tischs.

Dass ich den Polizisten in unserem Dorf, den alle hassten, mit einem Stein bewarf, und dass der Stein sein Bein traf, und dass ich, als der Gendarm mich verfolgte, schneller war als er.

Griechische Kollaborateure hielten ihn monatelang gefangen

Die Mutter gebar zwei weitere Kinder, ein Mädchen, einen Knaben, Manolis hielt, wenn Mama ausholte, die Hände hin und grinste. Als er zwölf war, schrieb er Gott einen Brief, wer bist du überhaupt, dass du Kinder sterben lässt? 1935 zog die Familie nach Athen, der Stiefvater, mit einem Stipendium bedacht, reiste nach Deutschland und Frankreich, ließ seine Frau in Metaxourgio, dem ärmlichen Norden der Stadt.

An Samstagen, während der Ferien arbeitete Manolis, nun Gymnasiast, beim bekannten Apotheker Bakakos im Labor, Platia Omonia, dort kam ich, lacht er laut, mit Chemikalien in Kontakt, die mir später dienlich waren, ich erzähle dir nun eine Geschichte, die noch keiner kennt, am 7. Februar 1944, ich war unterwegs an der Platia Elefteria, verhafteten mich griechische Kollaborateure und hielten mich gefangen, siebeneinhalb Monate, sie fesselten mich an ein Bett, schlugen mit Stöcken auf meine Beine, damals wusste noch niemand, dass ich der Fahnendieb war, und irgendwann brachten sie mich ins Gefängnis von Syngrou, 800 Kriminelle waren dort, Betrüger, Schelme, Verbrecher, und ab und zu kamen Deutsche, sie sagten, wer freiwillig bei der Waffen-SS mitmache, dem werde die Strafe erlassen, ich aber schrie die Leute an, ihr seid keine Griechen, ihr seid, wenn ihr den Nazis zur Hand geht, Verräter an unserem Volk, und schließlich verschworen sich die Gefangenen gegen ihre Wärter, aber was will ich dir erzählen?

Ich glaube an das Gute im Menschen - und an das Schlechte

Wahrscheinlich, sagt die Rote, die Geschichte von den Säuren.

Jedes Gefängnis hat ein Loch, irgendwo und irgendwie, also habe er, Manolis, sich Chemikalien bringen lassen, geeignet, Metall aufzulösen, Säuren, aus dem Wachs einer Kerze bastelte ich kleine Kelche, knetete sie an die Stäbe des Fensters, goss die Säuren hinein, bis das Metall eines Tages dünn und brüchig war, doch als er begonnen habe, das Gitter aus dem Stein zu drücken, sei ein anderer in Panik geraten und habe geschrien, Wächter kamen gerannt, Einzelhaft der vierten Klasse, also in Ketten und ohne Licht, von oben tropfen dir ständig Pisse und Scheiße auf den Kopf, doch schließlich, weil alle Gefangenen lärmten, brachte man mich zurück in eine Zelle, und Monate später, am 21. September 1944, tat ich so, als platzte mir der Darm, ich schrie vor Schmerz, wand mich, sie riefen ein Taxi und luden mich hinein, zwei Wärter vorn, zwei hinten, ich in ihrer Mitte, die Fahrt zum Krankenhaus, doch auf der Brücke über den Ilissos, wie abgemacht, stehen plötzlich Kameraden der ELAS, Ethnikos Laikos Apelevtherotikos Stratos, der Volksbefreiungsarmee, deren Teil ich war, sie reißen die Türen auf, den Wärtern, links und rechts, schlage ich die Ellenbogen ins Gesicht, dann rennen wir los, verschwinden in der Nacht – was willst du wissen?

Ja, ich glaube an das Gute im Menschen. Und an das Schlechte.

Nein, Verzweiflung kannte ich nie, Verzweiflung kenne ich nicht.

Gibt es Gott?

Nein.

