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Der Ex-Außenminister Joschka Fischer analysiert in seinem Buch "Der Abstieg des Westens" wie sich aktuell die Machtzentren der Welt verschieben.

© Urban Zintel

Interview mit Joschka Fischer: „Kein Land hängt so sehr vom Gelingen der europäischen Integration ab wie Deutschland“

Seine Freunde sagen, er neige zu pessimistischen Thesen. Joschka Fischer über Putins Atomwaffen und warum er mit politischem Heldentum nichts anfangen kann.

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Herr Fischer, vor einem Jahr haben Sie das „Ende des Westens“ prophezeit. Ihr neues Buch trägt nun den Titel „Der Abstieg des Westens“. Hat sich die Weltlage wieder entspannt?

Nein!

Damals schrieben Sie in einem Zeitungsbeitrag, der Westen werde untergehen. Bei einem Abstieg, das weiß man vom Fußball, bleibt der Betroffene immerhin am Leben.

Für mich ist ein Ende etwas Plötzliches: wie das Ende des Sowjetblocks. Ein Abstieg vollzieht sich dagegen Schritt für Schritt, gleichwohl mit demselben Ergebnis.

Sie beginnen Ihr Buch mit einer Schilderung des Schriftstellers Stefan Zweig, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Zeuge wird, wie das österreichische Kaiserpaar mit dem Zug ins Exil reist. Gibt es für Sie einen ähnlichen Moment, der den Epochenwechsel, den Sie zu erkennen glauben, symbolisiert?

Das war, als mich mein Radiowecker morgens über den Wahlsieg von Trump informierte.

Und aus diesem einen Ereignis leiten Sie solche epochalen Konsequenzen ab?

Es waren zwei Nächte: das Brexit-Referendum und die US-Präsidentschaftswahl. Beide Male bin ich zu Bett gegangen, weil mir das Ganze zu lange dauerte. Hinzu kommt das Erstarken des Nationalismus. Für mich war es schockierend, festzustellen, dass die Nachkriegsordnung, die, bei allen Defiziten, recht gut funktioniert hat, auf einmal keinen Bestand mehr haben würde. Als ich meine Einschätzung unter Freunden kundtat, hieß es: „Fischer, wir wissen, du neigst zu pessimistischen Thesen. Jetzt krieg dich mal wieder ein.“ Wenige Monate später sagte das kaum noch einer.

Joschka Fischer mit Cem Özdemir 2005 in Berlin.
Joschka Fischer mit Cem Özdemir 2005 in Berlin.

© imago/Seeliger

Für wie bedrohlich halten Sie Putins Ankündigung vom Donnerstag, neue Atomraketen zu bauen?

Das ist alles andere als weitsichtig. Russland kann einen Rüstungswettlauf gegen die USA nicht gewinnen, und dieser wird mehr internationale Instabilität bedeuten. Bei den großen Nuklearmächten USA und Russland gibt es aber meiner Meinung nach eine gewisse Disziplin der Sicherheitsapparate, und die ist auch in Russland noch nicht verloren gegangen. Noch gefährlicher sind kleine Nuklearmächte. Eine Infragestellung des Atomabkommens mit Iran würde eine nukleare Doppelkrise auslösen. Die Lage in Ostasien und im Nahen Osten ist gefährlich.

Es heißt, Sie tauschen sich noch gelegentlich mit Gerhard Schröder über die Weltlage aus.

Natürlich spricht man, wenn man sich sieht.

Außerdem gehören Sie einer Gruppe ehemaliger Außenminister an, die von Madeleine Albright gegründet wurde.

Wir heißen „Madeleine’s Ex-Mins“. Wir alle waren mal Minister in Frankreich, Großbritannien, den skandinavischen Ländern, Russland ... Die mexikanische Kollegin ist leider jüngst verstorben. Wir treffen uns zwei-, dreimal im Jahr, zuletzt in der Schweiz. Je nachdem, wo sich ein Sponsor findet.

