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Lionel Shriver wurde 1957 in North Carolina als Margaret Ann Shriver geboren.

© Eva Vermandel

Interview mit Lionel Shriver: „Oder bin ich generell nicht gern zufrieden?“

Ihre Eltern zwangen sie, Sünden zu gestehen, an die sie nicht glaubte. Autorin Lionel Shriver über Gott, ihre schwierige Familie und warum sie erst um zwölf Uhr mittags aufsteht.

Frau Shriver, gerade ist Ihr zwölfter Roman erschienen. Ihre Eltern hatten andere Pläne für Sie: heiraten und Kinder kriegen.

Das fand ich beleidigend. Sie haben uns ermuntert zu lesen, aber meine beruflichen Pläne nahmen sie nicht ernst.

Hätten die beiden Sie nicht besser kennen müssen?

Das ist nur eine Annahme, dass Eltern ihre Kinder kennen. Aber für ihre Generation war das die normale Erwartung, ich urteile da nicht.

Sie haben sich den Erwartungen auch entzogen, indem Sie sich als Teenager umbenannten: Aus Margaret Ann wurde Lionel. Wie kamen Sie auf die Idee?

Ich habe mich mehr mit Jungs identifiziert. Sie hatten es meist besser. Und ich war ein Tomboy, ein Wildfang. Meine Mutter hat mir das übel genommen; sie heißt Peggy, das ist die Verkleinerungsform von Margaret. Dabei wollte ich sie nicht verletzen. Es ging darum, mein Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Mit sieben haben Sie beschlossen, Schriftstellerin zu werden, mit acht, keine Kinder zu bekommen. In dem Alter spielen die meisten Mädchen mit Puppen – Vater, Mutter, Kind.

Ich nicht. Ich hatte zwei Brüder, und wir haben die meiste Zeit im Dreck gemanscht, mit Autos und Lastern. Puppen habe ich gehasst, eine Barbie nie besessen. Dafür Trolle, die in den 60ern sehr populär waren, so hässliche kleine Plastikwesen.

Beide Entscheidungen haben Sie nie revidiert. Keine Zweifel?

Mit Anfang 40 hatte ich das Gefühl, ich müsste mich mit der Frage noch mal beschäftigen. Da habe ich „We Need to Talk About Kevin“ geschrieben.

Ihr bekanntester Roman über eine Frau, die keine Muttergefühle entwickeln kann, und ihren Sohn, der beziehungsunfähig ist und als Amokläufer mehrere Menschen erschießt. Aber warum wollten Sie als kleines Mädchen schon keine Kinder?

Ich mochte es nicht, Teil der Familie zu sein. Dauernd wurde mir gesagt, was ich machen soll. Damals hatten Kinder nichts zu melden. Wir hatten das Gefühl, lästig zu sein. Unser Vater wartete darauf, dass wir groß sind, so dass wir ein erwachsenes Verhältnis haben könnten. Aber dafür braucht man keine Kinder, dafür hat man Erwachsene. Heute, mit 90, ist er froh, uns zu haben. Mit 90!

Und wie ist Ihr Verhältnis jetzt?

Besser. Weil er uns braucht. Das ändert die Dynamik.

Das Thema lässt Sie nicht los. Oder weshalb schreiben Sie einen Familienroman nach dem anderen?

Es ist eine faszinierende Konstellation: die Tatsache, dass man keine Wahl hat. Du kannst dir deine eigene Familie ja nicht aussuchen. Da stecken Menschen in einer intensiven Beziehung zueinander, die nicht einfach ist. Und es geht nicht nur darum, ob man sich mag oder nicht, liebt oder nicht. Die Sache ist komplexer.

„Eine amerikanische Familie“ heißt Ihr neuer Roman, eine satirische Dystopie, die in der nahen Zukunft spielt. Dafür haben Sie sich in die Wirtschafts- und Finanzpolitik reingekniet.

