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Der Himmel. Üppige Pflanzen sind Balsam für die Menschenseele, Futter fürs Tier.

© Stephan Zabel/Getty Images/iStockphoto

Grünflächen in der Stadt: Rettet die Vorgärten!

Schotter statt Kräutern: Zwischen Pforte und Haus entstehen Steinwüsten. Doch so gleicht der Vorgarten einer Kriegserklärung. Ein Plädoyer für mehr Grün vor der Hütte.

Oh! Hat da jemand dem Vorgarten das Kleid gestohlen? Und die Seele gleich mit? Kein Strauch, kein Baum und keine Hecke, nicht mal ein winziges Gänseblümchen, an dem sich der Passant erfreuen könnte. Unfreundliche Steinwüsten machen sich in Deutschland breit. Und wehe, es fliegt ein Blättchen von Nachbars Baum herüber. Dann gibt’s sofort Streit. Wenn schon Ödnis, dann bitte makellos.

Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit, lautet ein berühmter Spruch von Karl Valentin. Das Gleiche könnte man vom Garten sagen. Die Mühe wollen sich etliche Menschen sparen. Also lassen sie sich immer häufiger den Platz vor dem Haus zupflastern, ihn mit Kiesel und Schotter zuschütten, sperren Steine in Käfige als Heckenersatz. Aus frischem Grün wird – vermeintlich – pflegeleichtes Schwarz-Grau.

Mit empfindlichen Folgen, wie man gerade in extremen Wetterzeiten wie diesen erlebt. Durch den Stein wird es noch heißer als heiß, fehlt doch die natürliche Abkühlung durch den Verdunstungseffekt der Blätter, fehlt der Schatten der Bäume. In versiegelten Boden kann Regenwasser nicht mehr versickern, bei heftigen Schauern ist die Kanalisation schnell überfordert, es kommt zu Überschwemmungen. Und Vögel und Insekten verschwinden, da sie nichts mehr zu beißen haben, keinen Platz zum Nisten finden.

Die Passanten sollten auch etwas davon haben

Rettet die Vorgärten! So heißt eine vom Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau 2017 ins Leben gerufene Initiative. Nicht ganz uneigennützig, schließlich leben die Mitglieder des Vereins davon, dass Menschen sich von ihnen Büsche und Bäume setzen lassen. Und dennoch haben sie recht.

Vorgarten, für viele klingt das nach Spießer und Gartenzwerg. Dabei ist er eine Errungenschaft, für die man dankbar sein sollte. Unabhängig von den Besitzverhältnissen ist der Vorgarten ja ein halböffentlicher Raum. (Wenn er sich nicht, was in Berlin eher selten vorkommt, hinter hohen Mauern versteckt.) In seiner besten Form ist er eine freundliche Geste Nachbarn und fremden Passanten gegenüber, ein Anblick, an dem jeder sich erfreuen kann. In seiner versteinerten Form dagegen gleicht der Vorgarten eher einer Kriegserklärung.

Dabei dient er doch als Puffer und Bindeglied zugleich zwischen Straße und Haus, privatem und städtischem Raum. Als das Kopenhagener „Noma“, mehrfach zum besten Restaurant der Welt gekürt, vom Erfolg überwältigt wurde und Neugierige den Essenden auf die Teller stierten, ließ Eigentümer René Redzepi einen Vorgarten anlegen, um den Gästen die Gaffer vom Leibe zu halten – und den Vorbeikommenden dennoch etwas zu bieten. Wenn sie schon keinen der raren Plätze ergattern oder sich den Restaurantbesuch erst gar nicht leisten konnten, sollten sie durch diesen nordischen Gemüsegarten wenigstens etwas von der Philosophie des Hauses sehen und schnuppern können.

Angeberisch oder lässig, üppig, bunt?

