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Ein Stück Freiheit. Geschlossene Durchfahrtstraße nahe dem Sunset Boulevard

© U. Lippitz

Hipster-Viertel Silver Lake: Die Fußgängerzone von L.A.

Der Stadtteil Silver Lake liegt zwischen Downtown und Hollywood. Jahrzehntelang war er ein Nest für Künstler, Latinos und Aussteiger. Nun wird die Gegend durch Geld und Spekulanten umgekrempelt.

Sarah Dale steht im Schiff der Pilgrim Church, Griffith Park Boulevard, Silver Lake, Los Angeles. Nur der Holzboden ist noch da, die Bänke sind rausgerissen, die Nachmittagssonne schneidet den Staub in Lichtkegel, und Sarah Dale sagt: „Das ist der berüchtigte Nachtclub, wo wir alle Kokain ziehen werden.“ Die quirlige Frau mit der Bob-Frisur schneidet dabei eine Grimasse, die besagt: Als ob! Sarah Dale arbeitet an einem Projekt, aus einer 83 Jahre alten Kirche ein Boutiquehotel zu machen, das erste überhaupt in der Gegend. In Silver Lake entbrennt darüber ein Streit: Wollen wir Touristen haben? Feiern dann reiche junge Schnösel laute Orgien in der Kirche?

Angelinos, Amerikaner, Europäer, sie alle kommen immer öfter in das Viertel mit den 32 000 Einwohnern – verkehrsgünstig zwischen Downtown und Hollywood gelegen. Hier gehen Menschen, und das ist für die kalifornische Metropole unerhört, zu Fuß über den Sunset Boulevard oder von ihrer Wohnung zur Bar, zum Laden, zur Arbeit. Es gibt kaum große Straßen, dafür Fahrradwege und Joggingpfade. In den 80er Jahren sang die Punkband „Missing Persons“ noch „Nobody Walks in L.A.“, heute bemerkt das Stadtmagazin „Time Out“, wie begehbar Silver Lake geworden sei.

Es sind viele Männer mit Zottelbärten zugegen

Schon Walt Disney mochte die schattigen Straßen und baute in den 30er Jahren seine ersten Filmstudios hier, der Musikproduzent Daniel Lanois (Bob Dylan) lebt in einem Anwesen aus den 20er Jahren, Schriftstellerin Miranda July und Regisseur Mike Mills wohnen in einem Haus mit großem Garten. Es gibt modernistische Bungalows, einfache Mehrfamilienhäuser – und viele neue Geschäfte. Am Sunset Boulevard flanieren Spaziergänger vorbei an: Modeboutiquen, Läden für Bio-Käse, italienisches Eis und Cupcakes sowie einem Supermarkt mit gluten- freien und kalorienarmen Lebensmitteln.

Um die Ecke von der Pilgrim Church, aus der das Hotel entsteht, hat die Kommune eine Durchfahrtstraße gesperrt und in eine Fußgängerzone umgewandelt. Ein Sakrileg für das autohörige Amerika und auch für eine Stadt, in der noch jede Bar einen Kundenparkplatz unterhält. Wo gigantische Highways die Viertel voneinander trennen, auf denen der Verkehr mehr stockt als schnurrt, und nur zwei U-Bahn-Linien die 13 Millionen Menschen im Großraum L.A. verbinden.

An diesem Sommerabend stehen Sofas auf dem neu gewonnenen Raum in Silver Lake, darauf lümmeln sich junge Pärchen, manche haben Decken mitgebracht, ein Klavier steht bereit. Es sind viele Männer mit Zottelbärten und modisch gekleidete Mädchen zugegen. Jahrzehntelang haben Latinos, Künstler und Kellner unbehelligt hier gelebt. Sie waren keine Kirchenmäuse, aber auch keine Großverdiener. Die Zeitschrift „Forbes“ verlieh 2012 Silver Lake den Titel „America’s Hippest Hipster Neighbourhood“. Da war es mit der Ruhe vorbei. Seitdem heißt es: Glamour, Geld und, ja, Gentrifizierung. Das hätte man sich in Los Angeles nie vorstellen können, wo ein gefülltes Bankkonto ein Menschenrecht zu sein schien. Lange zog es die Hautevolee Richtung Küste, nach Bel Air oder Santa Monica. Mittlerweile ist es dort so voll wie in der Berliner Regionalbahn zur Rushhour, und die Neureichen weichen in den Osten der Stadt aus, nach Silver Lake, wo neben Alt-Hippies nun Neu-Hipster einziehen.