Ich hatte vorher keine Ahnung davon. Zu meiner eigenen Überraschung hat mir das Recherchieren großen Spaß gemacht. Es stellte sich heraus, dass diese Welt weit aufregender, auch apokalyptischer ist, als ich sie mir vorgestellt hatte. Mich hat die extreme Emotionalität des Geldes interessiert. Die Verbitterung meiner Romanfiguren, Geld zu verlieren, das man mal hatte.

Bei Ihnen lief es umgekehrt: Sie hatten lange Zeit sehr wenig, jetzt sind Sie erfolgreich. Macht Sie das glücklich?

Damit konnte ich mir ein Haus kaufen. Aber das Komische ist, sobald du etwas Kapital anhäufst, fängst du an, dir Sorgen zu machen, es wieder zu verlieren. Die Finanzkrise passierte kurz nachdem ich zum ersten Mal richtig Geld verdient hatte. Mir kam es vor, als würde ich persönlich verfolgt. Als ob Gott herausgefunden hätte, dass ich jetzt was auf der Bank habe. Statt mich sicherer zu fühlen, machte mich die Tatsache, Kapital zu haben, das man beschützen muss, ängstlich.

Geben Sie ungern Geld aus?

Ich bin von Natur aus ein Hamster. Das hat mir geholfen, tun zu können, was ich wollte – Bücher schreiben. Ich muss mich immer noch manchmal daran erinnern, etwa, wenn der Toaster kaputtgeht: Das macht nichts! Ein neuer kostet 29 Pfund, bestell einfach einen bei Amazon, fertig. Du musst dich dafür nicht emotional verausgaben.

„Mein Vater hat mich an den Haaren ins Auto gezerrt“

Im Film "We Need to Talk About Kevin", der auf Schrivers gleichnamigen Roman basiert, spielte Tilda Swinston die Mutter eines Amokläufers.
Im Film "We Need to Talk About Kevin", der auf Schrivers gleichnamigen Roman basiert, spielte Tilda Swinston die Mutter eines Amokläufers.

© pa/Nicole Rivelli Photography

Sie hassen Bürokratie, sind daher erklärte Gegnerin der EU und für den Brexit gewesen. Immer noch?

Ja! Aber ich zweifle, ob sie es wirklich durchziehen. Ich habe das Gefühl, dass da etwas zusammengestrickt wird, was der Mitgliedschaft so ähnlich ist, dass das Ganze nur eine große Verschwendung von Zeit, Geld und Mühe ist.

Als amerikanische Staatsbürgerin konnten Sie nicht abstimmen, aber Sie leben seit Jahren in Großbritannien. Was hat Sie dorthin gelockt?

Ursprünglich bin ich nach Belfast gegangen, um einen Roman zu schreiben. Ich hatte mich in einen Iren verliebt. Wir haben uns getrennt, ich bin geblieben. Als ich kam, hatte ich keine Ahnung von Nordirland und der Politik dort. Zum ersten Mal habe ich mir meine eigene, unabhängige Meinung gebildet. Bis dahin hatte ich weitgehend die Haltung meiner Eltern übernommen, die liberale Demokraten sind.

Was war der Grund für den Meinungsumschwung?

Die Mitglieder der IRA haben sich ja als liberale Freiheitskämpfer ausgegeben, und für die Linke waren sie das auch. In Belfast habe ich gelernt: Nein, waren sie nicht. Sie waren nationalistisch, gewalttätig, rückschrittlich und rechts. Bis heute fühle ich mich unwohl, was die Label links und rechts angeht. Natürlich stimme ich in den USA für die Demokraten – ehrlich, welche Wahl hab ich da? In Wirtschaftsfragen aber bin ich konservativer, befürworte zum Beispiel eine Einheitssteuer.

Ihr Motto lautet „Jeden Tag eine Regel brechen“, Sie bezeichnen sich als „Libertarian“. Was bedeutet das?