In der Stadt ist der Vorgarten eine relativ junge Erfindung. Er wurde bald als Notwendigkeit in den rasant wachsenden Städten im Zeitalter der Industrialisierung erkannt. Als die Berliner Landhauskolonie Friedenau Ende des 19. Jahrhunderts angelegt wurde, durften die Häuser nicht direkt an die Straße gestellt werden; üppige sechs Meter sollte der Vorgarten die Wohnungen von den Bürgersteigen trennen. Licht und Luft sollten sie in die Gegend bringen, das Wohnen gesünder und die Menschen glücklicher machen. In jeder Beziehung, auch ästhetisch – die Vorgärten mit ihren schmiedeeisernen Zäunen dienten der Zierde.

Was im 21. Jahrhundert nicht immer so leicht zu erfüllen ist, wollen doch neben den Blumen auch Mülltonnen, Fahrrad und Auto untergebracht werden. Und nicht wenige Passanten meinen, für ihren Abfall müsste da ebenfalls noch Platz sein. Also rein mit dem Pappbecher.

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Als Visitenkarte wird er gern beschrieben. Tritt er repräsentativ bis angeberisch auf oder lässig, üppig, bunt? Das Bild der Visitenkarte stimmt und stimmt nicht. Denn oft dürfen oder sollen die Bewohner sich hier gar nicht austoben und ausdrücken, setzen ihnen doch Vorschriften enge Grenzen. Schon die Friedenauer des 19. Jahrhunderts mussten sich an baupolizeiliche Verordnungen halten.

Der soziale Druck des manikürten Rasens

Gemeinsinn vor Eigensinn, heißt häufig die Devise. Man muss nur mal durch die Vororte der USA fahren. In Suburbia sieht ein „front yard“ wie der andere aus: lauter platt gemähte, meist mit Pestiziden vollgesprühte, Wassermassen schluckende Rasen neben der Garagenzufahrt rollen da zur Straße runter. Anstelle von Blumen wachsen hier höchstens Fähnchen, mit denen man seine politische Gesinnung kundtut, oder Halloweenkürbisse. Zäune und Hecken sind oft verboten. Denn so sehr die Amerikaner auf ihre individuelle Freiheit pochen, wenn es etwa um den Besitz von Waffen geht, beim Vorgarten ordnet man sich der Gemeinschaft unter. Zäune gelten als Zeichen von Egoismus. Sich nicht abzuschirmen und genau den gleichen Rasen wie der Nachbar zu haben, wurde schon im 19. Jahrhundert als Ausdruck der Demokratie verstanden. Der soziale Druck des manikürten Rasens ist groß. Denn in den USA ist ein Haus nicht nur ein Zuhause, sondern mehr noch Immobilie, deren Wert nicht gemindert werden darf.

Natürlich provoziert ein solch starres Regime der Gleichförmigkeit, dagegen aufzubegehren. Fritz Haeg zum Beispiel. Der amerikanische Künstler-Architekt hat seine Landsleute mit verschiedenen Aktionen animiert, ihren Rasen aufzurollen und in einen lebendigen Garten mit Obst, Gemüse und Kräutern zu verwandeln. War nicht schon das Paradies ein essbarer Garten Eden? Sein Buch „Edible Estates“ beschreibt er als „Attack on the Front Lawn“.

Wobei nicht nur in den USA Vorgärten ideologisch aufgeladen sind. Erstaunlich, wie sich die verschiedenen politischen Systeme dabei ähneln. Einer Broschüre der Stadt Berlin aus den späten 1930er Jahren kann man entnehmen, dass Vorgärten für die Nationalsozialisten „geistige Irrungen einer vergangenen Zeit“ waren. Deren Individualismus wurde als „engstirniger Separatismus“ und „überheblicher Besitzerdünkel“ verdammt.

Kein Platz ist keine Ausrede

Die Hölle. Eine Steinwüste vor dem Haus ist keineswegs pflegeleicht. Unkraut lässt sich in solchen Anlagen nur schwer beseitigen.
Die Hölle. Eine Steinwüste vor dem Haus ist keineswegs pflegeleicht. Unkraut lässt sich in solchen Anlagen nur schwer beseitigen.

