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Blickwinkel. Immer aus derselben Ecke hat der kanadische Künstler das Zimmer gemalt.

© Abb. Ausschnitt aus Richard McGuire, "Hier"/DuMont Verlag

"Hier" von Richard McGuire: Zeitreise im Wohnzimmer

Wir sehen nur ein Zimmer – Richard McGuire verbindet darin die Menschheitsgeschichte mit dem Zuhause seiner Kindheit. Ein Treffen mit dem Zeichner, dessen Buch „Hier“ als Revolution gefeiert wird.

Endlich machte jemand ernst mit dem alten, notorisch folgenlosen Seufzer „Wenn die Wände erzählen könnten...!“ Der Künstler Richard McGuire, in der 80er-Jahre-Studentenversion seiner selbst, lag auf dem Bett in seinem kleinen Apartment in Greenwich Village. Draußen die 80er-Jahre-Version von New York. Er blickte in die Zimmerecke. Wer hier schon alles gewohnt hatte? Es müsste, dachte er, eine Möglichkeit geben, die Geschichte eines Ortes, eben dieser Ecke zu erzählen.

Richard McGuire hat sein noch immer jugendlich fragendes Selbst in einem inzwischen 58 Jahre alten Körper auf das rote Lederpolster einer Bank im Hamburger Literaturhaus platziert. Über 25 Jahre hat es gedauert, bis aus der Idee ein Buch wurde: Die Mittelfalz ist nun die Ecke des  Zimmers, man kann quasi die Wände ausklappen. Soeben hat das Buch in München einen Preis als bester nordamerikanischer Comic erhalten.

Das Buch heißt „Hier“, erschien auf Deutsch im Dumont-Verlag und wird als Revolution gefeiert: McGuire habe die traditionelle Erzählweise erneuert. Es zeigt auf über 300 Seiten nichts als eine Wohnzimmerecke im Haus seiner Eltern in Perth Amboy, New Jersey. Nur: „Hier“ ist nicht „Jetzt“. McGuire erzählt nämlich in verschiedenen Epochen zugleich, er öffnet auf einer Seite in der immer gleichen Ecke Zeitfenster, die mit Jahreszahlen markiert sind und sich zu Familienszenen verbinden. Sie führen von der Vorzeit über die amerikanischen Ureinwohner bis zum kranken Vater des Autors – all das steht nebeneinander. Ein Witz über das Sterben erstreckt sich über sechs Doppelseiten, dann erleidet der Erzähler einen Herzinfarkt. Im Hintergrund altert währenddessen die Landschaft von 8000 vor Christus bis zum Jahr 1989. Eine Frau im Dunkel zeigt ihrem Baby den Mond. Ein Kind bewegt sich sehr langsam, dann vergehen Jahrzehnte rasend schnell, ein Bild aus der Vorzeit, eines aus des Zukunft, Dialogschnipsel aus dem Familienleben. Es spiegelt auf erstaunlich reale Weise die gedehnte und gestauchte Zeit, denn sie ist eben nicht linear. Sie beult gelegentlich aus.

Richard McGuire ist Künstler, der in verschiedenen Gebieten seine Spuren hinterlässt. Als Musiker war er Bassist einer Post-Punk-Band namens Liquid Liquid, er ist Filmemacher, hat Cover für den „New Yorker“ illustriert und Spielzeug entwickelt. Seine Mutter ist eine ausgebildete Musikerin, die Bibliothekarin wurde. Sein Vater wollte Architekt werden und wurde Buchhalter. Als ihr Sohn sich als Künstler verstand und das auch tatsächlich umsetzte, konnten sie das nur gutheißen. Er war kaum mit der Schule fertig, da suchte er sich eine Bleibe in New York. Art Spiegelman interessierte ihn mit seinem alternativen Comic-Magazin „Raw“. Hier veröffentlichte er 1989 einen Comic-Strip auf sechs Seiten und nannte ihn „Here“: Er zeigte die Zimmerecke! McGuire hatte sein Handwerkszeug erfunden – bahnbrechend, urteilte man in der Szene, habe er doch die lineare Erzählform verlassen. Tatsächlich hatte ihm zuvor jemand von einem neuen Computerprogramm namens „Windows“ erzählt, in dem es möglich sei, mehrere Ebenen gleichzeitig zu öffnen – und das heute längst keinen mehr vom Hocker haut. McGuire grinst. Er denkt gerne interdisziplinär. Aber 1989 war der Comic nicht viel mehr als eine formale Spielerei für ihn, die ihre ideale Verwendung noch nicht gefunden hatte. Welchen Inhalt würde er auf diese Weise eigentlich erzählen können?

Kiste für Kiste trugen sie Erinnerungen ab

"Hier" ist nicht "Jetzt". McGuire erzählt in verschiedenen Epochen gleichzeitig.
"Hier" ist nicht "Jetzt". McGuire erzählt in verschiedenen Epochen gleichzeitig.