Die Kinderwagen-Brigade von Silver Lake

Schauspielerin Ann Magnuson auf der Terrasse ihres Hauses.
Schauspielerin Ann Magnuson auf der Terrasse ihres Hauses.

© John Bertram

Zum Beispiel dank des „Berlin“ – ein Currywurstladen am Sunset Boulevard. Jennifer Doyle, Dozentin an der Riverside University, sagt: „Die Gentrifizierung ist uns vor die Füße gefallen.“ Sie lebt seit 1999 in der Gegend. Früher zogen Künstler nach Berlin, weil sie L.A. nicht mehr bezahlen konnten, nun landet die deutsche Stadt als Hipster-Zeichen zurück auf ihrer Türschwelle.

Oder das „Intelligentsia“. Ann Magnuson, eine Schauspielerin, die seit Ende der 80er Jahre in Silver Lake lebt, mit Harrison Ford, Jodie Foster und Christopher Walken gedreht hat, nennt das Café an der Sunset Junction „den Sargnagel“. In dem Lokal stehen Menschen an, um frisch gebrühten Kaffee zu bekommen. In der Bar gibt es auch weiß-rote Radlersocken mit dem Café-Logo (13 Dollar, etwa zehn Euro). „Branding“, seufzt Ann Magnuson, Vermarktung – und es klingt wie: Weltuntergang.

Sarah Dale, die Frau aus dem Hotel, denkt an das „Black Cat“ schräg gegenüber. Das hat einfach die Bar „El Barcito“ verdrängt, wo sie oft ihr Wochenende eingeläutet hat. Jetzt ist es ein schickes Restaurant mit Cocktails aus Kupferbechern. Sarah Dale sitzt im Innenhof der Kirche auf dem einzigen Klappstuhl. Raucht, das hat sie noch aus ihrer Zeit in einer Punkband, und stellt erst einmal klar, dass sie sauer sei, weil Nachbarn dieses Kokain-Gerücht verbreitet haben.

Als sie 18 war, Mitte der 90er Jahre, ist sie aus Nordkalifornien hierhergezogen. „Silver wo?“, fragten ihre Freunde. Und sie sagte: „Ost-Hollywood.“ Sie wohnte wie alle Musiker damals: „in einem beschissen renovierten Haus, jedes Zimmer hatte einen anderen Fußboden, das Wohnzimmer aus Holz, das Schlafzimmer aus Beton.“ Sie zählt durch: drei Mal. So oft wurde sie aus Wohnungen „vergentrifiziert“, also hinausgebeten. „Lange wohnte ich in diesem wunderschönen Apartment, zwei Schlafzimmer, 750 Dollar. Sobald wir auszogen, erhöhte sich die Miete auf 1450 Dollar.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Das macht keinen Spaß, aber ich will nicht in einer Wohnung leben, wo der Vermieter mich nicht haben will. Das ist wie in einer Beziehung mit einem Typen zu sein, der einen nicht liebt.“

2000 hat sie ihre Boutique eröffnet. „Pull my Daisy“, ein Zitat aus einem Gedicht von Jack Kerouac. Frauenbekleidung, Kunstbücher, Accessoires. „Ich wollte, dass auch eine Kellnerin reinkommen und was finden würde.“ 38 Dollar für ein Kleid, das war am Anfang der Durchschnitt, 200 Dollar der Höchstpreis, als Sarah Dale 2013 den Laden schloss. Mit Familie und Kleinkind wurde ihr die Arbeit zu viel.

„Bin ich ein Teil dieser Kinderwagen-Brigade, die Silver Lake ruiniert?“ Das fragt sich die Enddreißigerin seitdem. „Vielleicht, aber ich bin schon so lange hier, ich gehöre dazu.“ Ihre Stimme überschlägt sich, als sie von den alten Tagen im Barcito erzählt. „Schwule, Latinos, Dragqueens, Machos. Als ich das erste Mal reinging, raunten die Männer: wedda, was willst du hier?“ Sarah Dale spricht Spanisch, sie wusste, dass „wedda“ ein Schimpfwort für weiße Frauen ist.