Am 27. April 1941 wehte das Hakenkreuz auf der Akropolis

Irgendwann, 1939, Manolis Glezos war 17, saß ein Knabe aus Rhodos in der Klasse und erzählte, italienische Soldaten hielten seine Insel besetzt, seit Jahrzehnten bereits, und würden verbieten, in der Schule griechisch zu sprechen. Manolis sammelte vier Freunde, zu fünft beschlossen sie die Befreiung der Inseln, unterschrieben den Schwur mit ihrem Blut. Mussolinis Truppen griffen das griechische Festland an, 1940, Manolis wollte zur Armee, war zu jung, als Grieche und Patriot, sagt Manolis, habe er sich, noch nicht einmal 20, dem Finanzministerium verdingt, um dort die Arbeit eines Beamten zu tun, der nun, im Krieg gegen Italien, unter Waffen stand, Steuereintreiber sei er gewesen, so hartnäckig und erfolgreich, dass man ihn im Amt behalten wollte, aber ein Diener des Staates, mein Gott, das wollte ich nie sein.

Die Griechen drängten die Italiener endlich nach Albanien zurück, Deutschland, mit Italien im Bund, kam zu Hilfe, am Abend des 27. April 1941 wehte das Hakenkreuz auf der Akropolis.

Drei Nächte später, ausgerüstet mit Laterne und Messer, zwängten sich Manolis Glezos und Apostolos Santas in eine enge steile Höhle, die zur Akropolis führt, zogen lautlos die deutsche Flagge ein, drückten sich wieder in den Schacht, zerschnitten das Tuch und steckten die Teile unters Hemd, gingen dann, falls die Deutschen Hunde auf ihre Spur ansetzten, durch die Odos Ermou, die tagsüber von Tausenden begangen wird, aber hinter der kleinen Kirche Kapnikarea steht ein Polizist, wer seid ihr?, woher kommt ihr?, ich sage, wir waren an einem Fest, der Polizist fragt, warum sind eure Kleider so schmutzig?, ich sage, weil wir gerannt und gestürzt sind, der Polizist verlangt unsere Ausweise, ich habe keinen, nenne ihm meinen Namen, er lässt uns gehen, und viele Jahre später, abgedruckt in einem Magazin der Polizei, sagte genau dieser Polizist, er habe, als am 31. Mai 1941 auf der Akropolis keine Nazifahne mehr zu sehen gewesen sei, nie daran gezweifelt, die Diebe zu kennen, doch verraten habe er sie nie –

Was war dein größter Fehler?

Am 27. April besetzten die Nazis Athen und hissten auf der antiken Festung die Hakenkreuzfahne. Drei Tage später war diese verschwunden.
Am 27. April besetzten die Nazis Athen und hissten auf der antiken Festung die Hakenkreuzfahne. Drei Tage später war diese verschwunden.

© ullstein bild

Manolis?

Das war ein historischer Moment, mein erster Akt des Widerstandes, und ich wusste, weitere würden folgen –

Manolis?

Ich bin noch nicht fertig, die Akropolis ist das Symbol der Zivilisation und der Humanität, das Sinnbild höchster menschlicher Werte, lärmt Manolis, niemand habe das Recht, die Akropolis zu entweihen, und Europa sei eine Geburt Griechenlands, kein Europa ohne Griechenland, und stünde die Fahne der EU in seinem Dorf, eigenhändig holte er sie von der Stange, am heiterhellen Tag.

Er zieht den Teller zu sich, schält die Banane, es ist zu heiß hier drin. Die Frau öffnet das Fenster zum Hof, Wind fährt in den Stapel, den Manolis vor sich hat, wirbelt die Papiere auf, Manolis Glezos has been nominated as Honorar Citizen by municipalities: Kalamaria, Leros, Gastouni, Korfu, Domnista, Arkalochorio, Trikala, Kantanos Milos Estiaiotidas, Egaleo, Lefkimi, Anthemia, Kos, Herakleidon High, Sykea, Galatsi, Sivritos, Curium and Kofina, Viannos, Ag. Anargiron Attika, Markopoulo and Chalkida.

Furthermore Manolis Glezos is found at the side of the Cypriots in Cyprus, the English miners in Wales, the Palestinians in Palestine, the Serbs in Belgrade, Sarajevo and Pale, the Iraquis in Baghdad, the Sahrawi in the Western Sahara, the Armenians in Armenia and the protesters in Genoa against the New World Order.

Er wollte Griechenland verlassen und wurde verhaftet

Was war dein größter Fehler?