© Ausschnitt aus Richard McGuire, "Hier", DuMont Verlag

Er verfolgte das Thema nicht weiter, ging nach Paris, um einen Kurzfilm zu drehen und kehrte 2005 nach New Jersey zurück, um sich um seine Eltern zu kümmern, denen es sehr schlecht ging. Sie starben im selben Jahr wie seine ältere Schwester. McGuire räumte mit seinen übrigen Geschwistern das Elternhaus aus, Schicht für Schicht trugen sie die Erinnerung ab, Raum für Raum, Kiste für Kiste, Möbelstück für Möbelstück und Album für Album. Am Ende verkauften sie das Haus. Und so traurig das war – ihr Tod verlieh seiner alten Technik plötzlich Tiefe.

Denn die ganze Zeit öffneten sich für ihn Fenster der Erinnerung, die Auslöser waren klein und konkret: Farbkombinationen, die für bestimmte Jahrzehnte typisch sind. Sprachmuster, die in einer bestimmten Zeit gebraucht wurden. Kleidung. Und dann hatten diese Erinnerungen eben die Eigenschaft, nicht linear in einer schönen Erzählung aufzutauchen, sondern ganz unvermittelt, mit der Intensität von Träumen. Die Eindrücke überlagerten sich. Die Gleichzeitigkeit von Bildern, so McGuires Gefühl, käme dem Wesen des Ortes näher, als eine klassische Erzählung das je könnte.

McGuire hatte sein Thema: Er würde sein Zuhause erzählen: Einen Ausschnitt aus dem Raum mit Ausschnitten aus der Zeit kombinieren. Einen neuartigen Raum-Zeit-Verschnitt.

Kann ich das überhaupt machen? Ist das nicht zu privat? fragte sich McGuire.

Unbedingt, unbedingt, sagten die Schriftstellerkollegen, die mit ihm zusammen als Stipendiaten in der Public Library in New York saßen.

Und weil er es gründlich machen wollte, recherchierte er jetzt auch die Zeiten, die er selbst nicht erlebt hatte: Die Sprache der Indianer zum Beispiel, die klimatischen Bedingungen, die Vegetation und die Tiere der Region, die vor seiner Familie in New Jersey gelebt hatten. Er stieß auf die Geschichte mit Benjamin Franklin, der im Haus gegenüber seinen unehelichen Sohn besuchte.

Zuhause, das ist ja die Welt auf links gedreht, die großen Dinge werden klein, die kleinen groß. Und genau so wollte er das zeigen, sagt McGuire. Im Wohnzimmer lebt seine Familie in Posen von Leuten, die sich unbeobachtet fühlen. Das schafft Intimität. Zuhause ist die Summe aus der Wiederholung kleiner Dinge, die man dann Rituale nennt. So entsteht dieses gefühlte „immer“: Was ist dieses „immer“ eigentlich? Jedenfalls eine erstaunlich kurze Zeitspanne.

Aus genau jenem Wohnzimmer besitzt McGuire natürlich jede Menge Familienfotos. Zusätzlich sichtete er aber die Alben von Trödlern aus der Gegend: „Ich habe festgestellt: Alle Familien sind gleich. Und alle Alben sehen gleich aus.“ Sie zeigen Feiern, Ferien, Abschlüsse, Gruppenbilder. Das Irre: McGuire hat das keineswegs entmutigt. Es relativierte seine eigene Familie überhaupt nicht, dass sie so gar nichts Besonderes zu sein schien. Im Gegenteil. McGuire war nun dem Wesen von Familien überhaupt auf der Spur.

"Zuhause ist kein Ort, sondern meine Erinnerung"

Schichten der Erinnerung in der Graphic Novel.
Schichten der Erinnerung in der Graphic Novel.

© Ausschnitt aus Richard McGuire, "Hier", DuMont Verlag

Und ebenso dem Wesen des Zuhauses, das aus sich überlagernden Erinnerungen bestand, die ein diffuses Gesamtgefühl herstellten. Ist Heimat so etwas wie Kindheit plus Ort mal Dauer?

„Zuhause ist nicht ein bestimmter Ort, sondern meine Erinnerung“, sagt McGuire. Das Haus in New Jersey mit seiner ganzen Detailfülle sei nur ein Beispiel. Und so ist das Buch natürlich ein Paradox: McGuire feiert einen Ort, aufgeladen mit Details und ausufernden Recherchen, nur, um zu sagen, dass der Ort eigentlich keine Rolle spielt. Es geht um das Verstreichen der Zeit.

Warum aber berührt dieses Buch einen so, obwohl es so viele unzusammenhängende, alltägliche Szenen zeigt? McGuire rätselt selbst. Vielleicht, weil genau so das Erinnern selbst funktioniert: Starke Bilder, willkürlich auftauchend, aus verschiedenen Zeiten, ausgelöst durch ein scheinbar belangloses Detail. Unmittelbare, sehr konkrete Bilder, die für sich nichts erklären, aber alles andeuten. Das Buch funktioniert genau in der Art, wie unser Gehirn arbeitet...

„Vielleicht“, sagt McGuire.

Er ist nicht derjenige, der das so analysiert, er hat intuitiv nach einer Ausdrucksform gesucht. Er lebt noch immer in diesem kleinen Apartment in Greenwich Village. Er macht keine Anstalten, dort auszuziehen. „Sie würden das auch nicht bei der Miete.“ Von seinem Bett aus sieht er in die Zimmerecke.

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