© Julia Prosinger

Auch die Sozialisten beschäftigten sich damit. Auf dass niemand auf die Idee komme, es handele sich womöglich um eine bürgerliche Angelegenheit, setzte ein Büchlein zum Thema aus dem VEB Deutscher Landwirtschaftsverlag anno 1981 gleich ein Zitat von Marx an den Anfang: „Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“ Für die beiden Autoren gehören Vorgärten zur kulturvollen sozialistischen Umweltgestaltung. Saubere Vorgärten. Für ihren Geschmack ließen „Gestaltung und Pflege oft zu wünschen übrig“. Sie rufen zur kollektiven Gartenverantwortung und zum Entrümpeln auf, weg mit Märchenwiesen, Teichlandschaften und Tuffsteingrotten, weg mit repräsentativen Blautannen und abgezirkelten Blumenbeeten. Flieder, Schneeball und Liguster dagegen werden gern gesehen, Individualität sogar als Chance betrachtet: Gerade in den gleichförmigen Plattenbausiedlungen sehen die Autoren mit der abwechslungsreichen Gestaltung die Möglichkeit der Unterscheidung. Auf dass man weiß, wo man überhaupt zu Hause ist.

Wie groß die Sehnsucht nach dem Vorgarten ist, aber auch die Bereitschaft, sich darum zu kümmern, zeigen die zahlreichen Baumscheibenbepflanzungen in Berlin. Grün tut der Seele gut. Was jeder aus eigener Erfahrung weiß, lässt sich inzwischen mit zahlreichen Studien belegen. „Menschen, die in der Nähe von Grünflächen wohnen, sind weniger anfällig für Depressionen und können sich besser konzentrieren“, sagt Mazda Adli, Berliner Psychiater und Stressforscher an der Charité.

Das muss gar kein großer Park sein. Auch ein kleines, informelles Grün fördert die Lebenszufriedenheit, die seelische Gesundheit. Jedes bisschen hilft, vom blühenden Balkonkasten über die Hecke bis zum Taschenpark, selbst eine verwilderte Brache, wie Adli, Autor des Buchs „Stress and the City“, sagt. Und Grün kombiniert mit Wasser hilft noch mehr. Zu Recht fordert Gil Penalosa, kanadischer Aktivist und Advokat der lebendigen, vielfältigen „Stadt für alle“, dass eine Metropole Grün in allen Größen braucht, „S, M, L und XL“.

Wozu brauchen wir eigentlich Elefanten?

Kein Platz ist daher auch keine Ausrede. Der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal fand, die Größe eines Vorgartens sage so wenig über dessen Schönheitspotenzial aus wie die Länge bei einem Gedicht: Ob zehn oder 100 Zeilen, Poesie ist Poesie. Schon ein paar Pflanzen in Terrakottatöpfen wecken Freude. Und wenn man nicht in die Breite gehen kann, so doch in die Höhe. Dann lässt man eben Blauregen, Rosen oder Efeu Wände und Spaliere hochklettern oder Balkone runterranken, füllt einen Hängekorb mit Petunien. Großstadtromantik. Wem es an Fantasie mangelt: Gerade ist im Becker Joest Verlag ein „großes Ideenbuch“ zum Thema erschienen, „von repräsentativ bis pflegeleicht“, wie es im Untertitel heißt.

Man kann sich aber auch einfach an die Faustregel halten: Was gut für Tiere ist, für Bienen und Nachtigallen zum Beispiel, tut auch dem Menschen gut, wie Katrin Koch vom Berliner Naturschutzbund (NABU) erklärt. „Wir reden immer von Umwelt, aber das ist eigentlich Quatsch: Wir sind doch Teil der Natur.“ Fruchttragende Büsche und Stauden sind besonders schön anzuschauen, Brombeersträuche geben Mensch und Tier Futter. Die Unterhaltung gibt’s gratis dazu. Wenn ein Haselnussstrauch Eichhörnchen anlockt, kann man sich darüber amüsieren, wie die hin und her rennen. Auch an winterharten Pflanzen laben sich zwei- und vierbeinige Wesen, die einen mit dem Schnabel, die anderen mit dem Auge.