Schilder mit Hinweisen auf private Sicherheitsdienste

Also ging sie zum Besitzer: „Here is the deal. Ich habe den Laden auf der anderen Straßenseite und wohne direkt darüber. Wenn ihr sonntags Madonna-Nacht feiert, schließt die Türen, oder ich komme im Pyjama rüber – mit der Polizei im Schlepptau. Ihr seid meine dichteste Quelle für Alkohol. Manchmal brauche ich einen Drink, ich werde hier an der Theke sitzen, ich bringe keine Freunde mit, und ihr werdet mich bedienen.“ Sarah und das Barcito, das war Liebe auf den ersten Blick.

Vor vier Jahren hat Sarah Dale im Neighbourhood Council gesessen. Der Rat empfiehlt der Kommune, wo es sinnvoll ist, Geld zu investieren. Ein schmales Budget von 15 000 Dollar verwaltet er selber. Wer darin sitzt, tut es ehrenamtlich. „Einige Mitglieder haben die Macht des Rates überschätzt“, sagt Sarah Dale. Endlose Diskussionen, nach einem Jahr ist sie wieder ausgestiegen.

Ann Magnuson hat sich vor ein paar Monaten an den Rat gewandt. Gegenüber dem Haus der Schauspielerin, ein Entwurf des berühmten Architekten Richard Neutra, wurde ein Bungalow abgerissen, die neuen Besitzer stellten ein Schild auf und verkündeten den Bau eines dreigeschossigen Gebäudes, fast schon ein Wolkenkratzer in Silver Lake. Ihr Projekt nannten sie „Uptown Three“. Ann Magnuson spricht davon wie von einer wunderlichen Abscheulichkeit. „Wir haben eine Petition dagegen eingereicht, aber der Neighbourhood Council hat sich nicht dafür interessiert.“

Die zierliche 58-Jährige, kurze graue Haare, sitzt in einem mexikanischen Lokal am Sunset Boulevard, „Café Tropical“, wo überall Luftballons von der Decke hängen, und erzählt Geschichten, die Ende der 80er Jahre beginnen, als sie von New York hierherzog. „Es war so verführerisch, in Silver Lake zu leben.“ Als sie in Los Angeles einen Bungalow bezog, durch dessen Fenster sie gelbe Trompetenblumen sah und nicht den Luftschacht hinter der Avenue A, da war ihre Entscheidung gefallen.

Knapp 20 Minuten zu Fuß entfernt ist das Silver Lake Reservoir, ein Trinkwasserbecken, das dem Viertel seinen Namen gab. Feigen- und Zitronenbäume wachsen wild. Kein Bürgersteig, viele hohe Hecken, Schilder mit Hinweisen auf private Sicherheitsdienste, auf manchen steht „Armed Response“ – bewaffnet. Hier sind die Häuser exklusiver und die Besitzer nicht so auf Spaziergänger erpicht. Schauspieler James Franco ist in der Nähe eingezogen. „Seine Nachbarn sind genervt“, sagt Ann Magnuson. „Weil er nachts lange und laute Partys feiert.“ Sie selbst geht nicht mehr am Wochenende zum Sunset Boulevard, wo Bars, Restaurants und ein paar Clubs geöffnet haben. Obwohl sie früher auch schon mal betrunken durch New York gelaufen sei, aber so aggressiv wie die Jugend heute, nein, so sei sie nicht gewesen.

Die "Flippers" machen die Gegend kaputt

Straße mit Villen North of Sunset.
Straße mit Villen North of Sunset.

© U. Lippitz

Ann Magnuson erzählt von den Parks im Viertel. „In den 90er Jahren wurde da viel gedealt“, sagt sie. „Zwei Mal habe ich meinen Wagen nachts in der Auffahrt stehen gelassen, am nächsten Morgen waren die Scheiben eingeschmissen und meine Wertsachen gestohlen.“ Sie erzählt von Nächten, in denen ihr Mann und sie kaum schlafen konnten, weil Polizeihubschrauber über dem Viertel kreisten. „South of Sunset war Latino-Gangland“, sagt sie. Das habe sich nun wirklich positiv verändert: die Sicherheit. Sie lächelt plötzlich. „Ich hoffe nicht, dass ich wie eine verbitterte alte Dame wirke. Es war früher nicht alles gut, nur weil es gefährlicher war.“