Die Leute sollen machen können, was sie wollen, solange sie anderen nicht wehtun. Ich bin nicht gegen Regelungen per se, beim Umweltschutz zum Beispiel braucht man sie, da geht es ja auch darum, Schaden von Menschen abzuhalten.

Was die Religion betrifft, haben Sie sich viel früher von Ihren Eltern gelöst als bei der Politik. Gab es einen Auslöser?

Mein Vater war Pfarrer in der presbyterianischen Kirche, dann Professor und am Ende Präsident eines Seminars in New York. Meine Mutter hat auch für die Kirche gearbeitet. Ganz schön viel Kirche. Das war mein erster Bruch mit der Orthodoxie.

Haben Sie Ihren Glauben verloren?

Ich hatte nie einen. Als Kind habe ich es gehasst, zur Kirche zu gehen. Wir mussten uns fein machen, konnten nicht ausschlafen. In den Bänken zu sitzen, aufzustehen, sich wieder zu setzen, Lieder zu singen, für die ich nichts übrig hatte, Lesungen zu hören, die mir nichts bedeuteten, es gab nichts, was daran Spaß gemacht hat. Ich wurde gezwungen, Sünden zu gestehen, an die ich nicht glaubte.

Wie ist die Sache ausgegangen?

Mit 15 habe ich mich geweigert, den Gottesdienst zu besuchen. Aber dazu musste ich mich erst mal bringen, weil ich wusste, dass dann die Hölle los sein würde. Und so war es auch. Mein Vater hat mich an den Haaren ins Auto gezerrt, meine Mutter mit Besteck auf den Tisch gehauen, sich lila verfärbt, das ging so den ganzen Tag. Jetzt ist es lustig. Damals war es das nicht.

Und haben Ihre Eltern es irgendwann akzeptiert?

Sie haben sich an ihre Version geklammert: dass ich meinen Glauben infrage stellte, dass das eine Phase wäre. Ich denke, die Tatsache, dass ich indoktriniert wurde, wenn auch ohne Erfolg, hat mich vor Glaubenssystemen aller Art geschützt. Auch politischen.

Ihre Mutter lebt ebenfalls noch?

Ja. Bis zu einem gewissen Grad. Sie hatte vor zweieinhalb Jahren einen schrecklichen Schlaganfall, seitdem ist sie nicht mehr sie selbst. Sie ist furchtbar nett geworden.

In Familien kriegt jeder eine bestimmte Rolle zugeschrieben, der man auch als Erwachsener schwer entkommt. Welche hatten Sie?

Mein Spitzname war „the scatterbrain“, Schussel. Und ich war diejenige, von der man dachte, dass sie es zu nichts bringen würde. Ich war „das Mädchen“.

Und die Rolle heute?

Ich bin das Kind, das es geschafft hat.

Was bedeutet das für Sie?

Im Kontext der Familie ist es überraschend hohl. Meine Eltern geben sich Mühe, sie lesen meine Bücher, haben gesagt, dass sie stolz sind auf mich. Keine Ahnung, ob ich keine große Befriedigung daraus ziehe, weil unsere Beziehung das nicht zulässt, oder weil ich generell nicht gern zufrieden bin.

Der Zustand des Hungerns scheint Ihnen lieber zu sein. Stimmt es, dass Sie nur einmal am Tag essen, und zwar am liebsten nachts?

Mehr oder weniger ja. Ich habe das Gefühl, mir reicht eine Mahlzeit am Tag.

Und warum nachts?

Ich stehe nicht vor zwölf Uhr mittags auf. Abends arbeite ich so bis neun, dann mache ich Sport und bereite anschließend das Essen zu.

„Ich halte nicht viel von geerbtem Geld“

In ihren Büchern setzt sich Shriver immer wieder mit dem Thema Familie auseinander.
In ihren Büchern setzt sich Shriver immer wieder mit dem Thema Familie auseinander.

© pa/EPA/ANDREU DALMAU

Ihre Sommer verbringen Sie in New York, wo Sie ein zweites Zuhause haben. Was machen Sie dort?