Im März 1942 schlich Manolis im Hafen von Keratsini auf ein Schiff, das nach Ägypten auslaufen sollte, zwei Freunde hatten ihn zur Flucht überredet, Manolis, du hast bloss Schiss, uns zu begleiten!

Ich doch nicht!

Drei Tage lang lagen sie unter Säcken versteckt, tranken nichts, aßen Körner, bis ein Packer sie fand, 24. März 1942. Gestapo. Averoffgefängnis, Leoforos Alexandras, Athen. Soldaten befahlen sie unter Duschen, brausten sie mit kaltem Wasser, minutenlang, dass ich mich damals hinreißen ließ, Griechenland zu verlassen, war wohl der größte Fehler meines Lebens.

Als die Mutter von der Verhaftung ihres Ältesten erfuhr, verbrannte sie die Reste der Fahne. Am 20. April 1942, zur Feier von Hitlers Geburtstag, schickten die Deutschen Manolis nach Hause, er spuckte Blut, konnte kaum reden, der Arzt nahm die Mutter zur Seite und sprach von Tuberkulose, ich fürchte, in zwei, drei Tagen ist Manolis tot.

Und dann? Wie ging es weiter?

"Deutsche Unternehmen, die damals kamen, schulden uns Geld"

Während drei Monaten lag Manolis fiebrig im Bett, ging endlich, als er wieder rennen konnte, an die Wirtschaftsuniversität, schloss sich heimlich der EAM an, Nationale Befreiungsfront, Ethniko Apelevtherotiko Metopo, und lernte das Handwerk eines Partisanen, setzte deutsche Lastwagen in Brand, klebte nachts Plakate in Dörfer und Städte, ich tat, was getan werden musste, aber getötet habe ich nie, zumindest nicht bewusst, getötet haben vor allem die anderen, die wir nicht gerufen hatten, Familien haben sie ausgelöscht, Kinder, Frauen, Schwangere, 1770 Dörfer haben sie niedergebrannt, 400 000 Häuser zerstört, weshalb?, wozu?, Griechenland verdient Gerechtigkeit, Griechenland dürstet danach, Deutschland schuldet uns 162 Milliarden Euro für das, was es uns angetan hat.

Deutschland schuldet uns 162 Milliarden Euro für das, was uns angetan wurde. Zahlen sollen deutsche Unternehmen, sie haben sich bereichert.

Manolis Glezos vor drei Jahren

Nicht vom deutschen Volk, das für die Verbrechen der Nazis nichts kann, verlangen wir dieses Geld, sondern von den deutschen Unternehmen, die damals nach Griechenland kamen und sich bereicherten, 162 Milliarden sind nicht viel, doch Deutschland behauptet, es schulde uns nichts, sogar Gauck, als er vor zwei Jahren hier war, behauptete das. Deutschland sagt, es habe längst bezahlt, gibt es einen Beleg dafür?, gäbe es einen Beleg dafür, würde Deutschland ihn vorlegen –

Manolis!, knurrt die Pflegerin.

Ich bin noch nicht fertig, die Ansprüche, die Griechenland stellt, sind nicht sehr hoch, sagt Manolis aus hohem hölzernen Stuhl, sie entsprächen nur einem Drittel dessen, was Deutschland der Umzug von Bonn nach Berlin gekostet habe, als einziges Land in Europa sei Griechenland nie entschädigt worden, bis zum heutigen Tag hätten Griechenland und Deutschland keinen offiziellen Friedensvertrag geschlossen, und weißt du, weshalb?, weil Deutschland dann gezwungen wäre, endlich alle Schulden zu bezahlen, die während und aus der Besatzung entstanden, es geht nicht um Geld, es geht um Gerechtigkeit, will die Merkel uns dafür bestrafen, dass wir gegen die Besatzer kämpften?

Einen Glezos bestraft man nicht

Manolis, du bist müde, sagt die Rote.

Ich bin nicht müde, sagt Manolis, ich bin wütend, nächste Frage.

Verhaftung am 21. April 1943, diesmal durch Italiener. Sie ketteten Manolis an ein Bett, schlugen mit Stöcken auf seine Schienbeine ein, aber nach dem Krieg, beschwor Manolis den Bewacher, machen wir Schwerter zu Pflugscharen.