Nur gab es keine „flippers“ – Spekulanten, die ein Haus kaufen, es in luxuriöse Wohnungen umwandeln und dann für Bargeld zu einem höheren Preis weiterverkaufen. „Sie glauben gar nicht, wie oft wir belästigt werden, am Telefon oder mit Briefen, ob wir unser Haus verkaufen möchten.“ Nein, sie will in Silver Lake bleiben, wo sie auch mal zu Fuß in ein Restaurant gehen kann. Als sie wieder hinaus auf den Sunset Boulevard tritt, zeigt sie auf Delta Tacos, einen kleinen Stand, der die mexikanischen Teigtaschen für ein paar Dollar verkauft. „Gott sei Dank, ist der noch da!“

Jennifer Doyle wohnt ein paar Blocks vom Taco-Stand entfernt. Die Akademikerin steht in der Tür ihrer Wohnung, eine Treppe hinter Büschen versteckt, zwei Zimmer, Küche, Bad, ein Wohnzimmer. Rasch holt sie ihre Sonnenbrille, geht eiligen Schrittes hinaus auf die Straße, die wirklich Normal Avenue heißt, hinunter auf die Hoover Street – ehemaliges Gangland. An der Ecke ein Supermarkt, alles in Spanisch. Einen Block weiter reihen sich schon kleine Boutiquen, ein Weinladen und zwei Restaurants aneinander. „Squirl“ heißt ein besonders schickes. Pärchen sitzen eng an eng nebeneinander, eigentlich will Jennifer hier etwas essen, als sie die Schlange sieht, etwa 20 Personen, wehrt sie ab. „Ich stelle mich bestimmt nicht an.“ Früher hat sich niemand an der Avenue zum Lunch getroffen, murmelt sie ein paar Minuten später, als sie das „El Cafecito“ betritt.

Teurer Kaffee Marmeladengläsern

Das Café verspricht organic coffee, auf der Terrasse sitzen vier Menschen an vier Tischen, jeder tippt auf einem offenen Laptop, gelegentlich zwitschert das Smartphone. Jennifer Doyle erzählt, wie sie damals nach Silver Lake kam, weil sie die Mischung der Nachbarschaft mochte: Bohemiens, Latinos. Ihr erstes Zimmer fand sie in einem kleinen Gartenhaus North of Sunset, ein schwules Paar, ein Amerikaner und ein Kubaner, vermieteten es an sie. Gegenüber wohnte eine ältere Dame, die Tochter eines berühmten Kameramannes. Wenn die Academy Awards verliehen wurden, gingen alle zu ihr hinüber, sie stellte den Oscar des Vaters auf die Kommode, erzählte Klatschgeschichten von Barbara Stanwyck, und alle sahen die Veranstaltung im Fernsehen.

Chuck und Elio, ihre Vermieter, nahmen Jennifer Doyle zur Sunset Fair mit – einem dreitägigen Festival an der Sunset Junction, auf dem sich Lederschwule trafen. „Und da stand ich mit ihnen, beide in silberfarbene T-Shirts und enge Shorts gekleidet.“ Sie lacht. Fügt hinzu, dass sie nach wie vor in die Lederbar „The Eagle“ geht, wo auch Frauen erwünscht sind, Musik von Dionne Warwick oder der Punkband Alice Bag gespielt wird und kräftige Männer mit dichten Bärten stehen.

„Keine Hipsterbärte!“ Die Schwulen haben gepflegten Bartwuchs. Nicht dieses wild wuchernde Unkraut der modischen Jungmänner: „So als wären sie aus einem Melville-Roman herausgefallen.“ Die findet sie so lächerlich wie die alten Marmeladengläser, in denen sie in manchen Bars teuren Kaffee servieren. Jennifer Doyle ist in einer glücklichen Lage, das weiß sie. Sie geht viel und gern zu Fuß durch das Viertel, das wiegt für sie den beschwerlichen Arbeitsweg auf – eine Stunde mit dem Bus zur Universität. Plötzlich kommt ihr dieser eine Satz über die Lippen: „Ich fühle mich nicht mehr so wohl hier.“ Die Veränderung ist an ihre Grenze des Erträglichen angekommen.

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