Schreiben natürlich. Und in die amerikanische Politik und Kultur abtauchen. Ich höre praktisch komplett auf, britische Zeitungen und Magazine zu lesen, gucke nur noch CNN, MSNBC, ein bisschen Fox News, um zu wissen, was da los ist, lese die „New York Times“. Dort redet kein Mensch über den Brexit. Manchmal ist es nützlich, alldem zu entkommen. Es relativiert die Dinge.

Im Original heißt Ihr jüngster Roman „The Mandibles“, im Deutschen „Eine amerikanische Familie“. Was macht sie amerikanisch?

Es ist eine Familie, die immer noch daran glaubt, dass sie alle ein wohlhabendes Leben führen werden. Wobei es natürlich ein Schnappschuss des weißen Amerikas ist. Es gibt nach wie vor das Gefühl, einen Anspruch darauf zu haben. Sie erwarten, an Geld zu kommen. Das sie nicht verdient haben. Ich halte nicht viel von geerbtem Geld, glaube nicht, dass es sich günstig auf Menschen auswirkt.

Sie haben keine Kinder. Haben Sie darüber nachgedacht, was mit Ihrem Erbe passiert?

Klar.

Und wer kriegt es?

Wahrscheinlich „Planned Parenthood“.

Eine Art „Pro Familia“. Was, denken Sie, haben Sie von Ihren Eltern geerbt?

Bestimmt eine Menge. Ich glaube, sie hatten ziemlich gute Gene, sind beide klug, eloquent, politisch engagiert. Und sehr meinungsstark. Wie ich.

Ihr Roman „Big Brother“ ist von Ihrem Bruder inspiriert. Es geht um einen Fettleibigen und seine Schwester. Ihr Bruder, haben Sie mal gesagt, hat Ihnen das Herz gebrochen. Was meinten Sie damit?

Als ich klein war, habe ich ihn sehr bewundert. Er war hochintelligent und begabt. Mit 14 hat er die Schule verlassen, sein eigenes Unternehmen gegründet und dann ruiniert. Er hatte viel Pech, auch körperlich. Das Ende seines Lebens war tragisch. Er wurde enorm fett, war gesundheitlich in schlechter Verfassung und wurde finanziell abhängig von meinen Eltern. Dabei war er der ursprüngliche Rebell unserer Familie.

In einer kritischen Phase hat der Arzt Sie gefragt, ob Sie sich um ihn kümmern nach einer lebenswichtigen OP. Sie haben über das moralische Dilemma geschrieben, ob Sie bereit wären, sich aufzuopfern. Sie kamen um die reale Entscheidung herum, weil er plötzlich starb. Hat er Sie je um Hilfe gebeten?

Nie. Ab und zu kam er, um sich Geld zu leihen, aber ich hatte ja auch keins.

Glauben Sie, dass Sie ihm hätten helfen können?

Nicht wirklich. Bei Fettsucht oder Drogenabhängigkeit kann man vielleicht Unterstützung und Trost bei anderen finden, retten kann man sich nur selber. Mein Bruder hatte nicht den Willen, auch nicht genügend Liebe für sein eigenes Leben, um die Opfer zu bringen, die nötig gewesen wären.

Warum haben Sie das Buch geschrieben?

Zum Teil, um mit seinem Tod fertigzuwerden, diesen überhaupt anzuerkennen. Auch als Hommage an ihn.

Hat das Schreiben geholfen?

Geringfügig.

Wenn Ihre Familie so schwierig ist: Haben Sie sich Wahlverwandte gesucht?

Klar. Ich würde sagen, das ist eine der Leistungen meines Lebens hier. Es sind Menschen, die ich wirklich mag, deren Gesellschaft mir wichtig ist. Meine besten Freunde sind nicht berühmt.

Was macht sie zu den besten?

In der Regel haben sie einen Sinn für Humor und eine gewisse Warmherzigkeit, sind gescheit und fähig, einen originellen Gedanken zu fassen.

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