Ist die Stimmung wie auf einem Klassentreffen?

Nein, Madeleine ist sehr ambitioniert. Da werden die aktuellen Krisen diskutiert. Im Grunde ist es der Versuch, die Erfahrungen von ehemaligen Außenministern zusammenzubringen.

Wie sieht die neue Weltordnung aus, die sich Ihrer Ansicht nach abzeichnet?

Es kommen im 21. Jahrhundert imperiale Größenordnungen auf uns zu. China, Indien, USA, Russland. Der europäische Nationalstaat ist zu klein, um da mitzuhalten. Das Zentrum der Welt verlagert sich nach Jahrhunderten gen Ostasien. Wenn wir als Europäer nicht in neue Abhängigkeiten geraten wollen, müssen wir sehr viel enger zusammenrücken und gucken, dass wir bei den harten Faktoren, der Wirtschaft und auch der Technologie, nicht abgehängt werden. Dort wird morgen das Geld verdient, das wir brauchen, um unsere ambitionierten Sozialsysteme finanzieren zu können.

AfD, Ungarn, Brexit – Sie machen Ihren Vorschlag zu einer weiteren europäischen Zusammenarbeit zu einem historisch ungünstigen Zeitpunkt.

Wenn man die jüngste, länderübergreifende Umfrage des Allensbach-Instituts anschaut, dann ist das Thema Europa wieder im Aufschwung. Es handelt sich um eine Jetzt-oder-nie-Situation. Jetzt sortiert sich die Welt für das 21. Jahrhundert – und kümmert sich nicht darum, wer bei uns Wissenschaftsministerin wird. Wenn ich diesen Herrn Gauland schon höre: Solch eine historische Blindheit. Kein Land hängt so sehr vom Gelingen der europäischen Integration ab wie Deutschland in der Mitte Europas. Ein Helmut Kohl hat das begriffen.

Sind Sie im Hintergrund noch innenpolitisch aktiv?

Nee.

"Endlich ist das Parlament mal aus seinem Tiefschlaf aufgewacht"

Juso-Chef Kevin Kühnert fordert laut Joschka Fischer die SPD zum Selbstmord auf.
Juso-Chef Kevin Kühnert fordert laut Joschka Fischer die SPD zum Selbstmord auf.

© imago/Bildgehege

Während der Jamaika-Sondierungsgespräche warben Sie für die Konstellation.

Ich finde, da ist eine große Chance verpasst worden. Wir haben mittlerweile ein Sieben-Parteien-Parlament, und da ist eine Koalition aus nur zwei Parteien fast unmöglich geworden.

Während der Sondierungen sah ein Kollege Sie im Bus. Ihr Handy klingelte, Sie sagten: „Cem!“ und hielten konspirativ die Hand vor den Mund. Hat Cem Özdemir, der dem Sondierungsteam der Grünen angehörte, Sie da etwa um Rat gefragt?

Nein.

Kein Coaching vom Oberdeck des M 29 aus?

Ganz sicher nicht.

Wie bezeichnen Sie, was Sie gerade beruflich tun?

Ich bin im Ruhestand.

Sie sind doch Geschäftsführer der Beratungsagentur Joschka Fischer & Company.

Was das Tagesgeschäft angeht, komme ich so langsam in eine Alterszone, in der man es ruhiger angehen lässt.

Wie sieht jetzt Ihr Tag aus? Sie halten Vorträge …

… mein Tag sieht so aus, dass ich morgens aufstehe, mittags esse und abends ins Bett gehe.

Die Rede Ihres Parteifreunds Özdemir gegen die AfD, die am vergangenen Wochenende Twitter bewegte, haben Sie aber mitbekommen. Oder?

Ja, die fand ich hervorragend. Endlich ist das Parlament mal aus seinem Tiefschlaf aufgewacht.