Steingärten dagegen haben keinem Lebewesen was zu bieten. „Und wenn Tiere verschwinden, gehen ganze Lebensräume verloren“, sagt Katrin Koch. Neulich hat jemand sie gefragt, wozu wir überhaupt Elefanten brauchen. Ihre Antwort: „Ja, wozu brauchen wir denn Sie?“ Für Koch ist es keine Frage, dass der Mensch das Grün dringend benötigt. „Da kommt der Affe in uns durch. Ohne Natur gehen wir zugrunde.“

Unkraut zupfen tut den Menschen gut

Vorgärten sind auch deshalb gesund, weil sie die Kommunikation anregen, beiläufige Begegnungen fördern. Und solche Gespräche sind, wie Studien gezeigt haben, fürs persönliche Wohlbefinden des Großstadtmenschen ebenso wichtig wie Familie und Freunde.

Psychiater Mazda Adli berichtet von einer Untersuchung in Baltimore, wonach Menschen in Straßen mit besonders vielen Bäumen ein höheres Maß an gegenseitiger Unterstützung an den Tag legen. Gerade, erzählt er, kam er im Kreuzberger Graefekiez an einer Frau vorbei, die den Schlauch aus dem Haus gezogen hatte, um einen Baum zu gießen, und sich dabei mit Vorbeikommenden unterhielt. Das erlebt auch, wer im Vorgarten Unkraut zupft oder Rosen beschneidet. „Soziale Isolation dagegen“, so Adli, „ist ein entscheidender Krankmacher in der Großstadt.“ Seinen Patienten empfiehlt er, vor die Haustür zu treten, sich unter freiem Himmel zu bewegen. Manchmal erzählen sie ihm auch, wie gut ihnen Gartenarbeit tut.

Als Berliner ist man verwöhnt, so viel Grün wie hier findet man nur in wenigen Großstädten. Aber die Begehrlichkeiten wachsen, die öffentlichen Räume schrumpfen. Mazda Adli rät, sorgsam mit diesem Schatz umzugehen. „Wir werden ihn noch brauchen.“

Nicht jeder kann mit der Sense umgehen

Wie jeder weiß, der an einer Steinwüste vorübergeht. Die übrigens keineswegs so pflegeleicht ist: Laub und Unkraut lassen sich in solchen Anlagen nur schwer beseitigen. Richtig angepflanzt, erklären Landschaftsgärtner, machen heimische Stauden weniger Arbeit. Und Hugo von Hofmannsthal hatte eine Idee, wie man einem seelenlosen Garten auf die Sprünge hilft: einfach verwildern lassen.

Das sagt im Prinzip auch Katrin Koch, wobei die NABU-Mitarbeiterin pragmatisch und tolerant an die Sache rangeht. Sie mag nicht meckern über Menschen mit kurz geschorenem Rasen, selbst wenn dieser ökologisch wenig hergibt, will ihn denen, die darauf spielen wollen, nicht wegnehmen. Schon weil sie weiß, dass nicht jeder Großstädter mit der Sense umgehen kann. Das aber muss man, wenn man statt des öden Rasens eine bunte Langgraswiese haben will, die ihr so am Herzen liegt, wo Margeriten und hübsche Gräser gedeihen. Für den Anfang empfiehlt sie kleine Lockerungsübungen, Dreckecken. Ein Stückchen Rasen zur Wiese wachsen, die Stauden bis zum Frühjahr stehen lassen, sich das Beschneiden eines Strauchs ersparen. „Man muss nicht immer was machen, man kann auch was lassen.“ Und es sich stattdessen im Liegestuhl gemütlich machen.

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