Verhaftung am 7. Februar 1944 durch griechische Kollaborateure, seine Hände auf den Rücken gefesselt, brachten sie Manolis in einen Raum, wenn du dich bewegst, erschießen wir dich. Manolis, nun 22 Jahre alt, drehte sich zum Wärter, Kamerad, falls du glaubst, ich sei dein Gefangener, dann irrst du, ich bin frei, du bist der Sklave, weil man dich erschießt, wenn du nicht gehorchst, ich aber habe die Freiheit, mich zu entscheiden, ob ich sterben will.

1944 zogen die Deutschen aus fast allen Teilen Griechenlands ab, der Weltkrieg wurde zum Bürgerkrieg, Linke gegen Rechte, ELAS gegen EDES, die einen unterstützt von Jugoslawien, die anderen von den USA und Großbritannien, im Dezember 1944, nach der Schlacht um Athen, die wir verloren hatten, zogen wir Richtung Marathon, ein Kamerad hatte keine Schuhe mehr, er hinkte, wurde ständig langsamer, plötzlich waren britische Flieger über uns, wir rannten in die Wälder und rannten und rannten, ein Offizier schlug den Mann ohne Schuhe, weil er zu langsam war, ich hielt ihm, dem Major, meine Pistole an den Kopf, tu das nie wieder, Kameraden schlägt man nicht.

Wurdest du bestraft?

Einen Glezos bestraft man nicht.

Das Volk hat ihn gerettet

Glezos mit seiner Familie im Jahr 1967.
Glezos mit seiner Familie im Jahr 1967.

© AFP

Verhaftung am 3. März 1948, Manolis war Chefredakteur der kommunistischen Zeitung Rizospastis, 28 Mal stand er vor den Richtern, zwei Mal wurde er wegen Pressedelikten zum Tod verurteilt, und in der Nacht, die er für seine letzte hielt, vom 21. auf den 22. März 1949, schrieb er ein Gedicht: Gott bewahre! / Im Meer meiner Erinnerung wehe du Nordwestwind der Kykladen / Die Unwolken, das Dunkle, die Stürme verjage. Doch die Proteste waren so groß und heftig, dass man das Todesurteil in lebenslängliche Haft wandelte, die Telegramme derer, die zu mir hielten, füllten Schubkarren, das Volk habe ihn gerettet, sagt Manolis am runden Tisch, selbst Rechte hätten sich gewehrt für ihn, alle Mönche von Athos, sein ganzes Dorf, der Erzbischof von Canterbury, General de Gaulle, der die griechische Regierung bat, den ersten Partisanen Europas zu schonen –

Pause!, sagt die Rote.

Ich brauch keine Pause, sagt Manolis.

Die Welt ist nicht die geworden, die du dir wünschst. Hast du dir je die Frage gestellt, ob dein Kampf sich lohnte?

Nein.

Nichts. Weil ich meine Leiche der Wissenschaft vermache, den Studenten, damit sie etwas zum Üben haben. Und was dann übrig bleibt, wird verbrannt und in der Ägäis verstreut.

Er war insgesamt elf Jahre und vier Monate lang im Kerker gewesen

Am 9. September 1951, zwei Jahre nach dem Bürgerkrieg, wählte das griechische Volk Manolis Glezos, obwohl im Gefängnis, ins nationale Parlament, am 16. Juli 1954, vom Präsidenten begnadigt, verließ er den Kerker, wurde Sekretär der EDA, Vereinigung der Demokratischen Linken.

Verhaftung wegen Spionage, 5. Dezember 1958, die sowjetische Post gab eine Briefmarke heraus, darauf Manolis’ Gesicht, hinter ihm die Akropolis, Freiheit für den Helden des griechischen Volks, Manolis Glezos!

Verhaftung am 21. April 1967, griechische Generäle, die Obristen, schossen sich an die Macht. Nachts um zwei holten Soldaten Manolis Glezos aus dem Bett, brachten ihn, noch im Nachthemd, nach Goudi, dann nach Pikermi, man verbannte ihn in ein Fischerdorf auf der Insel Leros, schließlich ins Konzentrationslager von Oropos, 50 Kilometer neben Athen, wenn er richtig rechne, sei er insgesamt elf Jahre und vier Monate lang im Kerker gewesen und viereinhalb Jahre im Exil.