Sie selbst haben keinen Twitterkanal. Nervt Sie, dass selbst die irrwitzigsten Tweets von Trump immer so eine Riesenresonanz finden?

Ach, für mich verrauscht das.

Wie bewerten Sie Trumps Strafzölle auf Stahl?

Das war zu erwarten. America first! Hier kann sich in der Tat eine globale Trendwende Richtung Protektionismus abzeichnen. Wie wird die EU reagieren, wenn jetzt eine Flut von billigen Stahlexporten nach Europa drängt? Es riecht nach Handelskrieg und nicht mehr nach freiem Welthandel!

Von Trumps anfänglicher Drohkulisse, aus der Nato auszutreten, ist nichts mehr zu hören.

Das Verteidigungsbündnis wird weiter bestehen, da bin ich mir ziemlich sicher und finde das gut, aber es wird nie mehr dasselbe sein wie zuvor.

Weil das Urvertrauen weg ist?

Nein, weil das Bündnis die Nachkriegsordnung repräsentiert. Für das Ende des Kalten Krieges hatten wir lange eine völlig irreführende Lesart. Wir glaubten, eine Weltordnung, deren eine Seite wegbricht, könnte einfach so weiterbestehen. Wir Europäer haben daraus die pazifistische Konsequenz gezogen: Nach dem Jahrhundert der Kriege wollten wir endlich Ruhe, eine Auszeit von der Geschichte. Die Amerikaner haben eine triumphalistische Konsequenz gezogen, die im Irak endete.

Am verfahrensten ist es zurzeit in Syrien. Was …

… wenn Sie mich jetzt fragen: „Fischer, hast du einen Vorschlag für eine syrische Friedenslösung?“ Dann ist meine Antwort: „Nein.“ Leider.

Im Kosovo verantworteten Sie Luftschläge. Ist es in Syrien für ein Eingreifen zu spät?

Bei jedem Eingreifen müssen die Konsequenzen bis zum Ende bedacht sein, in Bosnien und dem Kosovo wurde nicht nur die Lage militärisch stabilisiert, sondern auch den Staaten eine politische Perspektive eröffnet, Mitglied der EU zu werden. In Syrien ist die Situation politisch weitaus schwieriger, weil es die gesamte Region betrifft, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs kaum zur Ruhe gekommen ist. Also ich sehe nicht, dass europäische oder westliche Mächte dort mit Militär etwas Positives beitragen können.

Berlin ist eine tolle Stadt, aber doch nicht wegen der Landespolitik!

Sie schreiben in Ihrem Buch, Europa bräuchte eine große Erzählung, damit die Nationen wieder enger zusammengeschweißt werden. Meinen Sie damit, dass die Europahymne häufiger gespielt wird oder einen Eventfilm in den Öffentlich-Rechtlichen mit Veronika Ferres als Maggie Thatcher?

Glauben Sie im Ernst, dass ein gemeinsames Bewusstsein aus einer Hymne erwächst? Ein Narrativ entsteht aus dem wirklichen Leben oder es entsteht nicht. Die alte, großartige Erzählung der Europäischen Union lautete: Nie wieder Krieg. Sie war über Generationen erfolgreich. Die neue Erzählung muss in der Welt von morgen spielen. Nach dem Motto: Nie wieder allein, nur gemeinsam.

Haben Sie ein Beispiel?

Im vergangenen Jahr war ich in Peking. Ich fand es faszinierend zu sehen, wie das Internet dort den Alltag durchdringt. Die USA hatten unter Obama einen Plan für die Erforschung der Künstlichen Intelligenz entwickelt. Das Weiße Haus unter Trump hat ihn bis jetzt nicht weiterverfolgt. Jetzt haben die Chinesen einen vorgelegt. Und ich habe mich gefragt: Hey, und was ist mit uns?

Wie wäre es mit einem europäischen Google?

Ach, das erinnert mich an die fälschungssichere D-Mark. Monatelang tagten Kommissionen, am Ende hatten sie dann diese furchtbar teuren Scheine. Kurz darauf kam ein japanischer Farbkopierer auf den Markt, der perfekte Blüten produzieren konnte. Nein, mit dem Tempo von privatwirtschaftlichen Unternehmen wie Google können politische Entscheidungsprozesse nicht mithalten. Die Politik kann nur die Rahmenbedingungen verbessern, was sie dringend tun muss.

Der Berliner Senat gibt sich Mühe, dass die Stadt als Start-up-Hotspot wahrgenommen wird.

Ohne dem Senat zu nahe treten zu wollen: Das liegt an den Freiräumen, die es hier noch gibt. Berlin ist eine tolle Stadt, aber doch nicht wegen der Landespolitik!

Dass in Berlins Kneipen und Galerien oft nur noch Englisch geredet wird, worüber sich der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn empörte, müsste in Ihrem Sinne sein.

In Berlin wurde schon immer englisch geredet: im amerikanischen und britischen Sektor. Das muss sich selbst bis in Spahns Heimat, das Münsterland, herumgesprochen haben, wo die britische Rheinarmee ebenfalls englisch geredet hat. Als weiland die Hugenotten kamen, war in Berlin Französisch Umgangssprache. Daran ist die deutsche Sprache nicht zugrunde gegangen.

Frankreichs Präsident Macron sagte, Europa brauche mehr politisches Heldentum. Wie sehen Sie das?

Heldentum passt nicht so in meinen Begriffshorizont.

Zu pathetisch?

Ja. Ich verstehe nicht, wie dieses Heldentum aussehen soll.

Anzunehmen ist, dass er charismatische Führungspersönlichkeiten meint. War das nicht auch ein Problem der Grünen in den vergangenen Jahren?

Führungspersönlichkeiten haben die Grünen genug, sehr gute sogar. Das Problem sind die unklaren Strukturen.

Unter den Jusos genießt Kevin Kühnert gerade Heldenstatus. Haben Sie Respekt vor ihm?

Wenn man es als Heldentum bezeichnet, eine 160 Jahre alte Partei zum Selbstmord aufzufordern, dann haben Sie recht. Ich halte das für unverantwortlich. Man muss sich auch fragen, warum sich die SPD in so eine Situation hineinmanövriert hat. Da gibt es offenbar einen tief sitzenden Frust.

Wenn Sie nochmal jung wären: Was wären Themen, für die es sich heute lohnen würde, zu rebellieren?

Die Zeiten waren damals ganz anders. Heute können Sie als junger Mensch viel wirksamer intervenieren. Das sieht man an Macron. Er hat die Gelegenheit genutzt, war entschlossen und klug. Das System ist sehr viel offener als früher. Anstatt zu protestieren, kann man einfach machen.

Es gibt doch gesellschaftliche Probleme, die sich nicht durch Machen lösen lassen. Die Gerechtigkeitsfrage zum Beispiel.

Es gibt Gerechtigkeitsdefizite, die angegangen werden müssen. Aber wenn man den Ausbau unseres Sozialstaates mit den 70er Jahren vergleicht, die ja immer als das goldene Zeitalter der sozialen Demokratie gepriesen werden, sind wir heute viel weiter. Glauben Sie mir: Ich kann mich gut erinnern.

In Ihrer Autobiografie benutzen Sie das Wort Illusionsabschleif. Beschreibt das Ihre Persönlichkeitsentwicklung?

Im Älterwerden gibt es zwei Wege. Entweder Sie werden realistischer oder Sie werden radikaler, und wenn Sie wie Lafontaine mit 32 bereits Oberbürgermeister waren, wählen Sie wohl den zweiten Weg.

Sie werden in einem Monat 70 Jahre alt. Feiern Sie?

Was gibt es da zu feiern? Überleben ist alles!

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