Es hat sich gelohnt, jede Stunde, jede Sekunde.

Im Frühsommer 1982 stellten die Männer des Vereinten Nationalen Widerstandes 1941-1944 eine bronzene Tafel auf die Akropolis, nicht weit vom Mast, an dem die deutsche Fahne hing, in der Nacht des 30. Mai 1941 rissen die Patrioten Manolis Glezos und Apostolos Santas die Flagge der Nazibesatzer vom heiligen Felsen.

Die mich mögen, sagt Manolis, verkürzen mein Werk auf diese eine dunkle Nacht, und die mich hassen, leugnen, dass ich überhaupt auf der Akropolis war.

Was schmerzt mehr?

Bitter ist beides.

Tsipras ließ sich von den roten Teppichen blenden

Dem jungen Führer von Syriza, der Koalition der Radikalen Linken, Alexis Tsipras, gefiel es, sich an Manolis’ Seite zu zeigen, Griechenland, nach Jahrzehnten der Misswirtschaft, stand vor dem Bankrott, 2010, und musste, falls es zu neuem Geld kommen wollte, sparen und verkaufen, Zehntausende fürchteten um ihre Renten und strömten auf Plätze und Straßen, schimpften gegen die Europäische Kommission, gegen die Europäische Zentralbank und den Internationalen Währungsfonds, die sogenannte Troika.

Manolis, die rechte Faust gereckt, stand in der ersten Reihe, Arm in Arm mit Mikis Theodorakis, dem großen Komponisten. Am 25. April 2014, auf der Liste von Syriza, wählten die Griechen Manolis ins Europäische Parlament nach Straßburg, kein Kandidat vereinte mehr Stimmen auf sich als er, fast eine halbe Million, Manolis Glezos, nun 91, war der älteste Mensch im Saal, er versprach, nur ein Jahr zu bleiben.

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Und Monate später, Ende Januar 2015, gewann Syriza die Wahlen, Tsipras, der versprochen hatte, die Auflagen der Geldgeber nie zu erfüllen, gab, nun Ministerpräsident, den Geldgebern und ihren Auflagen neue Namen, aus der Troika wurden Institutionen, aus Gläubigern Partner, das war alles, sagt Manolis, nichts als Lüge und Betrug am Volk der Griechen. Enttäuscht von seiner Welt holte er zu einem offenen Brief aus, 20. Februar 2015, wir tauften das Fleisch in Fisch um, ich bitte um Verzeihung, dass ich an dieser Illusion mitgewirkt habe, zwischen dem Sklaven und dem Unterdrücker kann es keinen Kompromiss geben, Tsipras, seufzt Manolis, lässt sich von den roten Teppichen blenden, über die er tanzt, seit er Macht hat.

Er möchte im eisernen Bett von einst sterben

In seiner letzten Rede in Straßburg, im Juli 2015, verfiel Manolis Glezos, Vater von zwei Kindern, Großvater von vier Enkeln, ins antike Griechisch und hielt sich, gestützt auf Euripides, an Halbgott Theseus, der Athen einst zur freien Stadt ausrief – frei von Tyrannen, regiert von vielen.

Drei Uhr ist vorbei, schimpft die Sekretärin.

Noch eine Frage, sagt Manolis, das Gesicht plötzlich alt und fahl.

Wo möchtest du sterben?

Er schweigt und zupft den weißen Schnauz.

Im eisernen Bett von einst – aber ich kann hier nicht weg.

Noch nicht.

Die Frau, rotes Haar, hilft ihm aus dem Stuhl, führt ihn zur Toilette, er habe etwas vergessen, sagt er, löst sich aus ihrem Arm und setzt sich wieder an den Tisch, wühlt stumm in den Papieren, eine Minute lang, vielleicht zwei, und findet endlich, was er sucht, hier, Manolis weint, das war in seiner Hose, 10-5-44, geliebte Mutter, ich küsse Sie, ich grüsse Sie, heute werde ich erschossen, fallend für das griechische Volk. Glezos Nikos.

Mein Bruder.

Erwin Koch

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